Entscheidungsstichwort (Thema)

Hinterbliebenenrente. Unterhaltsverzicht

 

Orientierungssatz

1. Allein der Umstand, daß eine geschiedene Ehefrau auch auf Unterhalt für den Fall des Notbedarfs verzichtet, macht den Unterhaltsverzicht nicht wegen eines Verstoßes gegen die guten Sitten nach § 138 BGB nichtig.

2. Nach der Rechtsprechung des BSG (so zuletzt BSG vom 28.6.1989 - 5 RJ 9/88 = SozR 2200 § 1265 Nr 98) ist ein anläßlich der Ehescheidung erklärter Unterhaltsverzicht für einen Hinterbliebenenrentenanspruch nach § 1265 Abs 1 S 2 RVO - ua nur dann unbeachtlich, wenn auch ohne den Verzicht im Zeitpunkt des Todes des Versicherten ein Unterhaltsanspruch nicht bestanden hätte.

 

Normenkette

RVO § 1265 Abs 1 S 2 Nr 1 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1265 Abs 1 S 2 Nr 1 Fassung: 1972-10-16; BGB § 138

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Entscheidung vom 12.09.1989; Aktenzeichen L 2 J 1384/88)

SG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 18.07.1988; Aktenzeichen S 16 J 156/88)

 

Tatbestand

Streitig ist, ob die Klägerin einen Anspruch auf Hinterbliebenenrente nach § 1265 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) hat.

Die 1914 geborene Klägerin ist die frühere Ehefrau des 1913 geborenen und in der Zeit zwischen dem 9. und 12. März 1987 verstorbenen W.      V.    (im folgenden: Versicherter). Die 1938 geschlossene Ehe der Klägerin mit dem Versicherten wurde auf Klage und Widerklage durch Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main nach § 48 Ehegesetz (EheG) ohne Schuldausspruch rechtskräftig am 11. April 1969 geschieden. Keiner der früheren Eheleute hat wieder geheiratet. Aus der Ehe sind vier Kinder, die 1930, 1945, 1954 und 1956 geboren wurden, hervorgegangen. Anläßlich der Scheidung schlossen die Klägerin und der Versicherte zu Protokoll des Landgerichts einen Vergleich in dem es ua heißt:

Die Parteien verzichten gegenseitig auf Unterhalt für Vergangenheit und Zukunft, auch für den Fall des Notbedarfs und nehmen den Verzicht wechselseitig an.

In dem Vergleich ist weiter vereinbart, daß die elterliche Gewalt für die 1954 und 1956 geborenen minderjährigen Kinder auf die Klägerin übertragen werden sollte. Der Versicherte verpflichtete sich, für jedes dieser Kinder ab 1. April 1969 jeweils 100,-- DM monatlich zu zahlen.

Die Klägerin war seit August 1957 wieder berufstätig gewesen. Im Jahre 1969 verdiente sie monatlich durchschnittlich 767,75 DM brutto. Seit 1975 bezog sie vorgezogenes Altersruhegeld. Zur Zeit des Todes des Versicherten betrug der Zahlbetrag des Altersruhegeldes 260,23 DM. Außerdem erhielt die Klägerin nach eigenen Angaben Unterhaltsleistungen von einer Tochter. Der Versicherte war 1946 bis 1976 bei einem Stadtreinigungsamt als Kfz-Mechaniker beschäftigt gewesen. Im Jahr 1969 bezog er ein Bruttoentgelt von 12.035,35 DM. Im April 1969 betrug sein Bruttoentgelt 1.290,95 DM. Sein Altersruhegeld betrug im Zeitpunkt seines Todes 2.085,13 DM. Zusätzlich erhielt er von der Zusatzversorgungskasse monatlich 311,72 DM brutto.

Den Antrag der Klägerin auf Gewährung von Hinterbliebenenrente aus der Versicherung ihres früheren Ehemannes lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 9. Juli 1987 ab. Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos.

Die Klage hat das Sozialgericht (SG) durch Urteil vom 18. Juli 1988 abgewiesen. Die gegen dieses Urteil eingelegte Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 12. September 1989 zurückgewiesen. Das LSG hat einen Anspruch auf Hinterbliebenenrente nach § 1265 Abs 1 Satz 1 RVO verneint, weil die Klägerin wegen des wirksam vereinbarten Unterhaltsverzichts keinen Unterhaltsanspruch gegen den Versicherten gehabt habe. Der Versicherte habe der Klägerin im letzten Jahr vor seinem Tode keinen Unterhalt geleistet. Auch einem Anspruch nach § 1265 Abs 1 Satz 2 RVO stehe der Unterhaltsverzicht hier entgegen. Im Zeitpunkt der Scheidung hätte die Klägerin allerdings angesichts der eigenen Einkünfte und der Einkünfte ihres Ehemannes keinen Unterhaltsanspruch gehabt. Aber im Zeitpunkt des Todes des Versicherten hätte sie wegen der niedrigen Rente einen wirtschaftlichen Absturz erlitten, so daß sie unterhaltsbedürftig geworden sei. Demgegenüber sei der Versicherte leistungsfähig gewesen und habe etwa das zehnfache der Rente der Klägerin bezogen. Sie hätte damit nach dem EheG einen Anspruch auf Unterhalt in Höhe von mindestens 25 vH des örtlichen Sozialhilfesatzes von 400,-- DM gehabt. Der Unterhaltsverzicht der Klägerin sei nicht unbeachtlich, denn er sei nicht bloß deklaratorischer Art gewesen. Die Klägerin habe mit dem Unterhaltsverzicht über die Scheidung hinaus einen Zustand zementiert, der zunächst wegen der Höhe der eigenen Arbeitseinkünfte bis zum Eintritt ins Rentenalter bestanden habe.

Gegen dieses Urteil richtet sich die - vom LSG zugelassene - Revision der Klägerin. Sie rügt sinngemäß die Verletzung von § 1265 RVO.

Die Klägerin beantragt,

die Urteile des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 18. Juli 1988 und des Hessischen Landessozialgerichts vom 12. September 1989 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 9. Juli 1987 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Dezember 1987 zu verurteilen, ihr Hinterbliebenenrente aus der Versicherung ihres verstorbenen früheren Ehemannes W.      V.    ab 1. Mai 1987 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie ist der Ansicht, daß das angefochtene Urteil zutreffend ist.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Hinterbliebenenrente nach § 1265 RVO aus der Versicherung ihres früheren Ehemannes. Dies hat die Beklagte in den angefochtenen Bescheiden zu Recht entschieden, und diese Entscheidung ist mit den angefochtenen Urteilen des SG und LSG zu Recht bestätigt worden. Ein Anspruch nach § 1265 Abs 1 Satz 1 RVO besteht nicht, denn die Klägerin hat weder im letzten Jahr vor dem Tode des Versicherten von diesem tatsächlich Unterhalt erhalten (3. Alternative) noch hatte sie gegen diesen nach den Vorschriften des EheG oder aus einem anderen Grund einen Unterhaltsanspruch (1. und 2. Alternative). Ein Unterhaltsanspruch bestand nicht, weil die Klägerin mit der anläßlich der Scheidung getroffenen Vereinbarung auf alle Unterhaltsansprüche gegen den Versicherten verzichtet hatte. Dieser Unterhaltsverzicht ist entgegen der Ansicht der Klägerin nicht nichtig gewesen. Allein der Umstand, daß die Klägerin auch auf Unterhalt für den Fall des Notbedarfs verzichtet hat, macht den Unterhaltsverzicht nicht wegen eines Verstoßes gegen die guten Sitten nach § 138 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) nichtig.

Die Klägerin hat aber auch keinen Anspruch nach § 1265 Abs 1 Satz 2 RVO. Nach dieser Vorschrift ist ein Anspruch auf Hinterbliebenenrente ua davon abhängig, daß eine Unterhaltsverpflichtung wegen der Vermögens- oder Erwerbsverhältnisse des Versicherten oder wegen der Erträgnisse der früheren Ehefrau aus einer Erwerbstätigkeit nicht bestanden hat. Die frühere Rechtsprechung, nach welcher ein Unterhaltsverzicht, der einen Unterhaltsanspruch ausschloß, regelmäßig nicht nur im Rahmen von § 1265 Abs 1 Satz 1 RVO bedeutsam war, sondern immer auch im Rahmen von Satz 2 Nr 1 der Vorschrift (vgl Bundessozialgericht -BSG- SozR 2200 § 1265 Nr 40) ist inzwischen modifiziert worden. Sowohl der 4. als auch der erkennende Senat haben wiederholt entschieden, daß ein Unterhaltsverzicht einen Anspruch nach § 1265 Abs 1 Satz 2 RVO unter bestimmten Voraussetzungen nicht ausschließt (vgl zB die Urteile des erkennenden Senats vom 23. November 1988 und 28. Juni 1989 - SozR 2200 § 1265 Nrn 90 und 98; Urteile des 4. Senats vom 15. Dezember 1988 und 19. Januar 1989 - SozR 2200 § 1265 Nrn 92 und 94). Eine der Voraussetzungen für die Unbeachtlichkeit des Unterhaltsverzichts ist indes, daß ohne den Verzicht ein Unterhaltsanspruch nicht bestanden hätte. Diese Voraussetzung muß nach der Rechtsprechung sowohl des erkennenden als auch des 4. Senats auch im Zeitpunkt des Todes des Versicherten erfüllt gewesen sein. Dies findet seine Rechtfertigung schon darin, daß dann, wenn ohne den Unterhaltsverzicht ein Unterhaltsanspruch der früheren Frau gegen den Versicherten bestehen würde, ein Anspruch allein nach § 1265 Abs 1 Satz 1 RVO in Betracht kommt. Diesem Anspruch steht aber der erklärte Unterhaltsverzicht in jedem Fall entgegen (vgl BSG SozR 2200 § 1265 Nr 98 und das zur Veröffentlichung vorgesehene Urteil des Senats vom 13. September 1990 - 5 RJ 52/89 -).

Nach den Feststellungen des LSG zu den beiderseitigen Einkünften hätte die Klägerin aber ohne den Unterhaltsverzicht im Zeitpunkt des Todes des Versicherten einen Unterhaltsanspruch gegen diesen gehabt, der auch sozial-rechtlich relevant gewesen wäre, dh mehr als 25 vH des zeitlich und örtlich maßgebenden Mindestbedarfs nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) von 400,-- DM monatlich ausgemacht hätte. Da im Zeitpunkt der Scheidung beide Ehegatten berufstätig waren, ist der Unterhaltsanspruch nach der Anrechnungsmethode zu berechnen (vgl zuletzt BSG Urteil vom 13. September 1990 aaO). Davon ist auch das LSG zu Recht ausgegangen. Der Unterhaltsanspruch richtet sich nach § 61 Abs 2 EheG in der bis zum 30. Juni 1977 geltenden Fassung, da die Ehe auf Klage und Widerklage ohne Schuldausspruch geschieden worden ist. Danach hätte er auch unter Billigkeitsgesichtspunkten allein unter Berücksichtigung des Altersruhegeldes des Versicherten und des Altersruhegeldes der Klägerin mindestens 500,-- DM betragen. Dies selbst dann, wenn man davon ausgeht, daß die Klägerin nur Anspruch auf ein Drittel des Gesamteinkommens gehabt hätte (2.085,13 + 260,23 = 2.345,36 : 3 = 781,78 - 260,23 = 521,55 DM).

Unerheblich ist danach, ob auch die in § 1265 Abs 1 Satz 2 Nr 1 RVO aufgeführten Sachverhalte dafür bestimmend waren, daß die Klägerin den Unterhaltsverzicht abschloß. Nach der genannten Rechtsprechung des BSG können nämlich die Gründe, die für den Abschluß eines Unterhaltsverzichtsvertrages maßgebend waren, nur dann erheblich sein, wenn feststeht, daß ohne den Unterhaltsverzicht sowohl im Zeitpunkt der Scheidung als auch im Zeitpunkt des Todes des Versicherten kein sozial-rechtlich relevanter Unterhaltsanspruch bestanden hätte. Letzteres trifft hier - wie ausgeführt - nicht zu.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1667018

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt TVöD Office Professional. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge