Entscheidungsstichwort (Thema)

Zweckmäßigkeit, arbeitsmarktliche, arbeitsmarktpolitische. Beurteilungsspielraum. Versicherungsfall, Leistungsfall, anwendbares Recht. Neubescheidung. gerichtliche Kontrolle. Arbeitsmarkt, Lage des –, Entwicklung des –. Prognose. hypothetische Tatsache. Beschäftigungsmöglichkeiten. angemessene Zeit

 

Leitsatz (amtlich)

Bei der Entscheidung, ob eine berufliche Bildungsmaßnahme unter Berücksichtigung von Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes zweckmäßig ist (§ 34 Abs 1 S 2 Nr 4 AFG iVm § 10 Abs 5 AFuU 1993), steht der Bundesanstalt für Arbeit ein gerichtlich nicht voll überprüfbarer Beurteilungsspielraum zu (Fortführung von BSGE 67, 228 = SozR 3-4100 § 36 Nr 1).

 

Normenkette

AFG § 34 Abs. 1 S. 2 Fassung: 18.12.1992, § 2 Fassung: 18.12.1992; AFuU 1993 § 10 Abs. 1 Fassung: 1993-04-29, Abs. 5 Fassung: 1993-04-29

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Urteil vom 03.03.1995; Aktenzeichen L 10 Ar 554/94)

SG Frankfurt am Main (Urteil vom 20.04.1994; Aktenzeichen S 1 Ar 161/94)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 3. März 1995 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Im Streit ist die Gewährung von Förderungsleistungen anläßlich der Teilnahme des Klägers an einem Vorbereitungslehrgang zur Meisterprüfung im Elektroinstallateurhandwerk vom 1. September 1993 bis 29. April 1994.

Der 1967 geborene Kläger war zunächst nach der Lehre (Gesellenprüfung im Januar 1989) bis Ende März 1989 als Elektroinstallateur tätig und leistete danach vom 1. April 1989 bis 30. Juni 1990 Wehrdienst, bevor er vom 1. Juli 1990 bis 31. August 1993 wiederum in seinem Beruf arbeitete. Am 26. März 1993 beantragte er die Förderung der Teilnahme an einem am 1. September 1993 beginnenden Vorbereitungslehrgang zur Meisterprüfung. Die Beklagte lehnte die Förderung der Maßnahme ab, weil die Voraussetzungen des § 34 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) und des § 10 Abs 5 der Anordnung des Verwaltungsrates der Bundesanstalt für Arbeit über die individuelle Förderung der beruflichen Fortbildung und Umschulung (AFuU) nicht vorlägen; unter Berücksichtigung des örtlichen Arbeitsmarktes sei die Maßnahme momentan nicht zweckmäßig (Bescheid vom 29. Oktober 1993; Widerspruchsbescheid vom 14. Dezember 1993).

Bereits zuvor hatte das Arbeitsamt (ArbA) Frankfurt/M dem Maßnahmeträger, dem Berufsbildungszentrum der Handwerkskammer Rhein-Main, mitgeteilt, der ab 1. September 1993 vorgesehene Vorbereitungslehrgang auf die Meisterprüfung im Elektroinstallateurhandwerk könne nicht als zweckmäßig anerkannt werden. In einem weiteren Schreiben an die Handwerkskammer Rhein-Main hatte das ArbA auf die angespannte Haushaltssituation der Beklagten hingewiesen, die bei der Anerkennung von Maßnahmen der Aufstiegsfortbildung – wie vorliegend – die Anlegung strengerer Kriterien als früher erfordere.

Klage und Berufung des Klägers gegen die ablehnende Entscheidung des ArbA (vom 29. Oktober 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids) blieben erfolglos (Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ vom 20. April 1994; Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 3. März 1995). Abgelehnt wurde auch ein Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung (Beschluß des SG vom 20. April 1994; Beschluß des LSG vom 13. Oktober 1994).

Zur Begründung seines Urteils hat das SG ausgeführt, der Kläger habe keinen Anspruch auf Förderung der Teilnahme an der beruflichen Bildungsmaßnahme. Nach § 34 Abs 1 Satz 2 AFG setze die Förderung eine Prüfung der Beklagten voraus, daß die Maßnahme unter Berücksichtigung von Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes zweckmäßig sei. Dies bedeute zwar nicht, daß das Gericht an die Feststellung der Beklagten gebunden sei; der Beklagten sei jedoch bei Anwendung des Begriffs der arbeitsmarktpolitischen Zweckmäßigkeit ein Beurteilungsspielraum zuzubilligen. Die gerichtliche Kontrolle beschränke sich darauf, ob die im Zeitpunkt der Entscheidung greifbaren Daten zutreffend ermittelt und anerkannte Bewertungsmethoden angewandt worden seien. Innerhalb dieses Entscheidungsfreiraums habe die Beklagte zu Recht angenommen, daß Zweckmäßigkeit nicht vorliege; die Maßnahme habe nämlich auf berufliche Tätigkeiten vorbereitet, für die in angemessener Zeit auf dem in Betracht kommenden Arbeitsmarkt voraussichtlich keine Beschäftigungsmöglichkeiten vorhanden seien (§ 10 Abs 5 AFuU). Bei einer im Rahmen des Verfahrens der einstweiligen Anordnung durchgeführten Beweisaufnahme habe sich in einzelnen ArbA-Bezirken ein deutlicher Überhang der Bewerberzahlen um eine Meisterstelle gegenüber der Zahl offener Stellen ergeben; diese Arbeitsmarktsituation lasse sich bundesweit für die gesamte zweite Hälfte des Jahres 1994 prognostizieren, so daß die nur auf den am 20. Juli 1993 für den ArbA-Bezirk Frankfurt/M ermittelten Zahlen basierende Prognose der Beklagten nicht zu beanstanden sei. Ob für den Kläger eine positive individuelle Beschäftigungsprognose gestellt werden könne, sei für § 34 AFG unbeachtlich. Das LSG hat in seiner Entscheidung gemäß § 153 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf die Entscheidungsgründe des SG verwiesen und dabei einen Beweisantrag des Klägers abgelehnt, ein Sachverständigengutachten beim Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung einzuholen (Thema: Meister werden statt Facharbeitern eingestellt und gesucht; bessere Vermittlungschancen des Klägers als Meister), weil die Beweisfrage für die Entscheidung des Rechtsstreits nicht erheblich sei.

Mit der Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 34 Abs 1 Satz 2 Nr 4 AFG und des § 10 Abs 5 AFuU. Er ist der Ansicht, die Entscheidung der Beklagten über die Unzweckmäßigkeit der Maßnahme sei wegen fehlerhafter Prognose unverbindlich und nicht durch gerichtliche Zweckmäßigkeitsüberlegungen ersetzbar. Die Beklagte hätte sich nicht allein auf eine punktuelle Arbeitsmarktsituation im ArbA-Bezirk Frankfurt/M berufen dürfen, sondern auf bundesweite Daten zurückgreifen müssen. Selbst wenn es Aufgabe des Gerichts wäre, über die in § 10 Abs 5 AFuU normierte Beschäftigungsprognose selbst zu befinden, könne eine Unzweckmäßigkeit der Maßnahme vorliegend nicht begründet werden, weil bundesweite Daten nach den Ausführungen des LSG gerade nicht gespeichert seien. Dies könne nicht zu seinen (des Klägers) Lasten gehen. Die Prognosen der Beklagten und des LSG seien darüber hinaus fehlerhaft, weil unberücksichtigt geblieben sei, daß nur 20 bis 25 % der offenen Meisterstellen von der Beklagten erfaßt würden und daß zwischen 25 und 50 % der arbeitslosen Meister für das Elektroinstallationshandwerk zu den schwer vermittelbaren Langzeitarbeitslosen gehörten; dies mache die vom LSG und von der Beklagten ermittelten Zahlen bereits unbrauchbar. Zudem sei die Zahl der offenen Meisterstellen um ein Vielfaches größer, weil auf dem Arbeitsmarkt unter verdeckten Bezeichnungen Meister gesucht würden und ein Verdrängungswettbewerb zu Lasten der geringer qualifizierten Arbeitslosen stattfinde. Das LSG hätte deshalb dem in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrag folgen müssen.

Der Kläger beantragt,

die Urteile des LSG und des SG sowie den Bescheid der Beklagten vom 29. Oktober 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14. Dezember 1993 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Teilnahme an dem Vorbereitungslehrgang zur Meisterprüfung im Elektroinstallateurhandwerk in der Zeit vom 1. September 1993 bis 29. April 1994 im gesetzlichen Umfang durch Leistungen zu fördern (Unterhaltsgeld ≪Uhg≫ als Zuschuß, hilfsweise als Darlehen; Sachkosten in Höhe von 13.439,90 DM), hilfsweise einen neuen Bescheid zu erteilen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Klägers ist iS der Aufhebung des zweitinstanzlichen Urteils und der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG); mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen des LSG kann der Senat nicht abschließend über die vom Kläger gemachten Ansprüche befinden. Einer Entscheidung über die erhobene Verfahrensrüge (Ablehnung des Beweisantrags) bedarf es bei dieser Rechtslage nicht.

1) Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Bescheid der Beklagten vom 29. Oktober 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14. Dezember 1993. Ob darüber hinaus – ohne Rücksicht auf die Formulierung des Klageantrags (§ 123 SGG) – weitere Bescheide mit der Klage angegriffen sind und nach dem Begehren des Klägers bereits im Verwaltungsverfahren hätten überprüft sowie im Widerspruchsbescheid hätten beachtet werden müssen (vgl hierzu etwa: BSGE 74, 77, 78 ff = SozR 3-4100 § 104 Nr 11), bedarf noch genauerer Untersuchung. Dies betrifft die vom LSG erwähnten Schreiben des ArbA Frankfurt/M an den Maßnahmeträger und die Handwerkskammer Rhein-Main, die zwar nach der Rechtsprechung des Senats nicht als Verwaltungsakt ergehen durften (BSGE 41, 113 ff = SozR 4100 § 41 Nr 22; BSGE 43, 134, 136 f = SozR 4100 § 34 Nr 6; vgl auch BSG SozR 4460 § 6 Nr 9 und J.… Schmitt, Leistungserbringung durch Dritte im Sozialrecht, 1990, S 84 ff mwN); eine andere Frage ist indes, ob diese Schreiben nach Inhalt und Form als Verwaltungsakt zu qualifizieren sind (vgl etwa: Schroeder-Printzen ua, SGB X, 3. Aufl 1996, RdNrn 2.1 f zu § 31 mwN; Kopp, VwVfG, 6. Aufl 1996, RdNrn 5 ff zu § 35 mwN) und eine evtl von ihnen ausgehende, den Kläger belastende Drittwirkung bei einer Klage auf individuelle Förderung mitbeseitigt werden müßte. Der Senat sieht sich zur Beantwortung dieser Frage nicht in der Lage, weil weder das LSG-Urteil noch die Akten genauere Angaben zu den bezeichneten Schreiben enthalten.

Soweit es den Bescheid der Beklagten vom 29. Oktober 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14. Dezember 1993 betrifft, wehrt sich der Kläger hiergegen mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 und Abs 4 SGG), hilfsweise mit der Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 SGG).

2) Das LSG hat zwar § 34 Abs 1 Satz 2 Nr 4 AFG (hier idF, die § 34 durch das Gesetz zur Änderung von Förderungsvoraussetzungen im AFG und anderen Gesetzen vom 18. Dezember 1992 – BGBl I 2044 – erhalten hat) und § 10 Abs 5 AFuU (hier idF vom 29. April 1993 – ANBA-Sondernr vom 5. Mai 1993) unrichtig angewandt. Ob das Urteil jedoch im Ergebnis richtig ist bzw der Förderungsanspruch des Klägers (Uhg – § 44 AFG; Lehrgangskosten – § 45 AFG) aus anderen Gründen scheitert (§ 170 Abs 1 Satz 2 SGG), läßt sich nicht beurteilen; hierfür fehlen die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen des LSG.

Nach § 34 Abs 1 Satz 2 Nr 4 AFG setzt die Förderung einer beruflichen Bildung die Prüfung durch die Bundesanstalt für Arbeit (BA) vor Beginn der Maßnahme voraus, daß die Maßnahme unter Berücksichtigung von Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes zweckmäßig ist (sog arbeitsmarktpolitische Zweckmäßigkeit). Ergänzend hierzu bestimmt § 10 AFuU in Abs 1 Satz 1, daß die Teilnahme an einer Maßnahme nur gefördert werden kann, wenn die Prüfung nach § 34 AFG vor Beginn der Maßnahme abgeschlossen wurde, und in Abs 5, daß eine Bildungsmaßnahme unter Berücksichtigung von Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes nicht zweckmäßig iS des § 34 Abs 1 Satz 2 Nr 4 AFG ist, wenn sie auf berufliche Tätigkeiten vorbereitet, für die innerhalb angemessener Zeit auf dem in Betracht kommenden Arbeitsmarkt voraussichtlich keine Beschäftigungsmöglichkeiten vorhanden sind.

Zu Unrecht hat das LSG den Bescheid unter alleiniger Anwendung dieser Vorschriften bestätigt.

a) Insbesondere kann seine Rechtmäßigkeit nicht bereits damit begründet werden, daß die Förderung des Klägers nach dem Wortlaut des § 34 Abs 1 Satz 2 AFG zwingend eine positive Entscheidung der Beklagten über die arbeitsmarktpolitische Zweckmäßigkeit voraussetze und das Gericht an eine dem Kläger nachteilige Beurteilung ohne weiteres gebunden sei. Eine derartige Annahme entspräche nicht dem Ziel der Norm, weil der Gesetzgeber mit ihr nur klarstellen wollte, daß ein Förderungsanspruch – wie es in § 10 Abs 1 Satz 1 AFuU ausdrücklich formuliert ist – erst entstehen kann, wenn die Prüfung der Kriterien des § 34 Abs 1 AFG abgeschlossen ist (BT-Drucks 12/3211 S 18); sie wäre auch mit Rücksicht auf Art 19 Abs 4 Grundgesetz (GG) verfassungsrechtlich zweifelhaft. Es sollte vielmehr ausschließlich verhindert werden, daß die Beklagte ohne die Möglichkeit einer vorausgehenden Kontrolle vor vollendete Tatsachen gestellt wird. § 34 Abs 1 Satz 2 AFG normiert damit allenfalls eine Verpflichtung des Maßnahmeteilnehmers, regelmäßig ein Prüfungsergebnis der BA abzuwarten, nicht jedoch ein Akzeptierenmüssen dieses Ergebnisses ohne die Möglichkeit der gerichtlichen Kontrolle. Im Gegensatz zur Ansicht des Klägers entfällt dann aber die Prüfung der Zweckmäßigkeit der Maßnahme bei fehlender bzw rechtswidriger Beurteilung der Beklagten nicht völlig, sondern ist wegen des der Beklagten in diesem Punkt zuzubilligenden Beurteilungsspielraums (hierzu die folgenden Ausführungen unter b) regelmäßig von der Beklagten selbst nachträglich vorzunehmen, es sei denn die ablehnende Entscheidung rechtfertigt sich aus sonstigen Gründen (vgl bei Ermessensspielräumen: BSGE 72, 242, 243 f = SozR 3-4100 § 49 Nr 5; SozR 4100 § 49 Nr 3).

b) Der Bescheid der Beklagten ist aus formalen Gründen rechtswidrig, weil die Beklagte den in § 34 Abs 1 Satz 2 Nr 4 AFG eingeräumten, gerichtlich nicht voll überprüfbaren Beurteilungsspielraum mangels ausreichender Begründung des Bescheids nicht ordnungsgemäß genutzt hat (aa), der in § 34 Abs 1 Satz 2 Nr 4 AFG eingeräumte Beurteilungsspielraum durch § 10 Abs 5 AFuU nicht beseitigt worden ist (bb) und sich auch nicht im vorliegenden Fall auf eine einzige richtige Entscheidung verdichtet hat (cc).

aa) Die gerichtliche Kontrolle ist zwar bei Annahme eines Beurteilungsspielraums auf die Frage beschränkt, ob die Beklagte von einem zutreffenden und vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen ist und ob sie die durch Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs abstrakt ermittelten Grenzen eingehalten und beachtet hat; sie muß aber ihre Subsumtionserwägungen so verdeutlicht und begründet haben, daß die Anwendung der Beurteilungsmaßstäbe erkennbar und nachvollziehbar ist (vgl BSG SozR 3-4100 § 36 Nr 1 und SozR 4100 § 43 Nr 9 mwN; s auch Kopp, VwVfG, RdNr 21 zu § 39 mwN). Letzteres ist im Ergebnis Ausdruck der Begründungspflicht des § 35 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X).

Diesen Anforderungen an die Begründungspflicht entspricht der Bescheid der Beklagten schon deshalb nicht, weil ausschließlich der Gesetzestext wiedergegeben ist und die Ausnahmen vom Erfordernis einer Begründung (§ 35 Abs 2 SGB X) nicht vorliegen. Der Bescheid der Beklagten verstößt mithin gegen §§ 35 Abs 1, 41 Abs 1 Nr 2 und Abs 2 SGB X. Offenbleiben kann, ob die Beklagte nicht auch ihren Beurteilungsspielraum, soweit überhaupt vom Gericht überprüfbar, in materieller Hinsicht fehlerhaft genutzt hat, was wegen der Beschränkung der Beklagten auf die Überprüfung eines ArbA-Bezirks bei nur beschränkt aussagekräftigem statistischen Material, aber auch indiziell wegen der fehlenden Begründung naheliegen könnte. Selbst bei Annahme eines materiellen Fehlers der Beklagten müßte der angefochtene Bescheid auf seine Rechtmäßigkeit aus anderen Gründen untersucht werden.

Daß § 34 Abs 1 Satz 2 Nr 4 AFG der Beklagten einen Beurteilungsspielraum einräumt, ergibt sich aus dem gesetzgeberischen Ziel und dem Inhalt der mit Wirkung ab 1. Januar 1993 ins Gesetz aufgenommenen Vorschrift. Begründet ist ihre Einfügung damit, daß in der bisherigen Förderungspraxis auf der Grundlage geltenden Rechts (§ 36 AFG) die arbeitsmarktpolitische Zweckmäßigkeit nur im Zusammenhang mit der Prüfung der Leistungsvoraussetzungen für den einzelnen Antragsteller individuell geprüft worden sei und dies nach den Erfahrungen der letzten Zeit, insbesondere in den neuen Bundesländern, nicht mehr ausreiche (BT-Drucks 12/3211 S 18). Es würden vermehrt freie Maßnahmen angeboten, die den derzeitigen arbeitsmarktlichen Bedürfnissen nicht entsprächen; es sei daher angezeigt, bereits bei der Prüfung der Maßnahme die arbeitsmarktpolitische Zweckmäßigkeit des Maßnahmeziels generell zu beurteilen (BT-Drucks aaO). Der Gesetzgeber wollte also eine dem § 36 Nr 3 AFG vorgelagerte, allein auf die Maßnahme bezogene arbeitsmarktpolitische Zweckmäßigkeitskontrolle einführen, um die Förderung einer nicht bedarfsgerechten Maßnahme zu verhindern; ob diese für den betreffenden Maßnahmeteilnehmer unter individuellen Gesichtspunkten arbeitsmarktpolitisch zweckmäßig wäre, spielt insoweit keine Rolle. Die Bedarfsgerechtheit der Maßnahme muß sich dann aber auch an den Zielen des § 2 AFG messen lassen, selbst wenn dies in § 34 Abs 1 Satz 2 Nr 4 AFG – anders als in § 36 Nr 3 AFG – nicht unmittelbar zum Ausdruck kommt. Soweit es die Struktur des § 34 Abs 1 Satz 2 Nr 4 AFG betrifft, kann dabei auf die Rechtsprechung zu § 36 Nr 3 AFG zurückgegriffen werden, weil die individuelle Prüfung der arbeitsmarktpolitischen Zweckmäßigkeit der Teilnahme an der Maßnahme nur durch eine generelle Prüfung der arbeitsmarktpolitischen Zweckmäßigkeit der Maßnahme ergänzt werden sollte.

Dies hat im einzelnen zur Folge, daß der Beklagten in Anlehnung an die ständige Rechtsprechung des Senats zu § 36 Nr 3 AFG zum einen ein gewisser Freiraum bei der gemäß § 39 AFG zulässigen Konkretisierung der gesetzlichen Vorgaben zuzubilligen ist (vgl: BSGE 44, 54, 58 f = SozR 4100 § 36 Nr 16; BSG, Urteil vom 22. November 1977 – 7 RAr 61/76 –, DBlR Nr 2303a zu § 36 AFG; Urteil vom 15. Oktober 1979 – 7 RAr 81/78 –, DBlR Nr 2633a zu § 47 AFG; Urteil vom 25. Januar 1980 – 7 RAr 109/78 –, DBlR Nr 2510a zu § 36 AFG; Urteil vom 14. Februar 1984 – 7 RAr 1/84 –, unveröffentlicht; vgl auch BSG SozR 4100 § 43 Nrn 9 und 18 und Gagel, AFG, Stand Januar 1996, RdNrn 74 f Vor § 33). Zum anderen verbleibt ihr – wie bei Anwendung des § 36 Nr 3 AFG (vgl BSG SozR 3-4100 § 36 Nr 1) – auch bei der Einzelentscheidung über die arbeitsmarktpolitische Zweckmäßigkeit einer Maßnahme ein Beurteilungsspielraum, wenn dieser nicht bereits ermächtigungskonform durch die AFuU selbst beschränkt worden oder wenn nicht im Einzelfall nur eine einzige Entscheidung möglich, also der Beurteilungsspielraum auf Null reduziert ist (vgl hierzu nur BSGE 56, 295, 300 f = SozR 5520 § 29 Nr 4).

Der so geartete Entscheidungsfreiraum der Beklagten rechtfertigt sich sachlich daraus, daß das Urteil darüber, ob eine Maßnahme arbeitsmarktpolitisch zweckmäßig ist, eine Prognose verlangt, die unter Einbeziehung planerischer und wertender Elemente (§ 2 AFG) und unter Berücksichtigung nicht nur der aktuellen Lage, sondern auch der künftigen Entwicklung des Arbeitsmarktes zu treffen ist (s zur vergleichbaren Situation bei § 36 Nr 3 AFG: BSG SozR 3-4100 § 36 Nr 1). Die Maßnahme ist also unter Berücksichtigung der erkennbaren Umstände, der Abläufe in der Vergangenheit sowie der sich für die Zukunft abzeichnenden Entwicklungen zu beurteilen; schon hierüber kann es keine Kenntnis iS einer sicheren Feststellung geben. Wenn auch die (aktuelle) Lage des Arbeitsmarktes einer vollen gerichtlichen Überprüfung zugänglich ist (Gagel, aaO, RdNr 73 zu § 36), so bleibt doch seine (zukünftige) Entwicklung mit allen Unwägbarkeiten behaftet (vgl BSG SozR 3-4100 § 36 Nr 1), und die erforderlichen Prognosen beruhen zudem auf planerisch-wertenden Abwägungen der in § 2 AFG genannten Ziele. Denn diese stehen untereinander in einem Spannungsverhältnis, das nur mittels arbeitsmarktpolitischer Entscheidung im jeweiligen Einzelfall entschärft werden kann (vgl Hennig/Kühl/Heuer/Henke, AFG, Stand Dezember 1996, RdNr 4 zu § 2). Dem trägt die Annahme des oben umschriebenen Beurteilungsspielraums der Beklagten im Rahmen des § 34 Abs 1 Satz 2 Nr 4 AFG Rechnung (ebenso zu § 36 Nr 3 AFG: BSG SozR 3-4100 § 36 Nr 1; Gagel, aaO, RdNr 73 zu § 36 und RdNr 76 Vor § 33 mwN).

bb) Den ihr in § 34 Abs 1 Satz 2 Nr 4 AFG eingeräumten Beurteilungsspielraum hat die Beklagte mit der Regelung des § 10 Abs 5 AFuU nicht dergestalt konkretisiert, daß in Anwendung dieser Norm stets nur eine einzige Entscheidung als zweckmäßig angesehen werden könnte; inwieweit dies überhaupt zulässig wäre, kann deshalb dahinstehen. Vielmehr stellt § 10 Abs 5 AFuU bei sachgerechter Auslegung eine zulässige Umschreibung der arbeitsmarktpolitischen Zweckmäßigkeit dar, die der Beklagten einen Entscheidungsfreiraum auch im Einzelfall beläßt, ohne daß es insoweit noch eines Rückgriffs auf § 34 Abs 1 Satz 2 Nr 4 AFG bedürfte. Seine Auslegung darf sich jedoch nicht streng am Wortlaut orientieren. Wollte man nämlich eine Unzweckmäßigkeit nur bei einem völligen Fehlen von Beschäftigungsmöglichkeiten annehmen, hätte die Norm im Ergebnis kaum einen Anwendungsbereich. Da § 34 Abs 1 Satz 2 Nr 4 AFG das Ziel verfolgt, nur die nicht bedarfsgerechten Maßnahmen von der Förderung auszuschließen, muß § 10 Abs 5 AFuU so verstanden werden, daß eine Bildungsmaßnahme unter Berücksichtigung von Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes dann nicht zweckmäßig ist, wenn sie auf berufliche Tätigkeiten vorbereitet, für die innerhalb angemessener Zeit auf dem in Betracht kommenden Arbeitsmarkt voraussichtlich keine nennenswerten bedarfsgerechten Beschäftigungsmöglichkeiten vorhanden sind.

§ 10 Abs 5 AFuU lehnt sich damit erkennbar an die bis 31. Dezember 1993 geltende Regelung des § 36 Nr 3 Satz 2 AFG an; danach sollte die Teilnahme an einer Maßnahme der beruflichen Fortbildung oder Umschulung nicht gefördert werden, wenn der Antragsteller voraussichtlich auf dem für ihn in Betracht kommenden Arbeitsmarkt innerhalb angemessener Zeit nach Abschluß der Maßnahme in der angestrebten beruflichen Tätigkeit keine Beschäftigung finden konnte. Wie in dieser Vorschrift muß sich die nach § 10 Abs 5 AFuU erforderliche Prognose (“voraussichtlich keine nennenswerten bedarfsgerechten Beschäftigungsmöglichkeiten innerhalb angemessener Zeit”) auf die Zeit nach Abschluß der Maßnahme beziehen; denn für eine frühere Zeiten erfassende Bedarfsprüfung besteht keinerlei Notwendigkeit. Bei der Bestimmung der angemessenen Zeit iS des § 10 Abs 5 AFuU kann allerdings § 36 Nr 3 Satz 2 AFG nicht nutzbar gemacht werden. Nach den Motiven des Gesetzgebers gilt dort als angemessener Zeitraum derjenige, der für die Suche eines Arbeitsplatzes in der angestrebten beruflichen Tätigkeit normalerweise benötigt wird (BT-Drucks 8/2644 S 21; vgl auch BSG SozR 4100 § 36 Nr 24). Eine sich hieran orientierende Auslegung des § 10 Abs 5 AFuU würde aber gerade auf die individuelle anstelle der generellen Beschäftigungsprognose abstellen; dem Anliegen des § 10 Abs 5 AFuU würde dadurch nicht Rechnung getragen werden. Die Angemessenheit der Zeit kann sich vielmehr nur unmittelbar an den Zielen des § 2 AFG ausrichten; dadurch kann der Inhalt des Begriffs je nach Bedarfssituation unter Berücksichtigung wertender und planerischer Gesichtspunkte variieren. Nichts anderes gilt für die Beurteilung, ob Beschäftigungsmöglichkeiten in nennenswertem Umfang vorhanden sind; auch in diesem Punkt darf die wertende Entscheidung nicht an den schlichten Zahlen ausgerichtet werden, sondern muß die Ziele des AFG insgesamt im Auge behalten. Schließlich fließen wertende und planerische Kriterien in die Beurteilung des in Betracht kommenden Arbeitsmarktes ein. Hier ist nicht ausschließlich auf den regionalen Arbeitsmarkt abzustellen, weil Maßnahmen auch dazu beitragen sollen, die berufliche Beweglichkeit der Erwerbstätigen zu verbessern (§ 2 Nr 2 AFG). Sollte der Maßnahmeteilnehmer bei verschlossenem regionalen Arbeitsmarkt nicht bereit sein, nach Beendigung der Maßnahme eine überregionale Beschäftigung aufzunehmen, kann dem im Rahmen des § 36 Nr 3 AFG Rechnung getragen werden. Anders ausgedrückt: Eine Maßnahme kann zwar unter Berücksichtigung des überregionalen Arbeitsmarktes (generell) zweckmäßig, die Teilnahme an ihr aber im Hinblick auf den regionalen Arbeitsmarkt (individuell) unzweckmäßig sein.

Der Beklagten verbleibt nach alldem bei Anwendung des § 10 Abs 5 AFuU ein Beurteilungsspielraum, den sie im Einzelfall im og Sinne auszufüllen hat, ohne daß es eines Rückgriffs auf § 34 Abs 1 Satz 2 Nr 4 AFG bedürfte, wenn eine Unzweckmäßigkeit iS des § 10 Abs 5 AFuU nicht bejaht werden kann. Denn diese Vorschrift ist nicht so zu verstehen, daß sie – exemplarisch – nur einen Fall möglicher Unzweckmäßigkeit regelt; dies entspräche nicht ihrem Zweck, die gesetzlichen Vorgaben des § 34 Abs 1 Satz 2 Nr 4 AFG zu konkretisieren. Sie ist vielmehr – ungeachtet ihres negativ gefaßten Wortlauts (“nicht zweckmäßig”) – so zu verstehen, daß eine Maßnahme immer dann, wenn sich ihre Unzweckmäßigkeit iS von § 10 Abs 5 AFuU nicht begründen läßt, zweckmäßig ist. Mit der gewählten Negativformulierung ist ausschließlich das besondere Anliegen verdeutlicht worden, nur solche Maßnahmen von der Förderung auszuschließen, für die nachweisbar kein Bedarf besteht. Wie bei dem früheren § 36 Nr 3 Satz 2 AFG gehen deshalb Zweifel zu Lasten der Beklagten (vgl die Gesetzesbegründung zu § 36 Nr 3 Satz 2 AFG in BT-Drucks 8/2624 S 21 und 8/2914 S 42).

cc) Der der Beklagten mithin im Rahmen des § 10 Abs 5 AFuU generell verbleibende Beurteilungsspielraum hat sich im vorliegenden Fall auch nicht ausnahmsweise auf eine einzige richtige Entscheidung verdichtet. Insbesondere ergeben die tatsächlichen Feststellungen des LSG, daß Beschäftigungsmöglichkeiten für einen Meister im Elektrohandwerk, wenn auch in beschränktem Umfang, zur Verfügung stehen, jedenfalls nicht schlechthin ausgeschlossen sind. Bei dieser Sachlage kann offenbleiben, ob und in welchem Umfang das SG zur Bestätigung der angefochtenen Entscheidung der Beklagten Beweis über die Situation des Arbeitsmarktes für die Zeit nach Beginn der Maßnahme hätte erheben müssen und unter welchen Voraussetzungen Prognosen des LSG zur Arbeitsmarktentwicklung als hypothetische Tatsachen überhaupt vom Revisionsgericht überprüfbar sind (vgl zu letzterem: BSG SozR 3-4100 § 36 Nr 1; SozR 4100 § 42 Nr 12; SozR 4100 § 44 Nrn 46 und 47).

3) Der wegen fehlender Begründung rechtswidrige Bescheid der Beklagten kann indes nicht allein aus diesem Grund aufgehoben werden, wenn keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können (§ 42 SGB X). Die Beklagte könnte mithin nur dann zur Neubescheidung verurteilt werden (vgl zu dieser Rechtsfolge nur: BVerwGE 62, 330, 340 f; Kopp, VwGO, 10. Aufl 1994, RdNr 5 zu § 114 mwN), wenn alle sonstigen Förderungsvoraussetzungen vorlägen. Hierzu fehlen jedoch die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen des LSG.

Das LSG wird vor allem zu prüfen haben, ob der Kläger überhaupt beabsichtigt hat, eine die Beitragspflicht begründende Beschäftigung im Geltungsbereich des Gesetzes aufzunehmen oder fortzusetzen (§ 36 Nr 1 AFG), und ferner, ob der Kläger gemäß § 42 AFG (in der vom 1. Januar bis 31. Dezember 1993 geltenden Fassung) zum förderungsfähigen Personenkreis gehört hat; nach Aktenlage war er bereits als Teilnehmer an Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen gefördert worden (zuletzt bis 1. Juni 1991), so daß er im Anschluß daran nicht die Mindestzeit beruflicher Tätigkeit (drei Jahre mit der für ihn nach Aktenlage nicht einschlägigen Möglichkeit der Verkürzung) aufweisen könnte (Abs 2). Die ab 1. Januar 1994 geltende, günstigere Regelung (ein Jahr) des § 42 AFG (idF des Ersten Gesetzes zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms vom 21. Dezember 1993 – BGBl I 2353) greift für den Kläger nicht ein, weil sich – außer bei davon abweichender gesetzlicher Regelung – Grund und Höhe eines Anspruchs für seine gesamte Dauer nach dem Recht richten, das zum Zeitpunkt des Versicherungs- bzw Leistungsfalls galt (BSG SozR 3-4100 § 45 Nr 3 mwN). Dem entspricht die Übergangsregelung des § 242q Abs 1 bis 4 AFG. Wollte man dies anders sehen, käme man im übrigen nur zu einer systemwidrigen Teilförderung ab 1. Januar 1994, was vom Gesetzgeber ohnedies nicht gewollt gewesen sein kann.

Das LSG wird außerdem über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 955692

BSGE, 269

SozSi 1997, 439

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