Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 19.09.1956) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 19. September 1956 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
I
Der Ehemann der Klägerin, der Malermeister K. H. J. war noch in dem früher von ihm selbst und z.Zt. des Unfalls von seinem Sohn L. J. betriebenen Malerunternehmen tätig. Die Werkstatt dieses Unternehmens liegt im Erdgeschoß eines Gebäudes, in dessen erstem Obergeschoß sich die Wohnung des Sohnes L. J. und die Wohnung der Klägerin und ihres Ehemannes befanden.
Am 29. Januar 1953 hatte der Ehemann der Klägerin nachmittags in der Werkstatt gearbeitet. Gegen 17 Uhr war er in seine Wohnung im ersten Obergeschoß zum Vespern gegangen. Als er nach Beendigung des Vesperns wieder in die Werkstatt gehen wollte, um dort weiterzuarbeiten, stürzte er auf der vom Obergeschoß zum Erdgeschoß führenden Treppe und wurde auf dem Betonfußboden vor der Treppe bewußtlos aufgefunden. Er ist am Morgen des 1. Februar 1953 gestorben.
Die Beklagte hat die Ansprüche der Klägerin auf Hinterbliebenenrente durch Bescheid vom 26. August 1953 mit folgender Begründung abgelehnt: Der Versicherungsschutz erstrecke sich nur auf den Gefahrenbereich der Tätigkeiten auf der Betriebsstätte bzw. solcher Verrichtungen, die mit der betrieblichen Beschäftigung in ursächlichem und innerem Zusammenhang stehen. Er finde seine Grenze im Wirkungsbereich der eigenen Häuslichkeit. Die Betätigung, bei der J. zu Schaden kam, sei weder durch betriebliche Vorgänge veranlaßt noch im Betriebsinteresse geleistet. J. sei in erster Linie aus persönlichen Motiven heraus zum Aufsuchen seiner Wohnung bewogen worden. Hierbei habe er den Gefahrenbereich des Betriebes verlassen und sich in den Wirkungsbereich seiner Häuslichkeit begeben, den er zur Zeit des Treppensturzes noch nicht wieder verlassen gehabt habe. Außerdem sei nach fachärztlicher Ansicht mit größerer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß J. infolge einer Durchblutungsstörung des Gehirns einen Schlaganfall erlitten habe. Dadurch sei es zu einer Bewußtseinstrübung und Beeinträchtigung des Reaktionsvermögens und so zum Treppensturz gekommen. Ein Unfall im Sinne des Gesetzes sei hierin nicht zu erblicken.
Gegen diesen Bescheid hat die Klägerin trist- und formgerecht Berufung zum Oberversicherungsamt Karlsruhe eingelegte Dieses Rechtsmittel ist nach dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Klage auf das Sozialgericht (SG.) Mannheim übergegangen (§ 215 Abs. 2 und 4 SGG). Das SG. hat durch Urteil vom 28. Oktober 1954 die Klage abgewiesen. Es hat darauf hingewiesen, daß der Versicherungsschutz für Wegeunfälle nach § 543 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) innerhalb des häuslichen Gefahrenbereichs, der durch die Haustür begrenzt werde, nicht in Frage komme. Das Vorliegen eines Betriebsweges (§ 542 RVO) hat das SG. mit der Begründung verneint, mit dem Betreten des Treppenhauses durch die zur Werkstatt führende Innentür sei der häusliche Gefahrenbereich erreicht worden, innerhalb dessen eine betriebliche Tätigkeit nicht mehr ausgeübt werden könne.
Gegen dieses Urteil hat die Klägerin form- und fristgerecht Berufung beim Landessozialgericht (LSG.) Baden-Württemberg eingelegt. Im Termin vor dem LSG. am 19. September 1956 haben die Prozeßbevollmächtigten der Klägerin beantragt, den Arbeitgeber L. J. als Zeugen dafür zu hören, daß der Verunglückte die Erlaubnis gehabt habe, die Vesper in seiner Wohnung einzunehmen und daß sich auch in der Wohnung des Verunglückten Betriebsgegenstände befunden hätten.
In der Niederschrift heißt es weiter: „Welcher Art diese Betriebsgegenstände gewesen seien, konnte der klägerische Vertreter im einzelnen nicht angeben, er konnte lediglich darauf hinweisen, daß die Unfalltreppe auch von Kunden benutzt wurde”.
Durch Urteil vom 19. September 1956 hat das LSG. die Berufung gegen das Urteil des SG. Mannheim vom 28. Oktober 1954 als unbegründet zurückgewiesen.
Zur Begründung hat das LSG. ausgeführt: Die beantragten Beweiserhebungen seien nicht erforderlich. Es könne unterstellt werden, daß der Ehemann der Klägerin berechtigt gewesen sei, die Vesper in seiner Wohnung einzunehmen. Ob in der Wohnung Betriebsgegenstände verwahrt würden, sei rechtlich unerheblich, da der Ehemann der Klägerin nicht in die Wohnung gegangen sei, um einen Betriebsgegenstand zu holen oder sich sonst irgendwie damit zu beschäftigen. Der Gang in die Wohnung sei eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit, durch die der Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit unterbrochen worden sei. Da er in dem grundsätzlich unversicherten Gefahrenbereich seiner privaten Sphäre keine Betriebsarbeit habe verrichten wollen, liege kein versicherter Betriebsweg (§ 542 RVO) und auch kein Weg zur Arbeitsstätte (§ 543 RVO) vor. Der nach § 543 RVO versicherte Weg beginne und ende an der Grenze des häuslichen Wirkungskreises und sei deshalb begrifflich ausgeschlossen, wenn Wohnung und Betriebsstätte im gleichen Hause liegen. Hier sei eine Trennung zwischen betrieblichem und häuslichem Bereich gegeben. Die Grenze bilde die Werkstattür. Die Tatsache, daß die Treppe und der Hausflur auch dem Kundenverkehr dienen, mache diesen Teil des Hauses nicht zu einer Betriebsstätte. Bei einem Ineinandergreifen von häuslichem und betrieblichem Wirkungskreis bestehe Versicherungsschutz nur, wenn in der Wohnung eine Betriebstätigkeit verrichtet werde oder der Unfall durch das Mitwirken einer in der Wohnung befindlichen Betriebseinrichtung nach Art oder Schwere wesentlich beeinflußt werde. Das Einnehmen von Mahlzeiten falle grundsätzlich in den eigenwirtschaftlichen Bereich und sei nur ausnahmsweise versichert, wenn der Unfall wesentlich durch die Verhältnisse auf der Arbeitsstätte oder sonst durch die mit der Arbeitstätigkeit zusammenhängenden Umstände verursacht worden sei. Der Versicherungsschutz für Wege zur Einnahme von Mahlzeiten reiche nur bis zur Grenze der eigenen Haustür. Lediglich die Haustür eines fremden Gebäudes lasse ihn noch nicht ohne weiteres enden.
Die Revision ist vom LSG. zugelassen worden.
Gegen dieses Urteil, das am 5. Oktober 1956 unter Einschreiben zur Post gegeben worden ist, hat die Klägerin mit einem am 26. Oktober 1956 beim Bundessozialgericht (BSG.) eingegangenen Schriftsatz Revision eingelegt und sie mit einem am 23. November 1956 eingegangenen Schriftsatz begründet.
Sie beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 26. August 1953 und die Urteile des SG. vom 28. Oktober 1954 und des LSG. vom 19. September 1956 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin die ihr aus Anlaß des Unfalls vom 29. Januar 1953 zustehende Rente zu zahlen.
Vorsorglich beantragt sie, die Sache zur anderweiten Verhandlung an das LSG. zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG); sie ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) und somit zulässige Sie ist auch begründet.
Das LSG. ist – allerdings ohne das ausdrücklich auszuführen – mit Recht davon ausgegangen, daß der Ehemann der Klägerin während der Tätigkeiten, die er als Malermeister in dem Unternehmen seines Sohnes verrichtete, unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stand. Das wird auch von der Beklagten nicht bezweifelt.
Nach den Feststellungen des LSG. – die insoweit von der Revision nicht angegriffen worden sind (vgl. § 163 SGG) – hatte der Ehemann der Klägerin vor dem Unfall in der Werkstatt im Erdgeschoß des Hauses gearbeitet, war dann zum Vespern in seine Wohnung im Obergeschoß gegangen und befand sich, als er auf der vom Obergeschoß zum Erdgeschoß führenden Treppe stürzte, auf dem Weg zur Werkstatt. Dort wollte er die Arbeit wieder aufnehmen.
Wie das LSG. zutreffend ausgeführt hat, war das Vespern in der Wohnung eine Tätigkeit, die dem unversicherten persönlichen Lebensbereich zuzurechnen ist und deshalb als solche nicht unter Versicherungsschutz stand.
Die Revision weist zwar zutreffend darauf hin, daß der Unternehmer verpflichtet ist, den in seinem Unternehmen Beschäftigten ausreichende Freizeit zu gewähren, wozu auch die notwendigen Arbeitspausen gehören. Der Unternehmer ist auch unmittelbar daran interessiert, daß Freizeit und Arbeitspausen in vernünftiger Weise zur Erholung und Entspannung und insbesondere zur Einnahme von Mahlzeiten verwendet werden, damit die Leistungsfähigkeit des Arbeitnehmers erhalten bleibt oder wiederhergestellt wird. Die Revision verkennt jedoch, daß dieses Interesse des Unternehmers an einer der Erhaltung der Leistungsfähigkeit dienenden Ausnutzung der Freizeit nicht ausreicht, um einen rechtlich wesentlichen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Vespern während einer Arbeitspause und der versicherten Tätigkeit zu begründen. Ein solches Interesse des Unternehmers besteht vielmehr auch an zahlreichen anderen Verrichtungen, ohne die eine ordnungsmäßige Erfüllung der Verpflichtungen aus dem Arbeitsverhältnis nicht möglich ist, die aber trotzdem dem unversicherten persönlichen Lebensbereich zuzurechnen sind (vgl. hierzu BSG. 7 S. 255, 9 S. 222)
Der Versicherungsschutz bleibt während der Einnahme einer Mahlzeit in einer Arbeitspause nur dann bestehen, wenn besondere Umstände einen rechtlich wesentlichen ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit begründen. Das ist z. B. in der Regel zu bejahen, wenn die Mahlzeit unmittelbar an der Arbeitsstelle oder innerhalb des Betriebs eingenommen wird. Dagegen besteht dann, wenn der Versicherte den Betrieb verläßt und die Mahlzeit in seiner Wohnung einnimmt, während des Aufenthalts im häuslichen Lebensbereich kein Versicherungsschutz.
Das LSG. hat keine Feststellungen darüber getroffen, in welchem Raum der Wohnung der Ehemann der Klägerin die Vesper eingenommen hat und wie dieser Raum im einzelnen ausgestattet war. Die Klägerin hat jedoch in beiden Tatsacheninstanzen keine Behauptungen aufgestellt, die das LSG. zu der Vermutung hätten veranlassen müssen, dieser Raum werde in so wesentlichem Umfange auch für Zwecke des Unternehmens verwendet, daß er auch während der ausschließlich dem persönlichen Lebensbereich zuzurechnenden Einnahme der Vespermahlzeit als Teil der Betriebsstätte anzusehen gewesen wäre. Das LSG. mußte sich deshalb insoweit auch nicht zu weiteren Ermittlungen gedrängt fühlen. Es ist vielmehr ohne Rechtsirrtum und ohne Verfahrensfehler zu den Ergebnis gelangt, daß der Ehemann der Klägerin während des Vesperns in seiner Wohnung nicht unter Versicherungsschutz stand.
Im Zeitpunkt des Unfalls war die Vesperpause jedoch bereits beendet. Der Ehemann der Klägerin war unterwegs zur Werkstatt. Die Feststellungen des LSG. und auch das Vorbringen der Klägerin ergeben keinen Anhalt dafür, daß der Weg des Ehemannes der Klägerin zur Werkstatt durch einen besonderen Umstand veranlaßt war, der es gerade in diesem Zeitpunkt notwendig und vielleicht sogar dringlich machte, die Wohnung zu verlassen. Auch bestand die Tätigkeit des Ehemannes der Klägerin im Unfall Zeitpunkt nur im Zurücklegen des Weges, d. h. im Sichfortbewegen, nicht dagegen z.B. zugleich im Transport arbeitswichtiger Gegenstände. Es bedarf deshalb keiner Prüfung der Rechtslage bei hiervon in tatsächlicher Hinsicht abweichenden Fällen.
Das Zurücklegen des Weges zur Werkstatt war infolgedessen mit der versicherten Tätigkeit des Ehemannes der Klägerin im Malerunternehmen des Sohnes nur insofern ursächlich verbunden, als der Rückweg zur Werkstatt notwendig war, damit der Ehemann der Klägerin die Arbeit dort wiederaufnehmen konnte. Andererseits aber war der Weg durch die Vesper in der Wohnung erforderlich geworden, d. h. durch eine dem unversicherten persönlichen Lebensbereich zuzurechnende Verrichtung. In einem solchen Fall kommt es darauf an, ob die ursächliche Verknüpfung zwischen dem Zurücklegen des Weges und der versicherten Tätigkeit rechtlich so wesentlich ist, daß daneben die ursächliche Beziehung zu der unversicherten Verrichtung unberücksichtigt bleiben kann (BSG. 1 S. 171 [172], 8 S. 53 [55]). Die von der Rechtsprechung zu § 543 RVO entwickelten Grundsätze (vgl. z. B. BSG. 2 S. 239) können allerdings, wie das LSG. zutreffend ausgeführt hat, auf den Weg des Ehemannes der Klägerin zur Werkstatt deshalb nicht unmittelbar angewendet werden, weil sich Betriebsstätte und Wohnbereich innerhalb eines Gebäudes befinden. Jedoch steht auch in einem solchen Fall der Weg zum Arbeitsplatz in der Regel nicht unter Versicherungsschutz, solange der rein persönliche Lebensbereich noch nicht verlassen ist (vgl. hierzu auch EuM. 41 S. 198); denn bei der Abwägung der ursächlichen Beziehungen zur versicherten und unversicherten Tätigkeit ist zu berücksichtigen, daß die ursächlichen Beziehungen zu Verrichtungen des unversicherten persönlichen Lebens grundsätzlich innerhalb des Bereichs des persönlichen Lebens auch rechtlich das ausschlaggebende Gewicht haben.
Das LSG. ist der Auffassung, daß es im vorliegenden Fall möglich ist, eine klare Scheidung zwischen den Teilen des Gebäudes zu treffen, die Betriebszwecken dienen, und denjenigen, die ausschließlich dem persönlichen Lebensbereich zuzurechnen sind. Es hat ausgeführt, daß die zur Werkstatt führende Tür die Grenze zwischen dem Wohnbereich und der Arbeitsstätte bilde, und hat den Versicherungsschutz mit der Begründung verneint, der Ehemann der Klägerin habe den Wohnbereich im Zeitpunkt des Unfalls noch nicht verlassen gehabt.
Wie die Revision zutreffend unter Bezugnahme auf § 103 SGG gerügt hat, reichen die tatsächlichen Feststellungen des LSG. jedoch nicht aus, um diese Schlußfolgerungen zu rechtfertigen. Das LSG. hat nicht berücksichtigt, daß sich nach der Skizze Bl. 10 der Akten der Beklagten gegenüber der Werkstatt ein „Abstellraum und Lager” befindet, so daß mindestens für den Flurraum vor der Treppe eine nicht unwesentliche Benutzung für Betriebszwecke zu vermuten ist. Außerdem hat die Klägerin – wenn auch ohne nähere Einzelheiten – behauptet, daß auch im Obergeschoß „Betriebsgegenstände” verwahrt würden und daß die Treppe zum Obergschoß auch von „Kunden” benutzt werde.
Ohne nähere Aufklärung dieser – an sich unzureichend erläuterten – Behauptungen kann aber nicht entschieden werden, ob der Treppenraum nur so selten und nebensächlich für Betriebszwecke benutzt wird, daß er noch zu dem ausschließlich dem persönlichen Lebensbereich des Ehemannes der Klägerin zuzurechnenden Teil des Gebäudes gehört, oder ob diese Benutzung für Betriebszwecke immerhin so wesentlich ist, daß die Grenze des persönlichen Lebensbereichs des Ehemannes der Klägerin an anderer Stelle zu ziehen ist und der Ehemann der Klägerin somit beim Betreten der Treppe diesen Bereich bereits verlassen hatte.
Die tatsächlichen Feststellungen infolgedessen für eine abschließende rechtliche Beurteilung des Sachverhalts nicht ausreichen, mußte das Urteil des LSG. aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen