Verfahrensgang
Hessisches LSG (Urteil vom 16.02.1990) |
SG Marburg (Urteil vom 31.03.1987) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 16. Februar 1990 und das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 31. März 1987 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten um die Frage, ob der Kläger einen Zuzahlungsbetrag von DM 70,– zu einer stationären Heilbehandlung erbringen muß, und ob die Beklagte diese Forderung nur erheben darf, wenn bei Ausübung sachgerechten Ermessens ein Erlaß nach § 76 Abs 2 Nr 3 des Sozialgesetzbuchs – Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung – (SGB IV) nicht in Betracht kommt.
Der Kläger unterzog sich vom 9. Januar bis zum 8. Juli 1985 einer stationären Langzeit-Sucht-Rehabilitationsbehandlung wegen Alkoholabhängigkeit in der Psychosomatischen Klinik E …. Die Beklagte hatte auf seinen Antrag mit Bescheid vom 30. August 1985 die Kosten hierfür übernommen. Mit einem weiteren Bescheid vom selben Tag (abgesandt am 15. Oktober 1985) forderte sie gemäß § 1243 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) eine Zuzahlung von DM 70,–.
Nachdem er von der Beklagten bereits unter Androhung der Zwangsbeitreibung gemahnt worden war, legte der Kläger hiergegen am 18. Oktober 1985 Widerspruch ein, den er damit begründete, er lebe nach wie vor von Sozialhilfe und sei deshalb nicht in der Lage, die Zuzahlung zu leisten; eine entsprechende Bescheinigung fügte er bei. Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 20. Januar 1986 zurückgewiesen.
Im Rahmen des hiergegen gerichteten Klageverfahrens vor dem Sozialgericht Marburg (SG) gab der Kläger an, er habe bis etwa Juli 1986 im M … -M … -Haus (Übergangsheim einer Vereinigung zur Rehabilitation von Suchtkranken und Suchtgefährdeten, vgl Bl 41 Verwaltungsakte) gewohnt und einen Sozialhilfebetrag von DM 117,– bekommen, von dem DM 107,– an ihn ausgezahlt worden seien. Seit Juli 1986 wohne und arbeite er in K …; er verdiene zur Zeit zwischen DM 1.500,– und DM 1.900,– netto und habe aus der Zeit des Alkoholismus Schulden in Höhe von DM 15.000,–bis DM 16.000,–.
Das SG hob die angefochtenen Bescheide auf (Urteil vom 31. März 1987). Der Wortlaut der §§ 1243, 184 RVO spreche zwar grundsätzlich für die Auffassung der Beklagten. Diese sei aber gehalten gewesen, bereits bei Erhebung des Zuzahlungsanspruchs eine Ermessensprüfung darüber durchzuführen, ob die Zuzahlung im Rahmen des § 76 SGB IV noch zumutbar sei, oder ob beispielsweise ein Erlaß gemäß § 76 Abs 2 Nr 3 SGB IV in Betracht komme. Von diesem Ermessensspielraum habe sie aber keinen Gebrauch gemacht, so daß die Bescheide aufgehoben werden müßten.
Die vom SG zugelassene Berufung der Beklagten wies das Hessische Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 16. Februar 1990 zurück. In der Begründung folgte es weitgehend der Auffassung des SG. Es sei mit dem Grundsatz von Treu und Glauben nicht zu vereinbaren, wenn die Beklagte zunächst bindende Bescheide durchsetzen wolle, um dann gleichwohl auf ihren Anspruch zu verzichten. Die Frage der „besonderen Härte” sei – im Ergebnis wie im Falle des § 42 Abs 3 des Sozialgesetzbuchs – Allgemeiner Teil – (SGB I) – nicht erst beim Vollzug, sondern bereits bei der Erhebung des Anspruchs zu prüfen. Dies habe das Bundessozialgericht (BSG) bereits in seinem Urteil vom 15. Mai 1985 (5b/1 RJ 34/84) für den Fall der Rückzahlung einer Urteilsrente anerkannt.
Hiergegen hat die Beklagte am 18. Mai 1990 die vom LSG zugelassene Revision eingelegt, mit der sie eine Verletzung der §§ 1243 Abs 2 RVO und 76 Abs 2 SGB IV rügt. Der Versicherungsträger verletze entgegen der vom LSG geäußerten Ansicht nicht ein ihm eingeräumtes Ermessen, wenn er die Entscheidung über eine Stundung, Niederschlagung oder einen Erlaß erst nach Eintritt der Bindungswirkung des Zuzahlungsbescheides trifft. Denn § 76 SGB IV setze hier bereits tatbestandsmäßig einen schon festgestellten Zuzahlungsanspruch voraus. Die im Rahmen des § 76 SGB IV anzustellenden Ermessensabwägungen berührten nicht den Anspruch als solchen, sondern nur dessen Durchsetzbarkeit. Die Grundsätze, die das BSG im Fall der Rückforderung einer Urteilsrente für maßgeblich gehalten habe, seien hier nicht einschlägig, weil § 1243 Abs 2 RVO die dort maßgebliche Härteprüfung gerade ausschließe.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts sowie das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 31. März 1987 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger, dessen Aufenthalt unbekannt ist, hat keinen Antrag gestellt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist zulässig und begründet.
Insbesondere war die Berufung gegen das Urteil des SG – unabhängig von der dort ausgesprochenen Zulassung – schon kraft Gesetzes statthaft (§ 143 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫), weil es sich bei der im Streit stehenden Zuzahlung zu den Aufwendungen einer stationären Heilbehandlung weder um eine Erstattung iS des § 149 SGG noch um eine einmalige Leistung gemäß § 144 SGG handelt (BSG SozR 1500 § 149 Nrn 11 und 12).
Das LSG hat die Berufung der Beklagten gegen das erstinstanzliche Urteil zu Unrecht zurückgewiesen. Die Klage war abzuweisen, weil die Beklagte dem Kläger gegenüber zu Recht den Betrag von DM 70,– geltend gemacht hat.
Gegenstand des Rechtsstreits ist der Bescheid vom 30. August 1985 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Januar 1986, mit dem die Beklagte einen Zuzahlungsbetrag von DM 70,–festgesetzt hat. Rechtsgrundlage für einen entsprechenden Anspruch ist § 1243 Abs 2 RVO, hier anwendbar in der seit 1. Januar 1983 geltenden Fassung des Art 19 Nr 23 des Haushaltsbegleitgesetzes 1983 vom 20. Dezember 1982 (≪HBegleitG≫ BGBl I S 1857). Danach muß ein innerhalb der medizinischen Rehabilitation der Rentenversicherung Betreuter, der sich in einer stationären Heilbehandlung befindet, die der Krankenhauspflege vergleichbar ist oder sich an diese ergänzend anschließt, zu den Aufwendungen dieser Behandlung Zuzahlungen entsprechend dem (bis 31. Dezember 1988 geltenden) § 184 Abs 3 RVO erbringen. Gemäß § 184 Abs 3 Satz 1 RVO zahlt der Versicherte vom Beginn der Krankenhauspflege an innerhalb eines Kalenderjahres für längstens 14 Tage DM 5,– je Kalendertag an das Krankenhaus. Gläubiger dieses Zuzahlungsbetrages ist allerdings der Versicherungsträger, während das Krankenhaus bloß Zahlungsempfänger ist (Höfler, in: Kasseler Kommentar, § 39 SGB V Anm 52 f; Peters, Handbuch der Krankenversicherung, Stand: 31. Januar 1988, § 184 Anm 10a; vgl BSG SozR 2200 § 372 Anm 1). Demzufolge hat im vorliegenden Fall die Beklagte die Gläubigerposition inne (Niesel, in: Kasseler Komm, § 1243 Anm 12) und war befugt, den Bescheid vom 30. August 1985 bzw den Widerspruchsbescheid vom 20. Januar 1986 zu erlassen.
Die tatbestandlichen Voraussetzungen der §§ 1243 Abs 2, 184 Abs 3 RVO liegen hier vor. Der Kläger befand sich vom 9. Januar bis 8. Juli 1985 in einer stationären Heilbehandlung (Langzeit-Sucht-Rehabilitationsbehandlung). Diese war in der ersten Zeit auch der Krankenhauspflege vergleichbar, was zwischen den Beteiligten nicht umstritten ist. Das LSG hat insoweit zwar keine detaillierten Feststellungen getroffen, insbesondere nicht, ob bei der Behandlung des Klägers die ärztlichen Leistungen im Vordergrund standen (vgl die – nach dem angefochtenen Urteil – hierzu ergangenen Entscheidungen des 1. Senats vom 11. Dezember 1990, SozR 3 – 2200 § 1243 Nr 1, und des 4. Senats vom 29. Januar 1991, SozR 3 – 2200 § 1243 Nr 2). Die hier durchgeführte Maßnahme zur Alkoholentwöhnung stellt jedoch – zumindest für die Zeit der anfänglichen Entgiftungsphase – schon nach den Gesetzesmaterialien (Begründung Regierungsentwurf zum HBegleitG 1983, BT-Drucks 9/2074, S 101 – „Behandlung Abhängigkeitskranker” –) einen typischen Fall der krankenhausähnlichen Pflege dar.
Ein Ausschlußgrund gemäß § 184 Abs 3 Satz 2 RVO (Betreuter unter 18 Jahre, teilstationäre Krankenhauspflege) liegt nicht vor. Dem Kläger kommt auch keine sonstige Ausnahmeregel zugute; insbesondere kann er sich innerhalb des § 1243 RVO nicht auf einen Härtefall berufen. § 1243 Abs 5 RVO, wonach bei unzumutbaren Belastungen von der Zuzahlung abgesehen werden kann, bezieht sich ausdrücklich nur auf eine „Zahlung nach Abs 1”. Neben dem Wortlaut sprechen auch systematische Gesichtspunkte gegen eine Ausdehnung dieser Ausnahmevorschrift auf § 1243 Abs 2 RVO. Denn durch die Regelung des Abs 2 soll gerade eine Angleichung der krankenhausähnlichen Heilbehandlung der Rehabilitation an die Krankenhausbehandlung im Krankenversicherungsrecht erreicht werden (Regierungsentwurf, BT-Drucks 9/2074, S 101); auch § 184 RVO sieht aber keine Möglichkeit einer Befreiung bei besonderen Belastungen vor (ebenso: Niesel, in: Kasseler Kommentar, § 1243 Anm 10; Verbandskomm, § 1243 Anm 13; BSG Urteil vom 22. Februar 1989 – 8/5a RKn 23/87 – ≪nicht veröffentlicht≫ für die Parallelvorschrift des § 42 Reichsknappschaftsgesetz ≪RKG≫). Eine Analogiebildung zu sonstigen Härteregelungen im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung innerhalb § 184 RVO (etwa zu § 182a Satz 3, § 182c Abs 3, § 184a Abs 2 Satz 4 oder § 187 Abs 5 Satz 2 RVO aF) ist dabei nicht möglich, weil dies dem Willen des Gesetzgebers widersprechen würde, der nach den Materialien (Regierungsentwurf aa0, S 99) hier ausdrücklich keinen Anlaß für eine Härteregelung gesehen hat, so daß eine planwidrige Gesetzeslücke nicht vorliegt (ebenso BSG SozR 2200 § 184 Nr 32; LSG f.d.L. Nordrhein-Westfalen KVRS A-2500/33; Peters, Handbuch der Krankenversicherung, § 184 Anm 10a; vgl auch die diese Rechtslage aufrechterhaltende Vorschrift des § 39 Abs 4 SGB V und den entsprechenden GRG-Regierungsentwurf zu § 38 Abs 4 SGB V, BR-Drucks 200/88, S 178). Aus diesem Grund kommt auch eine entsprechende Anwendung des § 1243 Abs 4 RVO nicht in Betracht, zumal mit dieser Vorschrift lediglich sichergestellt werden soll, daß es im Falle der Zahlung begrenzten Übergangsgeldes nach § 1241b RVO nicht zu einer nochmaligen Belastung der Übergangsgeldempfänger infolge der Zuzahlung kommt (BSG Urteil vom 22. Februar 1989, 8/5a RKn 23/87 ≪nicht veröffentlicht≫).
§ 1243 Abs 2 RVO ist auch ohne Bestehen einer Härteklausel verfassungsgemäß; damit wird der Auffassung des 3. (hinsichtlich § 184 Abs 3 RVO) und des 8. Senats (hinsichtlich § 42 RKG) des BSG beigetreten (vgl BSG SozR 2200 § 184 Nr 32; nicht veröffentlichtes Urteil vom 22. Februar 1989). Eine gegen Art 3 Grundgesetz (GG) verstoßende Ungleichbehandlung kann nicht darin gesehen werden, daß in den Fällen des § 1243 Abs 1 RVO und des § 184a RVO aF eine Härteregelung besteht, nicht aber in den der §§ 1243 Abs 2 und 184 Abs 3 RVO. Beide Bereiche unterscheiden sich schon dadurch, daß in einem Fall eine der Zeitdauer nach nicht begrenzte Zuzahlungspflicht von täglich DM 10,– besteht,
im anderen aber nur eine solche von täglich DM 5,– für höchstens 14 Tage innerhalb eines Jahres. Der Umstand, daß die Zuzahlungspflicht nach § 184 Abs 3 RVO somit höchstens DM 70,–jährlich beträgt, konnte den Gesetzgeber bewegen (vgl Regierungsentwurf aa0, S 99), hier auf eine Härteregelung zu verzichten, weil diese in der Begrenzung auf einen vergleichsweise niedrigen Höchstbetrag schon immanent enthalten ist (so treffend das LSG f.d.L. Nordrhein-Westfalen aa0 S 123; ähnlich BSG 3. und 8. Senat aa0). Dennoch verbleibenden Härtefällen kann im Rahmen von § 76 SGB IV Rechnung getragen werden. Auch ein Verstoß gegen das Sozialstaatsprinzip gemäß Art 20 Abs 1 GG liegt nicht vor, selbst wenn – wie im vorliegenden Fall – Sozialhilfeempfänger von der Zuzahlungspflicht betroffen sind (BSG SozR 2200 § 184 Nr 32). Aus dem Sozialstaatsgebot und Art 1 Abs 1 GG folgt zwar, daß der Staat dem Bürger das Existenzminimum gewährleisten muß und ihm dieses nicht durch Erhebung von Abgaben (wieder) entziehen darf; dabei können als Bemessungsgrundlage für die Höhe des Existenzminimums die Regelsätze der Sozialhilfe zugrunde gelegt werden (BVerfGE 78, 104, 118; 82, 60, 85, 94). Ein Betreuter, der die Zuzahlung aus der ihm gewährten Sozialhilfe erbringen muß, schmälert damit sein Existenzminimum aber regelmäßig nicht, weil er durch die stationäre Unterbringung gleichzeitig Aufwendungen (insbesondere zur Ernährung) einspart, die er anderenfalls aus der zugeflossenen laufenden Hilfe zum Lebensunterhalt hätte bestreiten müssen; insoweit gilt für ihn nichts anderes als für denjenigen, der eigenes Einkommen erzielt oder sonstige Sozialleistungen erhält (vgl zum Einsparungsgedanken auch BSG SozR 2200 § 184 Nr 32; LSG f.d.L. Nordrhein-Westfalen, aa0, S 123). Es sind allerdings auch Fälle denkbar, in denen ein Einsparungseffekt tatsächlich nicht eintritt, beispielsweise dann, wenn die stationäre Maßnahme zu Beginn eines Monats einsetzt und der Sozialhilfeträger mit Rücksicht darauf die Zahlungen von Hilfe zum Lebensunterhalt rechtzeitig einstellt. Die Möglichkeit derartiger Fallgestaltungen kann aber nicht die gesamte Vorschrift verfassungswidrig machen, weil der Belastung eines solchen atypischerweise Betroffenen durch ein Eingreifen der Sonderregelung des § 76 Abs 2 SGB IV Rechnung getragen werden kann (zur Berücksichtigung eines Billigkeitserlasses bei der Verfassungsmäßigkeitsprüfung von typisierenden Normen vgl BVerfGE 16, 147, 177; 48, 102, 114 mwN).
Liegen somit die Voraussetzungen der §§ 1243 Abs 2, 184 Abs 3 RVO vor, war die Beklagte berechtigt, aber auch verpflichtet, den Zuzahlungsbetrag von DM 70,– (für 14 Tage stationären Aufenthalt) festzusetzen. Die Voraussetzungen sind zwingend geregelt. Ein Ermessen stand ihr deshalb nicht zu.
Daran ändert nichts, daß im Einzelfall möglicherweise eine Entscheidung nach § 76 Abs 2 SGB IV (Stundung, Erlaß) geboten ist, die im Ermessen der Behörde steht. Der Tatbestand und die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts über die Festsetzung der Zahlungsforderung ist streng von denen einer Maßnahme gemäß § 76 SGB IV zu unterscheiden. Mit der gebundenen Grundentscheidung wird festgelegt, was im konkreten Einzelfall auf der Grundlage der spezialgesetzlichen Regelung rechtens sein soll (Hauck/Haines Recht, SGB X/1,2 K § 31 Anm 6), hier also, daß die Beklagte gegen den Kläger einen Anspruch auf Zahlung des Zuzahlungsbetrages hat. Die Ermessensnorm des § 76 Abs 2 SGB IV betrifft dagegen den Vollzug des Verwaltungsaktes; sie ermöglicht eine Ausnahmeentscheidung darüber, ob von dem Grundsatz, daß Einnahmen rechtzeitig und vollständig zu erheben sind (§ 76 Abs 1 SGB IV), aus Billigkeitsgründen vorübergehend oder endgültig Abstand genommen wird. Eine Stundung, die die Fälligkeit eines Anspruchs hinausschiebt (Meydam, in: GK-SGB IV, § 76 Anm 5), und ein Erlaß, der den Anspruch zum Erlöschen bringt (Schroeter, in: GesKomm SGB-SozVers, § 76 Anm 5), setzt schon begriffsnotwendig voraus, daß vorher überhaupt ein entsprechender Anspruch entstanden ist. Die notwendige Unterscheidung zwischen Festsetzungs- und Stundungs-bzw Erlaßentscheidung wird besonders in den parallelen Vorschriften des allgemeinen Steuerrechts deutlich, das in § 227 Abs 1 Abgabenordnung ebenfalls einen Erlaß aus Billigkeitsgründen kennt, daneben aber in § 163 Abs 1 Abgabenordnung noch die Möglichkeit vorsieht, Billigkeitserwägungen schon bei der Steuerfestsetzung zu berücksichtigen.
Zu Unrecht berufen sich die Vorinstanzen zur Begründung ihrer abweichenden Ansicht auf die Rechtsprechung des BSG. Zwar hat das BSG in mehreren Entscheidungen (BSGE 57, 138 f, 144 = SozR 1300 § 50 Nr 6; BSG SozR 1500 § 154 Nr 8) ausgeführt, bei der Frage, ob eine zu Unrecht gewährte Urteilsrente vom Versicherungsträger zurückgefordert werden könne, sei das Vorliegen einer besonderen Härte bereits bei der Erhebung des Anspruchs und nicht erst beim Vollzug zu prüfen. Doch handelte es sich hierbei um Entscheidungen, die unter (zumindest sinngemäßer) Heranziehung des § 50 Abs 2 SGB X ergingen, bei der Abwägungen zum Vertrauensschutz vorzunehmen und ein speziell auch zur Vermeidung von Härten vorgesehenes Ermessen auszuüben war, bei denen die Grundgedanken der §§ 42 Abs 3 Nr 3 SGB I und 76 Abs 2 Nr 3 des Sozialgesetzbuchs – Verwaltungsverfahren -(SGB IV) als Gesichtspunkt im Rahmen einer Gesamtabwägung bedeutsam waren. Bei der Prüfung der §§ 1243 Abs 2, 184 Abs 3 RVO war jedoch weder eine derartige Abwägung anzustellen noch Ermessen auszuüben.
Dem LSG ist allerdings darin zuzustimmen, daß die Beklagte im vorliegenden Fall verpflichtet war (und weiterhin verpflichtet ist) zu prüfen, ob sie ihren Anspruch gegen den Kläger erläßt oder zumindest stundet. Wie das BSG wiederholt entschieden hat (2. Senat: BSGE 65, 133, 137 = SozR 2100 § 76 Nr 2; 3. Senat: unveröffentlichtes Urteil vom 26. Juni 1990 – 3 RK 31/88 –, S 7), gewährt § 76 Abs 2 Nr 3 SGB IV demjenigen, der einen Forderungserlaß beantragt hat, einen Anspruch auf Entscheidung hierüber. Dies muß auch für die Stundung gemäß § 76 Abs 2 Nr 1 SGB IV gelten, die – ebenso wie der Erlaß – auf einen entsprechenden Antrag des Schuldners durch Verwaltungsakt auszusprechen ist (Maier, in: Kasseler Kommentar, § 76 Anm 8; Meydam, in: GK, § 76 Anm 7; anders die Niederschlagung gemäß § 76 Abs 2 Nr 2 SGB IV, die eine rein verwaltungsinterne Maßnahme darstellt, Meydam, § 76 Anm 14). Dies trifft weiterhin auch zu, wenn – wie vorliegend – der zugrundeliegende Verwaltungsakt noch nicht bestandskräftig ist. Die Bestandskraft des Festsetzungsbescheides wird bei der Prüfung des § 76 Abs 2 SGB IV zwar teilweise – ohne nähere Begründung – vorausgesetzt (vgl BSG SozR 1500 § 154 Nr 8). Hierfür finden sich im Gesetz aber keine Anhaltspunkte. Für die Zulässigkeit einer entsprechenden Entscheidung vor dem rechtskräftigen Abschluß eines Rechtsstreits über den Festsetzungsbescheid spricht vielmehr, daß aus diesem Bescheid auch schon ab Wirksamwerden vollstreckt werden könnte, weil Widerspruch und Klage insoweit keine aufschiebende Wirkung haben, §§ 86 Abs 2, 97 Abs 1 SGG. Gerade für den Fall der „sofortigen Einziehung” trifft aber § 76 Abs 2 Nr 1 SGB IV eine Regelung.
In dem Widerspruch des Klägers vom 18. Oktober 1985 ist gleichzeitig ein Antrag auf Erlaß oder zumindest Stundung der Forderung zu sehen. Das Revisionsgericht kann hiervon trotz der Bindung des § 163 SGG ausgehen, weil es damit nicht den tatsächlichen Inhalt der Erklärung auslegt, sondern deren rechtliche Bedeutung würdigt (zum Unterschied BSG SozR 5070 § 10a Nr 3).
Bisher ist aber nur der Widerspruch beschieden worden; der Widerspruchsbescheid vom 20. Januar 1986 läßt eine Entscheidung gemäß § 76 Abs 2 SGB IV nicht erkennen. Dies führt jedoch nicht dazu, daß nunmehr auch der Festsetzungsbescheid rechtswidrig wird. Dem in der bisherigen Untätigkeit liegenden rechtswidrigen Verhalten der Beklagten kann der Kläger vielmehr durch Erhebung der Klage nach § 88 SGG begegnen. Einer gleichwohl von ihr eingeleiteten Zwangsvollstreckung kann uU die Einrede rechtsmißbräuchlichen Verhaltens, die – wie der Grundsatz von Treu und Glauben insgesamt – auch im Sozialrecht Anwendung findet (vgl BSGE 47, 194, 196 = SozR 2200 § 1399 Nr 11; 52, 63, 69 = SozR 4100 § 119 Nr 15; Urteil vom 8. Juni 1989 DBlR 3530a, AFG § 238), entgegengehalten werden.
Damit bleibt es dabei, daß sich die Prüfung gemäß § 76 Abs 2 SGB IV nicht auf die Rechtmäßigkeit des Feststellungsbescheides auswirkt, so daß die Revision zur Bestätigung der insoweit ergangenen Verwaltungsentscheidung führt.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 Abs 4 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1173093 |
BSGE, 301 |