Entscheidungsstichwort (Thema)

Distanzierung vom deutschen Sprach- und Kulturkreis. Dauer der Übergangszeit. Unterbrechung durch berufliche Nutzung der deutschen Sprache

 

Orientierungssatz

1. Zur Frage der Dauer der Übergangszeit zwischen dem Nichtgebrauch des Deutschen im persönlichen Bereich und dem Verlust der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis.

2. Der Prozeß einer Lösung vom deutschen Sprach- und Kulturkreis durch Ablauf eines bestimmten Zeitraums, in dem Deutsch im persönlichen Lebensbereich nicht verwendet worden ist, wird durch den Entschluß, die vorhandene Beherrschung der deutschen Sprache zum Beruf zu machen, unterbrochen.

 

Normenkette

WGSVG § 20 S 1 Fassung: 1986-12-19, § 20 S 2 Fassung: 1986-12-19, § 20 Abs 1 S 1 Fassung: 1989-12-18, § 20 Abs 1 S 2 Fassung: 1989-12-18, § 19 Abs 2 Buchst a Halbs 2

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 16.07.1987; Aktenzeichen L 10 An 21/87)

SG Berlin (Entscheidung vom 10.12.1986; Aktenzeichen S 1 An 104/86)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Herstellung einer Versicherungsunterlage für in der UdSSR zurückgelegte Beitrags- bzw Beschäftigungszeiten.

Der 1926 in Kowno/Litauen geborene Kläger, rassisch Verfolgter iS des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG), war von 1946 bis 1962 in Wilna/UdSSR als Kraftfahrer und in der Lederverarbeitung tätig. Von 1963 an bis zu seiner Auswanderung nach Israel im Dezember 1971 arbeitete er als Büroleiter für Übersetzungen (Deutsch/Russisch). Die Umgangssprache in der 1951 mit einer russischsprachigen Frau geschlossenen Ehe des Klägers, aus der zwei - 1960 und 1963 geborene - Kinder hervorgegangen sind, war Russisch.

Nach seinen Angaben stammt der Kläger aus einem deutschsprachigen Elternhaus. Sowohl die Muttersprache seines in Taurogen/Litauen geborenen Vaters und seiner in Kowel/Litauen geborenen Mutter sei Deutsch gewesen. Daneben sei in der Familie auch Litauisch gesprochen worden. Während seines Schulbesuchs in Memel von 1932 bis 1938 seien die Unterrichtssprachen Deutsch und Litauisch gewesen. Nach dem Umzug seiner Familie nach Schaulen/Litauen im Jahre 1938 habe er bis zum Beginn der Verfolgung im Jahre 1941 eine Schule besucht, in der die Unterrichtssprache Litauisch gewesen sei. Obwohl die Verwendung der deutschen Sprache in der UdSSR in den Jahren nach Beendigung des zweiten Weltkrieges Schwierigkeiten nach sich gezogen habe, habe er auch nach der Heirat noch mit deutschsprachigen Freunden Deutsch gesprochen. Bei seiner Schwester habe die beklagte Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) bereits im Jahre 1978 die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis (dSK) anerkannt.

Der Kläger beantragte im Dezember 1975 zunächst bei der Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz die Anerkennung von Beitragszeiten nach dem Fremdrentengesetz (FRG). Diese veranlaßte eine Sprachprüfung, die 1979 von dem israelischen Finanzministerium durchgeführt wurde. Danach sprach der Kläger mühelos Deutsch, las Deutsch fließend und mit vollem Verständnis und schrieb Deutsch mit einigen Fehlern. Seine gewandte Ausdrucksweise lasse seine Behauptung, Deutsch sei seine Muttersprache, als glaubwürdig erscheinen.

Nach Abgabe des Verfahrens an die Beklagte lehnte diese den Antrag des Klägers mit Bescheid vom 8. Februar 1985, bestätigt durch den Widerspruchsbescheid vom 13. Dezember 1985, ab. Seine Zugehörigkeit zum dSK im Zeitpunkt der Auswanderung sei weder nachgewiesen noch glaubhaft gemacht worden, da er beim Verlassen des Vertreibungsgebiets die deutsche Sprache im persönlichen Bereich nicht mehr überwiegend gebraucht habe.

Klage und Berufung hiergegen sind erfolglos geblieben (Urteil des Sozialgerichts -SG- Berlin vom 10. Dezember 1986; Urteil des Landessozialgerichts -LSG- Berlin vom 16. Juli 1987). Zur Begründung hat das LSG im wesentlichen ausgeführt, die in der UdSSR zurückgelegten Beitrags- bzw Beschäftigungszeiten könnten nicht nach dem FRG anerkannt werden, da der Kläger nicht die Voraussetzungen der §§ 20, 19 Abs 2a des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) erfülle. Es könne offenbleiben, ob er bis Kriegsende dem dSK angehört habe; er habe sich jedenfalls aufgrund seiner Heirat im Jahre 1951 vom dSK gelöst, weil er danach im persönlichen Lebensbereich nicht mehr Deutsch, sondern Russisch gesprochen habe.

Der Kläger hat die vom Senat zugelassene Revision eingelegt, mit der er eine Verletzung der §§ 19, 20 WGSVG rügt. Nach dem Wortlaut des § 19 Abs 2 WGSVG sei für die Zugehörigkeit zum dSK auf den Zeitraum des Verlassens des Vertreibungsgebietes abzustellen. Entsprechend der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs für das Entschädigungsrecht (BGH RzW 1970, 503) und des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE 26, 344, 349; RzW 1969, 253; 1972, 158; 1975, 284) für das Vertriebenenrecht sei nicht nur eine verfolgungsbedingte, sondern auch eine vertreibungsbedingte Abkehr vom dSK unschädlich. Die Absicht des Gesetzgebers, durch die §§ 19, 20 WGSVG eine Gleichstellung der dem dSK angehörenden Verfolgten aus den Vertreibungsgebieten mit dem Personenkreis des § 1 FRG herbeizuführen, gebiete diese Auslegung der Vorschriften. Insoweit müßten also Ausnahmen von dem Erfordernis, dem dSK beim Verlassen des Vertreibungsgebietes anzugehören, gemacht werden. Ein Gegensatz zwischen verfolgungs- und vertreibungsbedingter Abkehr vom dSK bestehe nicht. Die Verwendung des Russischen im persönlichen Lebensbereich seit seiner Eheschließung sei schließlich aus - ihm nicht zuzurechnenden - verfolgungs- und vertreibungsbedingten Gründen erfolgt. Der Anteil der jüdischen Deutschsprachigen in seiner Heimat sei durch die nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen so dezimiert worden, daß er keine deutschsprachige Frau mehr habe heiraten können. Unter den Verhältnissen der frühen Nachkriegsjahre in der UdSSR hätte das Festhalten an der deutschen Sprache in der Ehe mit seiner Frau, die Deutsch in der Schule gelernt habe, eine Gefährdung der Familie, insbesondere der gemeinsamen Kinder bedeutet.

Der Kläger beantragt,

die Urteile des Sozialgerichts Berlin vom 10. Dezember 1986 und des Landessozialgerichts Berlin vom 16. Juli 1987 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 8. Februar 1985 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Dezember 1985 zu verurteilen, die von ihm in der UdSSR zurückgelegten Versicherungszeiten nach Maßgabe des Fremdrentengesetzes anzuerkennen und eine Versicherungsunterlage herzustellen, hilfweise, das angefochtene Urteil des Landessozialgerichts Berlin aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt sinngemäß,

die Revision des Klägers zurückzuweisen.

Nach ihrer Auffassung können die geltend gemachten Zeiten nicht aufgrund des am 1. Juli 1990 in Kraft getretenen § 17a FRG anerkannt werden, da dessen Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Der 1926 geborene Kläger habe, als sich der nationalsozialistische Einflußbereich im Juli 1941 auf sein Heimatgebiet erstreckt habe, das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet gehabt. Eine Anerkennung der Zeiten könne auch nicht unter Berücksichtigung der neueren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu den §§ 19, 20 WGSVG erfolgen. Wenn man davon ausgehe, daß sich der Kläger durch die Eheschließung mit einer russischsprachigen Frau im Jahre 1951 in Wilna und der Benutzung des Russischen als Umgangssprache in Ehe und Familie freiwillig vom dSK abgewandt habe, so würde die Zeit bis zur Auswanderung in 1971 20 Jahre betragen. Dieser Zeitraum sei zu lang, um als Übergangszeit anerkannt zu werden. Dabei müsse auch berücksichtigt werden, daß der Kläger nicht sehr fest im dSK verwurzelt gewesen sei, da er mehrsprachig aufgewachsen sei.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG begründet. Die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts reichen für eine abschließende Entscheidung in der Sache nicht aus.

Nach § 11 Abs 2 Versicherungsunterlagen-Verordnung (VuVO) sind auf Antrag des Versicherten (Beschäftigten) auch außerhalb des Leistungsfeststellungsverfahrens nach Maßgabe des FRG Versicherungsunterlagen für Zeiten herzustellen, die nach dem FRG anrechenbar sind. Da der Kläger nicht zum Personenkreis des § 1 FRG gehört und die Voraussetzungen des zum 1. Juli 1990 in Kraft getretenen § 17a FRG (Art 15 Abschnitt A Nr 4 iVm Art 85 Abs 6 des Rentenreformgesetzes 1992 -RRG 1992- vom 18. Dezember 1989 - BGBl I S 2261) nicht erfüllt sind, könnten Versicherungszeiten, die der Kläger in der UdSSR zurückgelegt hat, nach den §§ 15, 16 FRG nur dann nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleichstehen, wenn die Voraussetzungen des § 20 WGSVG erfüllt sind. Nach dessen Satz 1 (ab 1. Januar 1990 Abs 1 Satz 1 - vgl Art 21 Nr 4c iVm Art 85 Abs 5 RRG 1992) stehen bei der Anwendung des FRG den anerkannten Vertriebenen im Sinne des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) "vertriebene Verfolgte" gleich, die lediglich deswegen nicht als Vertriebene anerkannt sind oder anerkannt werden können, weil sie sich nicht ausdrücklich zum deutschen Volkstum bekannt haben. Das FRG ist somit dann zugunsten des Klägers anzuwenden, wenn er zwar "vertrieben" ist, jedoch lediglich mangels Bekenntnisses zum deutschen Volkstum nicht als Vertriebener anerkannt werden kann. Nach § 1 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 1 BVFG ist Vertriebener auch, wer - als deutscher Volkszugehöriger - nach Abschluß der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen die UdSSR verlassen hat. Deutscher Volkszugehöriger im Sinne des BVFG ist, wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur, bestätigt wird (§ 6 BVFG). Dazu wird in § 20 Satz 2 (seit 1. Januar 1990: Abs 1 Satz 2) WGSVG bestimmt, daß § 19 Abs 2 Buchstabe a Halbsatz 2 WGSVG entsprechend gilt. Nach dieser Vorschrift genügt es, soweit es auf die deutsche Volkszugehörigkeit ankommt, daß der Verfolgte im Zeitraum des Verlassens des Vertreibungsgebietes dem dSK angehört hat. Nach § 20 Abs 2 WGSVG idF des RRG 1992 wird vermutet, daß die Zugehörigkeit zum dSK eine wesentliche Ursache für das Verlassen des Vertreibungsgebietes ist. Das gilt nicht, wenn das Vertreibungsgebiet nachweislich im wesentlichen aus anderen Gründen verlassen worden ist, weil der Zugehörigkeit zum dSK nicht annähernd das gleiche Gewicht zukommt. Eine verfolgungsbedingte Abwendung vom dSK oder eine Wohnsitznahme in einem nicht deutschsprachigen Land widerlegt allein diese Vermutung nicht.

Das LSG hat - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - die erste der danach für den Rechtsstreit entscheidenden Fragen, ob nämlich der Kläger überhaupt dem dSK angehört hat, offen gelassen. Es hat vielmehr die weitere Voraussetzung des Anspruchs - Zugehörigkeit zum dSK im Zeitraum des Verlassens des Vertreibungsgebietes - verneint. Bei der Auslegung des Begriffs "Abwenden vom dSK" ist es jedoch nicht von einem zutreffenden Inhalt dieses Begriffs ausgegangen.

Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG kommt dem Gebrauch der deutschen Sprache für die Zugehörigkeit zum dSK eine "im Regelfall" ausschlaggebende Bedeutung zu (BSGE 50, 279 = SozR 5070 § 20 Nr 3; vgl auch BSG SozR aaO Nrn 2, 4, 5, 13, jeweils mwN); denn wer eine Sprache im persönlichen Bereich ständig gebraucht, gehört nicht nur diesem Sprachkreis, sondern auch dem durch die Sprache vermittelten Kulturkreis an, weil sie ihm den Zugang zu dessen Weltbild und Denkwelt erschließt. Die Zugehörigkeit zum dSK ergibt sich daher "im Regelfall" aus dem zumindest überwiegenden Gebrauch der deutschen Muttersprache im persönlichen Lebensbereich, der in erster Linie die Sphäre von Ehe und Familie, aber auch den Freundeskreis umfaßt. Eine Mehrsprachigkeit steht der Zugehörigkeit zum dSK dann nicht entgegen, wenn der Verfolgte die deutsche Sprache wie eine Muttersprache beherrscht und sie in seinem persönlichen Bereich überwiegend gebraucht hat. Wer sich allerdings freiwillig, nicht verfolgungs- oder vertreibungsbedingt, von dem Gebrauch der deutschen Sprache im persönlichen Bereich auf Dauer abwendet, gehört nicht mehr dem dSK an (BSGE 50, 281; BSG SozR 5070 § 20 Nr 4 S 14; Nr 13 S 50; BSG-Urteil vom 19. April 1990 - 1 RA 105/88 - = SozR 3 - 5070 § 20 Nr 1).

Aber auch derjenige, der Deutsch als Muttersprache gesprochen hat und diese nach Beendigung der Verfolgungsmaßnahmen zunächst weiterhin im persönlichen Lebensbereich verwendet, verliert die Zugehörigkeit zum dSK nicht unmittelbar mit dem Zeitpunkt, von dem an der Gebrauch der deutschen Sprache im persönlichen Lebensbereich nicht mehr überwiegt; die Zugehörigkeit bleibt vielmehr regelmäßig für eine Übergangszeit erhalten (BSGE 50, 282 = SozR aaO Nr 3 S 9; Nr 13 S 48; Urteil vom 19. April 1990 - aaO). Dabei hängt die Dauer der Übergangszeit nicht nur von den subjektiven, persönlichen Gründen, die zum Nichtgebrauch des Deutschen geführt haben, sondern auch von den objektiven Lebensverhältnissen ab, sofern sie durch die Verfolgung bzw Vertreibung wesentlich geprägt worden sind (BSG SozR 3 - 5070 § 20 Nr 1; Urteile des erkennenden Senats vom 16. August 1990 - 4 RA 18/89 - und vom 27. September 1990 - 4 RA 32/89). Eine indizielle Bedeutung für eine freiwillige Abwendung vom dSK kommt dem Sprachverhalten - auch im persönlichen Bereich - um so weniger zu, je mehr die objektiven, durch die Verfolgung bzw Vertreibung geprägten Lebensverhältnisse einen Wechsel der Sprache erzwungen oder jedenfalls den Gebrauch des Deutschen nachhaltig behindert haben. Entsprechend seiner Charakterisierung als Übergangszeit ist der Zeitraum zwischen dem Nichtgebrauch des Deutschen im persönlichen Bereich und dem Verlust der Zugehörigkeit zum dSK nicht unbefristet. Nach der Rechtsprechung des BSG sind 24 Jahre, die zwischen dem Beginn der Distanzierung vom dSK und der Auswanderung aus dem Vertreibungsgebiet liegen (Urteil des erkennenden Senats vom 16. August 1990 - aaO) bzw 22 Jahre (BSGE 50, 282) zu lang, um noch als Übergangszeit anerkannt zu werden. Dem liegt zugrunde, daß bei Sachverhalten, in denen neben objektiven auch subjektive Gründe wie die Heirat einer fremdsprachigen Frau für eine Abkehr von der Benutzung der deutschen Sprache ausschlaggebend waren, mit dem Nichtgebrauch des Deutschen objektiv eine Distanzierung vom dSK verbunden ist. Sie kann, je länger der Zeitpunkt des Nichtgebrauchs im persönlichen Lebensbereich zurückliegt, um so weniger auf die objektiven Gründe zurückgeführt werden. Bilden jedoch allein objektive, verfolgungs- oder vertreibungsbedingte Umstände den Grund für den Nichtgebrauch des Deutschen, so kann das dem Betreffenden ebensowenig entgegengehalten werden wie der Umstand, daß er sich wegen Verfolgungsmaßnahmen vom deutschen Volkstum abgewandt hatte (zu letzterem bereits BSG SozR 5070 § 20 Nr 2, S 3; Nr 9, S 32; SozR 3 - 5070 § 20 Nr 1, S 5).

So liegt der Fall jedoch hier nicht. Der Kläger hat geltend gemacht, daß er auch in den Jahren nach Beendigung der Verfolgung mit Freunden Deutsch gesprochen habe. Daraus ist zu schließen, daß insoweit eine verfolgungsbedingte Abwendung vom Gebrauch des Deutschen nicht vorlag. Dementsprechend ist das LSG - in Übereinstimmung mit der Beklagten - zutreffend davon ausgegangen, daß - die ursprüngliche Zugehörigkeit des Klägers zum dSK unterstellt - eine freiwillige Abwendung vom dSK mit der Eheschließung des Klägers mit einer fremdsprachigen Frau im Jahre 1951 beginnt. Das LSG hat jedoch außer acht gelassen, daß der Kläger mit der Aufnahme der beruflichen Verwendung des Deutschen, die erhebliche Kenntnisse voraussetzte, im Jahre 1963 den Prozeß der Entfremdung vom dSK, der durch den Nichtgebrauch des Deutschen im persönlichen Lebensbereich bedingt war, unterbrochen hat. Zwar reicht der Gebrauch der deutschen Sprache ausschließlich im beruflichen Bereich nicht aus, um eine Zugehörigkeit zum dSK zu begründen bzw zu erhalten (BSGE 50, 281 = SozR aaO Nr 3 S 8, mwN). Hier kommt jedoch dem Umstand besondere Bedeutung zu, daß der Kläger weder die deutsche Sprache aus beruflichem Anlaß erlernt noch sie von vornherein aus beruflichen Gründen verwendet hat. Er hat vielmehr nach Jahren des Nichtgebrauchs im persönlichen Bereich auf die bei ihm noch vorhandene Beherrschung des Deutschen zurückgegriffen, um diese Fähigkeit nunmehr beruflich zu nutzen. In der Aufnahme der Tätigkeit eines Übersetzers für Deutsch/Russisch im Jahre 1963 dokumentiert sich somit ein Festhalten an dem Sprachvermögen und damit auch an dem mit ihm verbundenen - deutschen - Sprach- und Kulturkreis. Der Prozeß einer Lösung vom dSK durch Ablauf eines bestimmten Zeitraums, in dem Deutsch im persönlichen Lebensbereich nicht verwendet worden ist, wird durch den Entschluß, die vorhandene Beherrschung der deutschen Sprache zum Beruf zu machen, unterbrochen. In ihm spiegelt sich eine Wiederzuwendung zum dSK, die die Fiktion, aufgrund derer nach Ablauf eines bestimmten Zeitraums des Nichtgebrauchs der Sprache die Zugehörigkeit zum Sprach- und Kulturkreis verlorengeht, widerlegt.

Da nach allem die im Jahre 1963 noch nicht abgelaufene Übergangsfrist, nach der eine Lösung vom dSK angenommen werden konnte, mit dem Beginn der Übersetzertätigkeit für Deutsch/Russisch bis zur Auswanderung Ende 1971 unterbrochen worden ist, verlor der Kläger aufgrund seiner in 1951 geschlossenen Ehe mit einer fremdsprachigen Frau und der nachfolgenden Verwendung des Russischen im persönlichen Lebensbereich nicht seine Zugehörigkeit zum dSK.

Das LSG wird danach zu prüfen haben, ob - was bisher von ihm offengelassen worden ist - der Kläger bei Verfolgungsbeginn dem dSK angehört hat und damit die Voraussetzungen der §§ 20, 19 Abs 2a WGSVG erfüllt. Es wird dabei auch, soweit dies rechtlich zulässig ist, die Verwaltungsvorgänge berücksichtigen können, die die Schwester des Klägers betreffen, bei der die Beklagte nach seinem Vortrag eine Zugehörigkeit zum dSK bejaht hat.

Die Revision des Klägers hatte im Sinne der Zurückverweisung der Streitsache an das LSG Erfolg, wobei das LSG auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben wird.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1651091

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