Entscheidungsstichwort (Thema)
Beitragszuschlag - anzuzeigender Arbeitsunfall - Leistungsbescheid - Bindungswirkung - Beitragszuschlagbescheid - Versicherungsverhältnis - Mitgliedschaftsverhältnis
Orientierungssatz
Der Leistungsbescheid der Berufsgenossenschaft entfaltet nicht ohne weiteres eine Drittwirkung gegenüber dem Mitgliedsunternehmer, sondern es bedarf dazu einer gesonderten gesetzlichen Regelung, wie sie zB in den §§ 638, 639 RVO unter bestimmten Voraussetzungen enthalten ist (vgl BSG vom 22.9.1988 2 RU 11/88 = SozR 2200 § 725 Nr 12). Eine solche gesetzliche Sonderregelung, die auf den Beitragszuschlag nach § 725 Abs 2 RVO zuträfe, fehlt.
Normenkette
RVO § 725 Abs 2, § 1552 Abs 1; SGG § 77
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 21.11.1989; Aktenzeichen L 3 U 181/88) |
SG Stade (Entscheidung vom 26.05.1988; Aktenzeichen S 7 U 36/87) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um einen der Klägerin auferlegten Beitragszuschlag für das Veranlagungsjahr 1984.
Die klagende Heizungsbau GmbH ist Mitglied der Beklagten. Seit dem 1. August 1983 beschäftigte sie den im Jahre 1966 geborenen Beigeladenen als Auszubildenden mit Montagearbeiten an Heizungsanlagen.
Der Beigeladene bemerkte von einem nicht festgestellten Zeitpunkt ab eine langsam fortschreitende Sehverschlechterung auf seinem linken Auge, die er mit keiner Ursache in Verbindung bringen konnte. Insbesondere konnte er sich nicht an ein bestimmtes Unfallereignis erinnern.
Am 9. Mai 1984 fanden die Ärzte durch eine Röntgenuntersuchung links in der Augenwand einen eingedrungenen Fremdkörper, der später entfernt und als Eisen-bzw Eisenoxidpartikel von ca 1 mm Durchmesser analysiert wurde.
Nachdem der Augenarzt des Beigeladenen der Beklagten unter dem 25. Mai 1984 die Verletzung als wahrscheinlich arbeitsbedingt gemeldet hatte, erklärte die Klägerin auf Anfrage, ihr sei kein Arbeitsunfall des Beigeladenen in ihrem Unternehmen angezeigt oder sonst bekannt geworden. Später bestritt sie, daß sich die Augenverletzung in ihrem Unternehmen ereignet habe.
Die Beklagte stellte aber gegenüber dem Beigeladenen fest, er habe in der Zeit vom 1. August bis zum 31. Dezember 1983 im Unternehmen der Klägerin einen entschädigungspflichtigen Arbeitsunfall erlitten (Bescheid vom 23. Mai 1986). Später benannte sie als Unfalltag den 23. Dezember 1983 und stellte als Unfallfolgen "Einschränkung der Sehfähigkeit des linken Auges mit Einengung des Gesichtsfeldes nach Fremdkörperverletzung" fest. Sie gewährte vom 31. Mai 1985 an Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 25 vH (Bescheid vom 18. Dezember 1986).
Mit dem angefochtenen Beitragsbescheid für 1984 iVm dem Beitragsausgleichsbescheid für 1984 vom 16. April 1985 hatte die Beklagte gegen die Klägerin einen Umlagebeitrag (ohne Ausgleichslast und Konkursausfallgeld) in Höhe von 14.203,09 DM festgesetzt und ihr wegen der Eigenbelastung ihres Unternehmens durch eine Unfallneulast in Höhe von 10.746,31 DM (davon Aufwendungen in Höhe von 9.280,84 DM für den Beigeladenen) einen Beitragszuschlag von 3.103,38 DM auferlegt, weil die Eigenbelastungsziffer 137,69 betrage und damit die Durchschnittsbelastungsziffer von 21,85 übersteige.
Den Widerspruch der Klägerin gegen die Berücksichtigung des Arbeitsunfalls des Beigeladenen als Eigenbelastung ihres Unternehmens und den darauf gegründeten Beitragszuschlag wies die Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom 4. Februar 1987). Auch vor dem Sozialgericht (SG) Stade (Urteil vom 26. Mai 1988) und dem Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen (Urteil vom 21. November 1989) hat die Klägerin keinen Erfolg gehabt. In seinen Entscheidungsgründen hat das LSG ausgeführt, wegen der Leistungsbescheide der Beklagten gegenüber dem Beigeladenen müsse von vornherein zu Lasten der Klägerin davon ausgegangen werden, daß der Beigeladene im Unternehmen der Klägerin spätestens am 23. Dezember 1983 den umstrittenen Unfall als Arbeitsunfall erlitten habe. Es schließe sich dem Urteil des LSG Niedersachsen in Breithaupt 1980, 284 an. Danach seien bei der Prüfung, ob ein Beitragsausgleich nach § 725 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) gerechtfertigt sei, alle Unfälle zu berücksichtigen, die der Unfallversicherungsträger durch bindende Bescheide anerkannt habe. Ausgeschlossen sei die weitere Prüfung, ob der Unfall eines Betriebsangehörigen zu Recht oder zu Unrecht als Arbeitsunfall festgestellt worden sei. Nach Ansicht des LSG folge dies aus dem Vorrang des Gebots der Rechtssicherheit vor dem einer materiell richtigen Entscheidung im Einzelfall.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 725 Abs 2 RVO. Der Unfall des Beigeladenen dürfe ihr nicht angelastet werden, weil er sich nicht in ihrem Unternehmen ereignet habe und deshalb kein von ihr anzuzeigender Arbeitsunfall iS des § 725 Abs 2 RVO sei. Zu Unrecht hätten die Vorinstanzen eine sachliche Nachprüfung dessen unterlassen. Insbesondere sei es rechtsirrig, daß die Leistungsbescheide der Beklagten an den Beigeladenen diese Nachprüfung im Beitragsverfahren zwischen der Beklagten und ihrem Mitglied verhinderten. Dadurch sei das Sozialrechtsverhältnis zwischen ihr und der Beklagten nicht bindend gestaltet worden.
Die Klägerin beantragt,
die angefochtenen Urteile aufzuheben und die angefochtenen Bescheide dahin abzuändern, daß sie nicht verpflichtet sei, den Beitragszuschlag von 3.103,38 DM zu zahlen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil des LSG im Ergebnis und in der Begründung für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision hat in dem Sinne Erfolg, daß das angefochtene Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist. Es fehlen tatsächliche Feststellungen, um beurteilen zu können, ob der umstrittene Unfall des Beigeladenen ein von der Klägerin anzuzeigender Arbeitsunfall (§ 1552 Abs 1 RVO) gewesen ist.
Die Mittel für die Ausgaben der Berufsgenossenschaften werden durch Beiträge ihrer Mitglieder (§ 658 RVO) aufgebracht, nämlich der Unternehmer, die versichert sind oder Versicherte beschäftigen (§ 723 Abs 1 RVO). Die Höhe der Beiträge richtet sich vorbehaltlich des § 723 Abs 2 RVO und des § 728 RVO nach dem Entgelt der Versicherten und nach dem Grade der Unfallgefahr in dem Unternehmen (§ 725 Abs 1 RVO).
Nach § 725 Abs 2 RVO haben darüber hinaus die Berufsgenossenschaften aufgrund des Mitgliedschaftsverhältnisses das Recht und die Pflicht, ihren Mitgliedern unter Berücksichtigung der anzuzeigenden Arbeitsunfälle (§ 1552 Abs 1 RVO) Zuschläge zu den Beiträgen aufzuerlegen oder Nachlässe zu bewilligen. Wegeunfälle (§ 550 RVO) bleiben dabei außer Ansatz. Die Höhe der Zuschläge und Nachlässe richtet sich nach der Zahl, der Schwere und den Kosten der Arbeitsunfälle oder nach mehreren dieser Merkmale. Das Nähere bestimmt die Satzung; dabei kann sie Berufskrankheiten sowie Arbeitsunfälle, die durch höhere Gewalt oder durch alleiniges Verschulden nicht zum Unternehmen gehörender Personen eintreten, ausnehmen. Dem entspricht § 28 der Satzung der Beklagten.
Ob die Beklagte danach berechtigt ist, unter Berücksichtigung des umstrittenen Unfalls des Beigeladenen der Klägerin den Beitragszuschlag in Höhe von 3.103,38 DM aufzuerlegen, muß nach § 548 Abs 1 RVO und nach § 1552 Abs 1 RVO beurteilt werden. Das setzt vor allem die tatsächliche Feststellung voraus, ob der Beigeladene den Unfall im Betrieb der Klägerin erlitten hat. Die Beklagte hat diese Voraussetzung in den angefochtenen Bescheiden bejaht, während die Klägerin gerade dagegen ihre Anfechtungsklage erhoben hat. In dem angefochtenen Urteil des LSG fehlen tatsächliche Feststellungen, die es zulassen, diese Voraussetzung zu beurteilen.
Entgegen der Meinung des LSG sind derartige tatsächliche Feststellungen des Gerichts nicht dadurch überflüssig oder ersetzt, also rechtsunerheblich geworden, daß die Beklagte im Versicherungsverhältnis zu dem Beigeladenen Leistungsbescheide erlassen hat, die einen Arbeitsunfall im Betrieb der Klägerin feststellen. Zutreffend hat das LSG zwar eine Bindungswirkung daraus gegenüber der Klägerin iS des § 77 SGG verneint. Aber der Senat hat bereits entschieden, daß es auch die vom LSG stattdessen angenommene, unmittelbar bindende Drittwirkung zu Lasten des beitragsverpflichteten Unternehmers nicht gibt. Der Leistungsbescheid entfaltet nicht ohne weiteres eine Drittwirkung gegenüber dem Mitgliedsunternehmer, sondern es bedarf dazu einer gesonderten gesetzlichen Regelung, wie sie zB in den §§ 638, 639 RVO unter bestimmten Voraussetzungen enthalten ist (BSG SozR Nr 3 zu § 725 RVO, SozR 2200 § 548 Nr 22, § 725 Nr 12). Eine solche gesetzliche Sonderregelung, die auf den vorliegenden Fall zuträfe, fehlt.
Wenn ein Unfallversicherungsträger Leistungen rechtmäßig oder rechtswidrig feststellt und sich dadurch gegenüber dem Versicherten bindet, wirkt sich das unmittelbar nur im Rahmen des Versicherungsverhältnisses aus. Leistungen, die daraufhin erbracht werden, sind Ausgaben der Berufsgenossenschaften, die als Tatsache und nicht als Rechtsentscheidung die Voraussetzungen des § 723 Abs 1 RVO erfüllen und deshalb die Beitragspflicht des Mitgliedes im Mitgliedschaftsverhältnis zur Berufsgenossenschaft gestalten. Nur auf diesem mittelbaren Wege wirken die Leistungsbescheide in der Regel in das Mitgliedschaftsverhältnis hinein. Aber mit rechtlichen Feststellungen im Versicherungsverhältnis gegenüber dem Versicherten kann ein Unfallversicherungsträger nicht zugleich das Mitgliedschaftsverhältnis zu seinem Unternehmermitglied gestalten, es sei denn, das Gesetz schriebe eine solche Drittwirkung ausdrücklich vor. Der Senat hat insoweit schon in SozR Nr 3 zu § 725 RVO auf die in § 638 RVO vorgeschriebene Bindungswirkung der Entscheidungen im Versicherungsverhältnis hingewiesen, die in bestimmte zivilrechtliche Haftungsverhältnisse hineinreicht und die deshalb von außen in das Versicherungsverhältnis hinein Betreibungs- und Anfechtungsrechte des Unternehmers unter den Voraussetzungen des § 639 RVO nach sich zieht. Dort, wo weder diese Voraussetzungen noch eine andere gesetzliche Sonderregelung vorliegt, ist der Unternehmer im Rahmen des Mitgliedschaftsverhältnisses zu der Berufsgenossenschaft nicht durch rechtliche Feststellungen in dem Leistungsbescheid gegenüber dem Versicherten gebunden. Verneint ein Mitglied der Berufsgenossenschaft die Voraussetzungen für die Auferlegung eines Beitragszuschlags nach § 725 Abs 2 RVO, in dem es bestreitet, daß ein bestimmter Unfall in seinem Betrieb stattgefunden hat, dann ist das dementsprechend eigenständig von Grund auf nachzuprüfen.
Das entspricht auch dem Zweck des § 725 Abs 2 RVO (s zur Entstehungsgeschichte das Urteil des Senats vom 28. Juli 1982 -2 RU 60/81 - mwN in Lauterbach/Watermann, Kartei zum Unfallversicherungsrecht Nr 11319 zu § 725 Abs 2). Der Senat hat bereits in seinem Urteil vom 5. August 1976 (SozR 2200 § 548 Nr 22 mwN) als entscheidend herausgestellt, daß der zu berücksichtigende Unfall als eine Folge der durch den Betrieb bedingten Gefahrenlage angesehen werden muß. Es liegt daher im Normzweck, Arbeitsunfälle, die sich in diesem Gefahrenbereich ereignen, mit einem der Schwere des Unfalls angepaßten Zuschlag zu belegen. Gleichzeitig werden dadurch auch die Bemühungen des Unternehmers um die Unfallsicherheit angeregt, deren es auch nach Erfüllung aller von der Berufsgenossenschaft erlassenen Unfallverhütungsvorschriften bedarf. Dieser Zweck des Gesetzes würde weitgehend vereitelt, wollte man mögliche Fehlentscheidungen der Berufsgenossenschaft im Leistungsbescheid dem Unternehmer anlasten, ohne ihm die Verteidigung einzuräumen, der Unfall habe sich überhaupt nicht in seinem Betrieb ereignet (§ 725 Abs 2 iVm § 1552 Abs 1 RVO). Das wird vom LSG schon in seiner in Bezug genommenen Entscheidung vom 14. Februar 1979 (Breithaupt 1980, 284, 286 - Absätze 1 bis 4, ebenso Lauterbach/Watermann, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl § 725 Anm 12a) nach Auffassung des Senats nicht ausreichend beachtet. Entgegen der Meinung des LSG (aaO Abs 4) besteht für den Unternehmer auch keine Notwendigkeit, sich in das Verwaltungsverfahren über mögliche Ansprüche des Verletzten einzuschalten und seine Beteiligung (§ 12 SGB X) und später seine Beiladung (§ 75 SGG) anzustreben. Insoweit muß er allerdings auch die Aufwendungen aufgrund eines möglicherweise fehlerhaften Leistungsbescheides hinnehmen und sie in genossenschaftlicher Solidarität mit seinem Umlagebeitrag nach § 723 Abs 1 und § 724 Abs 1 RVO tragen. Aber darüber hinaus braucht er allein im Mitgliedschaftsverhältnis zu der Berufsgenossenschaft nicht auch noch dadurch für mögliche Fehlentscheidungen der Berufsgenossenschaft zu haften, daß ihm deswegen ein individueller Beitragszuschlag auferlegt wird. Da wegen der unterschiedlichen Rechtsverhältnisse zwischen der Berufsgenossenschaft und dem Versicherten einerseits (Versicherungsverhältnis) sowie zwischen der Berufsgenossenschaft und ihrem Mitgliedsunternehmer andererseits (Mitgliedschaftsverhältnis) auch die jeweils daraus erwachsenden Ansprüche grundverschiedene Gegenstände betreffen, kann das vom LSG herangezogene Prinzip der Rechtssicherheit hier nicht zum Tragen kommen. Der Bestand des Leistungsbescheides wird nicht angegriffen.
Der Senat vermag auch nicht der Auffassung des LSG zu folgen (Breithaupt aaO Abs 5), daß die Ansicht des BSG "vom Ergebnis her unerträglich" ist. Abweichungen vom errechneten durchschnittlichen Unfallaufwand sind in vielen Fällen möglich und auch gegeben; denn bei einem über das Veranlagungsjahr hinausgehenden Streit um die Entschädigung eines Versicherten entstehen bei einer Verurteilung des Versicherungsträgers gleiche und vom Umfang der finanziellen Belastung her sogar wesentlich größere Abweichungen von der zunächst errechneten durchschnittlichen Unfallast. Erst recht gilt dies zB in den Fällen einer nach Jahren zu treffenden Entscheidung gemäß § 44 SGB X.
Auch verfahrensrechtlich kommt keinesfalls, wie das LSG meint (Breithaupt aaO S 287), als Besonderheit hinzu, daß bei einer Klage des Unternehmers die Berufung ggf nicht ausgeschlossen wäre, obgleich sie es bei einer Klage des Verletzten sein kann. Diese Fälle sind zB bei Ersatzstreitigkeiten ebenfalls nicht ausgeschlossen.
Schließlich überzeugt es auch nicht, auf die nicht abzusehenden verfahrensrechtlichen Schwierigkeiten hinzuweisen, die mit der Beantwortung der Frage verbunden sein sollen, ob der Versicherte in dem Verfahren des Unternehmers beizuladen wäre und welche prozeßrechtlichen Folgen dies ggf haben würde. Die Frage der Beiladung stellt sich gerade bei der Rechtsauffassung des Senats nicht, während sie nach der Auffassung des LSG im Verfahren des Verletzten in Betracht kommen könnte, wollte man den Unternehmer an eine Entscheidung binden, die nicht lediglich eine Vorfrage betrifft, aber ohne seine Beteiligung im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren zustande gekommen ist.
Das LSG wird nunmehr festzustellen haben, ob der Beigeladene im Unternehmen der Klägerin einen nach § 1552 Abs 1 RVO anzuzeigenden Arbeitsunfall erlitten hat. Dabei wird es auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen