Entscheidungsstichwort (Thema)
Erziehungsgeld ; in Deutschland lebender türkischer Arbeitnehmer ; Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthalt der Ehefrau in der Türkei - Familiennachzug - Diskriminierungsverbot - europarechtlicher Schadensersatzanspruch - Herstellungsanspruch
Leitsatz (amtlich)
1. Die Ehefrau eines in Deutschland lebenden türkischen Arbeitnehmers hat für ihr in der Türkei erzogenes Kind keinen Anspruch auf Erziehungsgeld; darin liegt keine unzulässige Diskriminierung iS des EWG-Abk Türkei und seines Zusatzprotokolls sowie der dazu ergangenen Assoziationsratsbeschlüsse.
2. Eine etwaige rechtswidrige Verzögerung des Familiennachzugs in der Türkei verbliebener Angehöriger durch die für die Anwendung von ausländerrechtlichen Bestimmungen zuständigen Behörden führt weder zu einem europarechtlichen Schadensersatzanspruch noch zu einem "Herstellungsanspruch" iS des deutschen Sozialrechts.
Normenkette
BErzGG § 1 Abs. 1 Fassung: 1994-01-31; SGB I § 30 Abs. 3 Sätze 1-2; EWGAbkTUR Art. 4, 9; EWGAbkTURProt, EG, Art. 36; EWGAbkTURProt, EG, Art. 39; EWGAssRBes 1/80 Art. 10
Beteiligte
Landeskreditbank Baden-Württemberg – Förderbank– |
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen den Beschluss des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 17. Dezember 1998 wird zurückgewiesen.
Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten über den Anspruch der Klägerin auf Erziehungsgeld (Erzg) für ein 1995 in der Türkei geborenes und in den Folgejahren dort erzogenes Kind.
Die 1973 geborene Klägerin ist Türkin und heiratete im November 1993 in der Türkei den 1955 geborenen Mehmet Ihsan D.. Dieser hält sich seit 1980 in der Bundesrepublik Deutschland auf, wo er zunächst studierte und dann zeitweise als Angestellter in der Universitätsklinik F. beschäftigt war. Seit 9. Februar 1998 wohnt auch die Klägerin mit ihrem am 7. August 1995 geborenen Sohn Deniz Kerim D. in F.. Hier wurde ihr für die Zeit vom 17. Februar 1998 bis 17. Februar 1999 eine befristete Aufenthaltserlaubnis erteilt.
Den durch D. schon am 4. August 1995 gestellten Antrag der Klägerin auf Erzg für das erste Lebensjahr des Kindes lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 19. September 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Dezember 1995 mit der Begründung ab, die Klägerin habe während der in Betracht kommenden Bezugszeiten keinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland gehabt. Zudem erfülle sie nicht die Voraussetzungen des § 1 Abs 1a Bundeserziehungsgeldgesetz (BErzGG). Dass sich die Klägerin bereits 1993 beim Einwohnermeldeamt Freiburg angemeldet habe, sei ohne Bedeutung, ebenso ihr Vorbringen, „Einreiseerlaubnis” und Ehegattennachzug seien ihr zu Unrecht verweigert worden.
Auch die Klage blieb erfolglos (Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ Freiburg vom 28. Juli 1997). Die Berufung der Klägerin wies das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg mit Beschluss vom 17. Dezember 1998 zurück. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Erzg nach innerstaatlichen Vorschriften, weil sie während des streitigen Bezugszeitraumes nicht im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis (§ 1 Abs 1a BErzGG) gewesen sei. Auch in Verbindung mit dem „Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei” vom 12. September 1963 („Abkommen” – ABl L 217 vom 29. Dezember 1964) mit seinem Zusatzprotokoll vom 23. November 1970 über die „Bedingungen, die Einzelheiten und den Zeitplan für die Verwirklichung der Übergangsphase” iS des Art 4 des „Abkommens” (ABl L 293 vom 29. Dezember 1972 – „Zusatzprotokoll” –) und den zum „Abkommen” ergangenen Assoziationsratsbeschlüssen vom 19. September 1980 (ARB) ergebe sich kein Anspruch auf Erzg. Das gelte insbesondere auch für den ARB Nr 1/80 (veröffentlicht in der vom Rat der Europäischen Gemeinschaften ≪EG≫ herausgegebenen Sammlung, „Assoziierungsabkommen und Protokolle EWG-Türkei sowie andere Basisdokumente, Brüssel 1992, S 327 ff – ARB 1/80) und den ARB Nr 3/80 (ABl 1983 C 110, S 60 – ARB 3/80). Zwar habe der Europäische Gerichtshof (EuGH) Art 6 des ARB 1/80 als unmittelbar geltendes Recht behandelt. Daraus und aus dem Diskriminierungsverbot in Art 10 Abs 1 ARB 1/80 lasse sich aber kein unmittelbarer Anspruch auf Familienleistungen herleiten. Dasselbe gelte für den ARB 3/80.
Ihre – vom 14. Senat zugelassene – Revision hat die Klägerin sinngemäß wie folgt begründet: Die Bescheide der Beklagten verstießen gegen das in Art 3 Abs 1 ARB 3/80 enthaltene Diskriminierungsverbot. Zwar habe sie, die Klägerin, im Leistungszeitraum nicht im Bundesgebiet gelebt. Das habe jedoch an einer rechtswidrigen Verzögerung der zu erteilenden Aufenthaltserlaubnis (Einreiseerlaubnis wegen Ehegattennachzugs) gelegen; deswegen sei sie im Wege eines „europarechtlichen Schadensersatzanspruches” bzw „Folgenbeseitigungsanspruches” so zu stellen, als ob sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland gehabt hätte. Außerdem komme ihr das in Art 9 des „Abkommens” iVm Art 7 – heute Art 12 – des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft vom 25. März 1957 (BGBl II, 1253/1256 in der jeweils gültigen Fassung – EG-Vertrag –) vereinbarte Diskriminierungsverbot zugute. Entgegen der Meinung des LSG gälten die in den ARB 1/80 und 3/80 festgelegten Diskriminierungsverbote auch für Familienleistungen. Zu beachten sei zudem das arbeitsrechtliche Diskriminierungsverbot in Art 37 des „Zusatzprotokolls”. Diese Bestimmung gelte zumindest für ihren Ehemann. Diskriminierungsverbote ergäben sich außerdem aus Art 7 Abs 2 der Verordnung des Rats der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWGV) Nr 1612/68 vom 15. Oktober 1968 (ABl Nr L 257/2 in der jeweils geltenden Fassung – EWGV 1612/68 –) und aus Art 39 Abs 2 des EG-Vertrages. Diese bezögen sich auch auf soziale Vergünstigungen, wie das Erzg.
Die Klägerin beantragt,
den Beschluss des LSG Baden-Württemberg vom 17. Dezember 1998 sowie das Urteil des SG Freiburg vom 28. Juli 1997 abzuändern und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 19. September 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Dezember 1995 zu verurteilen, der Klägerin Erziehungsgeld ab 7. August 1995 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält den Beschluss des LSG für richtig. Die Klägerin habe insbesondere während des Leistungszeitraums ihren Wohnsitz iS des § 30 Abs 3 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) nicht im Inland gehabt. Selbst wenn ihr der Familiennachzug rechtswidrig verweigert worden sein sollte, könne sie Erzg weder im Wege des Herstellungsanspruchs noch eines Schadensersatzanspruches verlangen. Evtl Schadensersatzansprüche wären ggf gegen die Behörden zu richten, denen die Klägerin fehlerhafte Entscheidungen vorwerfe.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist nicht begründet. Die Klägerin erfüllte in der fraglichen Zeit (7. August 1995 bis 6. August 1996) nicht die Voraussetzungen des BErzGG für den Anspruch auf Erzg. Auch nach zwischenstaatlichen oder übernationalen Vorschriften ist ihr Erzg nicht zu gewähren. Schließlich besteht auch kein Anspruch auf die begehrte Zahlung im Wege eines Schadensersatzanspruchs oder Folgenbeseitigungsanspruchs.
A. Maßgebliche Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch ist § 1 BErzGG idF des Gesetzes vom 31. Januar 1994 (BGBl I S 180), die vom 1. Januar 1994 bis 31. Dezember 1997 gegolten hat. Danach hatte Anspruch auf Erzg, wer
- einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes hat,
- mit einem Kind, für das ihm die Personensorge zusteht, in einem Haushalt lebt,
- dieses Kind selbst betreut und erzieht und
- keine oder keine volle Erwerbstätigkeit ausübt.
Für Ausländer sah der seinerzeitige § 1 Abs 1a Satz 1 BErzGG außerdem als Anspruchsvoraussetzung den Besitz einer Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis vor.
Die Klägerin erfüllte seinerzeit schon nicht die Voraussetzungen des Abs 1 Nr 1 dieser Vorschrift. Gemäß § 30 Abs 3 Satz 1 SGB I hat einen Wohnsitz jemand dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Gemäß Satz 2 in demselben Absatz hat den gewöhnlichen Aufenthalt jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Nach den Feststellungen des LSG lebte die Klägerin mit ihrem Sohn Deniz Kerim bis Februar 1998 in der Türkei und erst seit 9. Februar 1998 in Freiburg. Zwar hatte ihr Ehemann sie bereits im Dezember 1993 beim Einwohnermeldeamt Freiburg angemeldet. Das hat hier aber keine rechtliche Bedeutung.
B. Es gibt auch keine Vorschrift des zwischenstaatlichen oder überstaatlichen Rechts, die den Anspruch nach § 1 BErzGG auch auf solche Personen erstreckt, die – wie die Klägerin – ihren Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt in der Türkei haben und ihr Kind dort erziehen.
1. Das deutsch-türkische Abkommen über soziale Sicherheit vom 30. April 1964 (BGBl II 1965, 1170, zuletzt geändert durch das Zusatzabkommen vom 2. November 1984 – AbkTürkei – ≪BGBl II 1986, 1040≫) enthält keine Regelung über das Erzg (vgl Art 1 Nr 15, Art 2 Abs 1 Buchst e iVm Art 33 des AbkTürkei). Zwar umfasst es Vereinbarungen über „Kindergeld für Arbeitnehmer”. Darunter fällt aber nicht das Erzg, weil es unabhängig von der Arbeitnehmereigenschaft gewährt wird und sogar die Nichtausübung einer Erwerbstätigkeit voraussetzt.
2. Ebenso wenig begründet das „Abkommen” iVm seinem Zusatzprotokoll und den ARB einen Anspruch auf Erzg für einen in der Türkei lebenden Elternteil. § 1 Abs 1 BErzGG enthält, soweit darin Leistungsansprüche vom Wohnsitz oder Aufenthalt in Deutschland abhängig gemacht werden, für türkische Staatsangehörige, die in ihrem Heimatland leben, keine Diskriminierung gegenüber Deutschen. Auch Deutsche, die nicht die besonderen Voraussetzungen des § 1 Abs 2 ff BErzGG erfüllen, insbesondere von ihrem Arbeitgeber oder Dienstherrn zur vorübergehenden Dienstleistung in ein Gebiet außerhalb des Geltungsbereichs des BErzGG entsandt, abgeordnet, versetzt oder kommandiert waren (vgl § 1 Abs 2 Nr 1 BErzGG), hätten unter sonst gleichen Umständen keinen Anspruch auf Erzg.
Auch gegenüber den Familienangehörigen von nichtdeutschen Arbeitnehmern aus einem Mitgliedstaat der EG, die sich in Deutschland aufhalten, liegt keine unzulässige Diskriminierung vor. Das gilt auch, wenn man mit dem EuGH das Erzg als „Familienleistung” iS von Art 4 Abs 1 Buchst h der EWGV „über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern” vom 14. Juni 1971 (ABl L 149/2 – EWGV 1408/71) ansieht (vgl EuGH Urteil vom 12. Mai 1998, Rs C-85/96, SozR 3-7833 § 1 Nr 22 mwN, stRspr). Nach der Rechtsprechung des EuGH hat der Ehegatte eines Arbeitnehmers, der den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates unterliegt und mit seiner Familie in einem anderen Mitgliedstaat lebt, auf Grund von Art 73 der EWGV 1408/71 im Mitgliedstaat der Beschäftigung Anspruch auf eine Leistung wie das Erzg. Im Anschluss daran hat der Senat (SozR 3-7833 § 8 Nr 4) entschieden, dass die Ehefrau eines in Deutschland beschäftigten Angehörigen eines Mitgliedstaats auch dann Anspruch auf Erzg haben kann, wenn sie nicht in Deutschland, sondern in einem anderen Mitgliedstaat wohnt. Diese Urteile lassen sich aber nicht auf eine in der Türkei wohnende türkische Staatsangehörige übertragen, deren Ehegatte seinen gewöhnlichen Aufenthalt innerhalb der Europäischen Union (EU) hat. Denn die genannten Urteile sind auf Art 73 EWGV 1408/71 gestützt. Nach dieser Vorschrift hat ein Arbeitnehmer oder Selbstständiger, der den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegt … (grundsätzlich) … für seine Familienangehörigen, die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des ersten Staates, als ob diese Familienangehörigen im Gebiet dieses Staates wohnten. Diese Bestimmung gilt aber nicht im Verhältnis der Mitgliedstaaten der EU zur Türkei. Denn nach Art 18 des ARB 3/80 gilt „für den Erwerb des Leistungsanspruchs” (dh auf Familienleistungen und -beihilfen – vgl Überschrift zu Kapitel 6 des ARB 3/80) lediglich Art 72 EWGV 1408/71. Ansprüche auf Familienleistungen für Arbeitnehmer, deren Familienangehörige in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, sieht aber nur Art 73 EWGV 1408/71 vor. Die Geltung dieser Bestimmung kann auch nicht aus den von der Revision herangezogenen verschiedenen Diskriminierungsverboten des am 1. Januar 1973 in Kraft getretenen „Abkommens” bzw des „Zusatzprotokolls” und der dazu ergangenen ARB hergeleitet werden:
a) Art 9 des „Abkommens” hat folgenden Wortlaut: „Die Vertragsparteien erkennen an, dass für den Anwendungsbereich des Abkommens unbeschadet der besonderen Bestimmungen, die möglicherweise auf Grund von Art 8 noch erlassen werden, dem in Art 7 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft verankerten Grundsatz entsprechend, jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten ist.” Diese nunmehr auf Art 12 des EG-Vertrages zu beziehende Bestimmung ist nicht unmittelbar anwendbares Recht. Das hat der EuGH bereits im Urteil „Demirel” entschieden (Slg 1987, 3719, 3752 RdNr 16): Das „Abkommen” nenne allgemein die Ziele der Assoziierung und lege Leitlinien für die Verwirklichung dieser Ziele fest, ohne selbst genaue Regeln dafür aufzustellen, wie diese Verwirklichung zu erreichen sei. Nur in bestimmten Einzelbereichen träfen die beigefügten Protokolle, an deren Stelle das „Zusatzprotokoll” getreten sei, eingehende Regelungen (vgl Urteil „Demirel” des EuGH aaO RdNr 16).
Art 9 des Abkommens ist außerdem nach allgemeinen völkerrechtlichen Grundsätzen (Art 34 Nr 1 und Nr 2 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969; auch BSGE 66, 28, 31 ff mwN) im Lichte des Kontextes, insbesondere des Art 2 Abs 2 und 3 sowie des Art 4 auszulegen. Gemäß Art 4 Abs 1 des „Abkommens” gewährleisten die Vertragsparteien während der Übergangsphase auf Grund gegenseitiger und gegeneinander ausgewogener Verpflichtungen die schrittweise Errichtung einer Zollunion zwischen der Türkei und der Gemeinschaft sowie die Annäherung der türkischen Wirtschaftspolitik und derjenigen der Gemeinschaft, um das ordnungsgemäße Funktionieren der Assoziation und die Entwicklung des dazu erforderlichen gemeinsamen Handelns zu ermöglichen. Die Assoziation umfasst gemäß Art 2 Abs 3 des Abkommens eine Vorbereitungsphase, eine Übergangsphase und eine Endphase. Derzeit befindet sich die Assoziation in der Übergangsphase (vgl Art 1 des Zusatzprotokolls). Erst in der Endphase der Assoziation ist eine Zollunion und eine „verstärkte Koordinierung der Wirtschaftspolitiken der Vertragsparteien” vorgesehen (Art 5 „Abkommen”). Außerdem sieht Art 12 des „Abkommens” vor, dass sich die Vertragsparteien von den Artikeln 48, 49 und 50 des Vertrages („EG-Vertrag”) leiten lassen, „um untereinander die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schrittweise herzustellen”. In Art 36 des „Zusatzprotokolls” ist zwar bestimmt, dass die „Freizügigkeit” der Arbeitnehmer nach den Grundsätzen des Art 12 zwischen dem Ende des zwölften und dem Ende des zweiundzwanzigsten Jahres nach dem Inkrafttreten des genannten „Abkommens” – das wäre zwischen dem 31. Dezember 1976 und dem 31. Dezember 1986 – hergestellt wird. Eine vollständige Herstellung in dem Sinn, dass ein Anspruch auf Arbeitsaufnahme bzw Arbeitserlaubnis bereits unmittelbar mit der Einreise in einen Mitgliedstaat der EG entstünde, hat aber bisher nicht stattgefunden (vgl EuGH im Urteil „Demirel”, aaO, RdNr 23), sodass auch insoweit die Verwirklichung des „Abkommens” sich noch in der Übergangsphase befindet. Unter diesen Umständen kann Art 9 des „Abkommens” nicht die vollständige Gleichstellung auch außerhalb der EU wohnender türkischer Staatsangehöriger bewirken. Schließlich ist das „Abkommen” im Licht der Handhabung durch die Vertragsparteien auszulegen (vgl Art 31 Nr 3 des Wiener Übereinkommens). Die Regelungen des Art 39 „Zusatzprotokoll” und der ARB, insbesondere des ARB 3/80, wären weitgehend überflüssig, wenn bereits Art 9 des „Abkommens” die uneingeschränkte Geltung von EG-Vorschriften für außerhalb der EG lebende türkische Staatsangehörige bewirkte. Besonders die Vorschriften in Art 39 des „Zusatzprotokolls” iVm ARB 3/80, die nur ein eingeschränktes Diskriminierungsverbot vorsehen (s dazu unter Buchstaben b) und c) unten), wären unverständlich, wenn Art 9 des „Abkommens” in jeder Beziehung bereits als uneingeschränktes und direkt anwendbares Diskriminierungsverbot ausgelegt werden müsste.
Allerdings hat der Generalanwalt am EuGH, worauf sich die Revision auch bezieht, in seinen Schlussanträgen vom 17. Dezember 1998 in der Sache „Sürül” (vgl Slg 1999 S I-2726 ff, insbesondere 2729 ff) die Ansicht vertreten, Art 9 des „Abkommens” sei unmittelbar geltendes Recht. Dieser Auffassung ist der EuGH jedoch nicht gefolgt. Er hat im Urteil „Sürül” aaO unter RdNr 60 nur betont, dass die Bestimmungen eines von der Gemeinschaft mit Drittländern geschlossenen „Abkommens” unmittelbar anwendbar sind, wenn sie unter Berücksichtigung ihres Wortlauts und im Hinblick auf den Gegenstand und die Natur des „Abkommens” eine klare und eindeutige Verpflichtung enthalten, deren Wirkungen nicht vom Erlass eines weiteren Akts abhängen. Gerade das hat der EuGH aber – wie schon oben dargelegt – für Art 9 des „Abkommens” nicht angenommen.
Der Senat ist daher auch nicht verpflichtet, nach Art 101 des Grundgesetzes (GG) iVm (nunmehr) Art 234 EG-Vertrag die Rechtssache dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen. Nach Art 234 Abs 3 EG-Vertrag besteht eine Verpflichtung dazu, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht den ihm zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschreiten würde (Bundesverfassungsgericht ≪BVerfG≫, Urteil vom 31. Mai 1990, BVerfGE 82, 159, 194 ff). Das ist aber im Hinblick auf die bisherige Rechtsprechung des EuGH zu Art 9 des deutsch-türkischen Abkommens nicht der Fall.
b) Aus den in Art 39 des „Zusatzprotokolls” enthaltenen Regelungen ergibt sich kein für die Klägerin günstigeres Ergebnis. Der Artikel sieht den Erlass von „Bestimmungen auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit” vor, wie sie insbesondere im ARB 3/80 enthalten sind. Damit gemeint ist aber, wie aus Art 39 Abs 1 „Zusatzprotokoll” hervorgeht, der Erlass von Bestimmungen auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit nur für Arbeitnehmer türkischer Staatsangehörigkeit, „die von einem Mitgliedstaat in den anderen zu- oder abwandern, sowie für deren in der Gemeinschaft wohnende Familien”. Die außerhalb der Gemeinschaft verbliebenen Familienmitglieder sollten mithin nicht erfasst werden. Außerdem sieht auch Art 39 Abs 3 (nur) vor, dass „die genannten Bestimmungen … die Zahlungen der Familienzulagen für den Fall sicherstellen (müssen), dass die Familie des Arbeitnehmers in der Gemeinschaft wohnhaft ist”.
c) Auch dem ARB 3/80 ist keine Regelung zu entnehmen, nach der dem in der Türkei verbliebenen Ehegatten eines türkischen in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmers Erzg wie dem Staatsangehörigen eines EU-Staats zu gewähren wäre. Im Gegensatz zum ARB 1/80 ist der ARB 3/80 ausdrücklich auf Art 39 „Zusatzprotokoll” gestützt und befasst sich unmittelbar mit „der Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten der EG auf die türkischen Arbeitnehmer und auf deren Familienangehörige”.
Bereits der persönliche Geltungsbereich, wie er in Art 2 ARB 3/80 geregelt ist, stellt aber klar, dass der ARB 3/80 nur solche Familienangehörigen von Arbeitnehmern (für welche die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gelten oder galten) erfasst, die im Gebiet eines Mitgliedstaates „wohnen” (vgl dazu Art 1 ARB 3/80 iVm Art 1 Buchst h der EWGV 1408/71). Auch das Diskriminierungsverbot des Art 3 des ARB 3/80 selbst ist ausdrücklich auf „die Personen” beschränkt, „die im Gebiet eines Mitgliedstaates wohnen und für die dieser Beschluss gilt”.
Das zum ARB 3/80 ergangene Urteil „Sürül” des EuGH vom 4. Mai 1999 (Slg I 2743 ff) vermag das Klagebegehren ebenfalls nicht zu stützen. Die Entscheidung betrifft eine Person, die – anders als die Klägerin – unter den persönlichen Geltungsbereich des Art 2 ARB 3/80 fiel: In dem damals entschiedenen Fall wohnten das Kind und beide Elternteile in Deutschland.
d) Die Klägerin kann sich auch nicht mit Erfolg auf das in Art 37 des „Zusatzprotokolls” enthaltene Diskriminierungsverbot berufen. Diese Bestimmung erfasst nur „die in der Gemeinschaft beschäftigten Arbeitnehmer türkischer Staatsangehörigkeit”, nicht aber deren Familienangehörige, die außerhalb der Gemeinschaft leben, abgesehen davon, dass der sachliche Anwendungsbereich auf „Arbeitsbedingungen und Entgelt” beschränkt ist und die Vorschrift nicht Ansprüche auf Familienleistungen regelt.
e) Aus Art 39 Abs 2 des EG-Vertrages und Art 7 Abs 2 EWGV Nr 1612/68 vom 15. Oktober 1968 (EWGV 1612/68 – ABl Nr L 257/2) kann zugunsten der Klägerin schon deshalb nichts hergeleitet werden, weil diese Bestimmungen nicht für türkische Staatsangehörige gelten (vgl Art 1 EWGV Nr 1612/68). Auch in dem von der Revision angeführten Urteil des EuGH „Martinez Sala” (Slg 1998 I, 2691, insbesondere unter RdNr 26) findet das Klagebegehren daher keine Stütze.
f) Der ARB 1/80 ist entgegen der Auffassung der Klägerin hier nicht anwendbar. Kapitel 2 des Beschlusses enthält zwar nach seiner Überschrift „soziale Bestimmungen”. Es handelt sich aber nicht um Bestimmungen über soziale Sicherheit. Sie regeln für Arbeitnehmer, die dem regulären Arbeitsmarkt des Mitgliedstaats angehören (Art 6) und für deren Familienangehörige (Art 7), Einzelheiten über den freien Zugang zum Arbeitsmarkt innerhalb des Mitgliedstaates, in dem der betroffene Personenkreis bereits wohnt, und über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Mitgliedstaaten. Dabei werden bestimmte Rechte für diejenigen türkischen Arbeitnehmer verbrieft, die sich mehrere Jahre innerhalb der Gemeinschaft aufgehalten haben. Begünstigende Regelungen für den Fall, dass Familienangehörige in der Türkei verblieben sind, werden durch Kapitel 2 des ARB 1/80 dagegen nicht getroffen.
Im Lichte dieses Kontextes ist auch das in Art 10 ARB 1/80 vorgesehene Diskriminierungsverbot zu sehen. Abs 1 sieht vor, dass die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft den türkischen Arbeitnehmern, die ihrem regulären Arbeitsmarkt angehören, eine Regelung einräumen, die gegenüber den Arbeitnehmern aus der Gemeinschaft hinsichtlich des Arbeitsentgelts und der sonstigen Arbeitsbedingungen jede Diskriminierung auf Grund der Staatsangehörigkeit ausschließt. Dabei geht es aber um arbeitsrechtliche Bestimmungen (insbesondere betreffend die Lohnhöhe und die Arbeitsbedingungen) und die Vorschriften, die die Arbeitsämter verpflichten, türkische Staatsangehörige bei der Arbeitsplatzbeschaffung zu unterstützen und sie insoweit mit Angehörigen der EU-Staaten gleichzustellen. Auch hier werden aber Sozialleistungen, insbesondere Familienleistungen, nicht behandelt.
3. Der geltend gemachte Anspruch auf Erzg ist selbst dann nicht begründet, wenn die Behauptung der Klägerin zutreffen sollte, dass die zuständige Ausländerbehörde die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis rechtswidrig verzögert haben sollte. Hierfür fehlt es – wie der Senat bereits entschieden hat (vgl SozR 3-7833 § 1 Nr 18 S 93) – an einer entsprechenden gesetzlichen Regelung. Der geltend gemachte europarechtliche Schadensersatzanspruch (vgl EuGH 25. Juli 1991 – Rs C-208/90 Sammlung 1991 I 4269; Urteil vom 19. Januar 1991 – Rs C-6/90 und 9/90 Sammlung 1991 I 5357 = NJW 1992, 165 und Urteil vom 5. März 1996 – Rs C-46/93 und C-48/93 = NJW 1996, 1267) scheitert daran, dass es keine Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Verstoßes gegen Europarecht gibt. Auch die Voraussetzungen für einen „sozialrechtlichen Herstellungsanspruch” (vgl dazu BSG SozR 3-4100 § 249e Nr 4 S 37 mwN) sind nicht gegeben. Die Behörden der Arbeitsverwaltung und die Ausländerbehörden sind nicht – wie dies ein Herstellungsanspruch in einem Falle wie dem der Klägerin voraussetzen würde – arbeitsteilig in die Gewährung von Familienleistungen eingebunden. Darüber, ob der Klägerin wegen der angeblichen Verzögerungen bei der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis Amtshaftungsansprüche iS des § 839 Bürgerliches Gesetzbuch iVm Art 34 GG zustehen, hat der Senat nicht zu entscheiden. Diese Frage fällt in die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte (vgl BSG SozR 3-7833 § 1 Nr 18).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
FamRZ 2002, 1028 |
SGb 2002, 381 |
ZAR 2002, 245 |
SozSi 2003, 213 |