Entscheidungsstichwort (Thema)
Schadensersatz wegen Betruges. Durchgriffshaftung gegen Vereinsvorsitzenden. Einarbeitungszuschuß
Leitsatz (amtlich)
Zum Schadensersatz wegen Betruges und zur Durchgriffshaftung gegen einen Vereinsvorsitzenden nach Gewährung von Einarbeitungszuschüssen durch die Bundesanstalt für Arbeit an den Verein.
Stand: 24. Oktober 2002
Normenkette
AFG § 49; BGB §§ 242, 823 Abs. 2; StGB § 263
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 29. August 1996 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Die Klägerin begehrt vom Beklagten die Zahlung von 72.931,42 DM nebst 4 % Zinsen ab Rechtshängigkeit der Klage.
Der Beklagte war der geschäftsführende Vorsitzende des „Fremdenverkehrsförderungs- Vereins N. … A. … e.V.” (Verein). Dieser wurde am 12. Juni 1987 in das Vereinsregister eingetragen. Der Vorstand bestand neben dem Beklagten als geschäftsführendem Vorsitzenden aus zwei weiteren Mitgliedern. Jedes Vorstandsmitglied war allein vertretungsberechtigt. Zweck des Vereins waren ua „die Förderung des Fremdenverkehrs in seiner Gesamtheit in Ostfriesland und die touristischen Belange seiner Mitglieder” (§ 3 der Satzung). Nach § 5 der Satzung verfolgte der Verein ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige Zwecke. Ordentliche Mitglieder hatten einen Monatsbeitrag von 6,00 DM zu entrichten.
Im Oktober 1987 beantragte der Beklagte im Namen des Vereins die Gewährung von Einarbeitungszuschüssen für die Arbeitnehmerin He. und den Arbeitnehmer Ha., die als Fremdenverkehrskauffrau bzw Fremdenverkehrskaufmann durch den Beklagten eingearbeitet werden sollten. In den Anträgen wurde das vereinbarte Bruttoarbeitsentgelt mit 3.650,00 DM bzw 4.425,00 DM angegeben. Das Arbeitsamt (ArbA) N. bewilligte für He. vom 1. Dezember 1987 bis 30. November 1988 einen monatlichen Einarbeitungszuschuß in Höhe von 70 vH von 3.650,00 DM = 2.555,00 DM (Bescheid vom 17. November 1987) und für Ha. vom 1. Januar bis 31. Dezember 1988 einen solchen in Höhe von 70 vH von 4.425,00 DM = 3.097,50 DM (Bescheid vom 25. November 1987).
Ende 1987 beantragte der Beklagte im Namen des Vereins die Gewährung von Einarbeitungszuschüssen auch für die Arbeitnehmerin J. sowie die Arbeitnehmer D. und W. Das vereinbarte Bruttoarbeitsentgelt wurde mit 2.348,00 DM, 3.673,00 DM bzw 4.424,69 DM angegeben. Das ArbA E. bewilligte für J. vom 1. Januar bis 31. Dezember 1988 einen monatlichen Einarbeitungszuschuß in Höhe von 70 vH von 2.348,00 DM = 1.643,60 DM (Bescheid vom 11. Januar 1988), für D. vom 1. Februar 1988 bis 31. Januar 1989 einen solchen in Höhe von 70 vH von 3.673,00 DM = 2.571,10 DM (Bescheid vom 25. Februar 1988) und für W. ebenfalls vom 1. Februar 1988 bis 31. Januar 1989 einen solchen in Höhe von 70 vH von 4.424,69 DM = 3.097,28 DM (Bescheid vom 26. Februar 1988).
Im April 1988 legte He. dem ArbA N. eine Gehaltsabrechnung für Januar 1988 vor, wonach sich ihr Gehalt (3.650,00 DM) aus einem Grundgehalt (1.621,00 DM), einer Aufwandsentschädigung (250,00 DM), „50 vH Ausbildungskosten” (1.179,00 DM) und einer Fahrkostenpauschale (600,00 DM) zusammensetzte. Hiervon wurden neben der Lohnsteuer (417,00 DM), der Kirchensteuer (37,60 DM), den Sozialversicherungsbeiträgen (288,36 DM) und anderen Posten (181,93 DM) weitere „50 vH Ausbildungskosten” (1.179,00 DM) abgezogen, so daß lediglich 1.546,11 DM zur Auszahlung gelangten. Die Belastung des Arbeitsentgelts mit den „Ausbildungskosten” war in einem Einarbeitungs- und Ausbildungsvertrag (vom 20. Oktober 1987) vereinbart worden. Im übrigen erklärte He., sie sei nicht entsprechend dem Einarbeitungsplan eingearbeitet worden. Ihr Arbeitsverhältnis endete am 15. Mai 1988.
Im Juli 1988 legte Ha. dem ArbA N. Gehaltsabrechnungen für die Monate Januar bis Mai 1988 vor. Danach setzte sich sein Gehalt für Januar 1988 (4.425,00 DM) aus einem Grundgehalt (1.484,75 DM), einem AZ-Zuschlag (1.000,00 DM), einem BZ-Zuschlag (1.340,25 DM) und einer Fahrkostenpauschale (600,00 DM) zusammen. Hiervon wurden neben Steuern (205,90 DM), Sozialversicherungsbeiträgen (261,77 DM) und anderen Posten (1.726,00 DM) „50 vH Ausbildungskosten” (1.340,25 DM) abgezogen, so daß (unter Gutschrift eines Betrages von 153,00 DM) lediglich 1.044,18 DM verblieben. Die Belastung des Arbeitsentgelts mit den „Ausbildungskosten” beruhte wiederum auf einem Einarbeitungs- und Ausbildungsvertrag (vom 3. März 1988). Bei den Gehaltsabrechnungen für die Monate Februar bis Mai 1988 war in vergleichbarer Weise verfahren worden. Im übrigen gab Ha. an, die Einarbeitung sei bei ihm ähnlich wie bei He. verlaufen. Sein Arbeitsverhältnis wurde zum 31. Juli 1988 beendet.
Das ArbA N. nahm – nach Anhörung – die Bewilligungsentscheidungen betreffend He. (ab 1. Dezember 1987) und Ha. (ab 1. Januar 1988) mit dem Hinweis zurück, den Arbeitnehmern sei nicht das tarifliche Arbeitsentgelt ausgezahlt worden. Auch seien sie nicht entsprechend den Einarbeitungsplänen eingearbeitet worden. Der Verein könne sich nicht auf Vertrauensschutz berufen, weil Arbeitsentgelt und Einarbeitung in den Anträgen grob fahrlässig unrichtig angegeben worden seien. Gleichzeitig wurden die gewährten Leistungen in Höhe von insgesamt 22.610,00 DM (He.: 4 × 2555,00 DM = 10.220,00 DM; Ha.: 4 × 3.097,50 DM = 12.390,00 DM) zurückgefordert (Bescheide vom 14. Oktober 1988; Widerspruchsbescheide vom 11. Mai 1989). Der Verein erhob gegen einen der Bescheide (betreffend He.) Klage, die vom Sozialgericht (SG) wegen Nichtvorlage einer Prozeßvollmacht (als unzulässig) abgewiesen wurde (Urteil vom 29. März 1990).
Die Ermittlungen des ArbA E. ergaben, daß bei den Gehaltsabrechnungen von J., D. und W. in ähnlicher Weise wie bei He. und Ha. vorgegangen worden war; das Arbeitsentgelt setzte sich aus Grundgehalt, Aufwandsentschädigung, „Ausbildungskosten” und Fahrkostenpauschale zusammen, wovon „50 vH Ausbildungskosten” abgezogen und (ebenfalls) zu niedrige Sozialversicherungsbeiträge abgeführt wurden. Das ArbA E. nahm – nach Anhörung – die Bewilligungsentscheidungen in bezug auf J. (ab 1. Januar 1988), D. (ab 1. Februar 1988) und W. (ebenfalls ab 1. Februar 1988) mit ähnlicher Begründung wie das ArbA N. zurück und machte die Erstattung von insgesamt 50.321,42 DM (J.: 9 × 1.643,60 DM = 14.792,40 DM; D.: 9 × 2.571,10 DM = 23.139,90 DM; W.: 4 × 3.097,28 DM = 12.389,12 DM) geltend (Bescheid vom 21. Juli 1989; Widerspruchsbescheid vom 2. November 1989). Hiergegen wurde Klage nicht erhoben.
Die Mitglieder des Vereins hatten am 29. September 1988 die Auflösung des Vereins beschlossen. Der restliche Kassenbestand von 176,50 DM wurde (gemäß § 7 der Satzung) an das Deutsche Rote Kreuz überwiesen. Zum Jahresschluß 1988 erfolgte der Austritt sämtlicher Mitglieder aus dem Verein. Am 4. April 1990 wurde das Erlöschen des Vereins durch Wegfall sämtlicher Mitglieder von Amts wegen in das Vereinsregister eingetragen.
Durch Beschluß vom 2. November 1990 wurde ein aufgrund Strafanzeige wegen Betruges eingeleitetes Strafverfahren gegen den Beklagten nach Zahlung eines Geldbetrages von 3.200,00 DM gemäß § 153a Strafprozeßordnung (StPO) endgültig eingestellt.
Nachdem die Arbeitsämter und E. vergeblich versucht hatten, vom Verein bzw Beklagten die verauslagten Eingliederungszuschüsse zurückzuerhalten, reichte die Klägerin am 8. Oktober 1993 beim Landgericht (LG) gegen den Beklagten Klage auf Schadensersatz in Höhe von insgesamt 72.931,42 DM nebst 4 % Zinsen ab Rechtshängigkeit der Klage ein (Zustellung am 20. November 1993). Das LG hat den Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an das SG verwiesen (Beschluß vom 18. März 1994).
Das SG hat den Beklagten antragsgemäß zur Zahlung von 72.931,42 DM nebst 4 % Zinsen ab Rechtshängigkeit der Klage verurteilt (Urteil vom 19. September 1995). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt (Urteil vom 29. August 1996): Die Verpflichtung des Beklagten zur Zahlung der geforderten 72.931,42 DM ergebe sich aus der sog Durchgriffshaftung. Die Bewilligungsbescheide über die für die fünf Arbeitnehmer gewährten Einarbeitungszuschüsse seien aufgrund der falschen Angaben des Vereins rechtswidrig. Der Verein selbst sei seit dem Tag des Auflösungsbeschlusses (29. September 1988) nicht mehr existent. Alle Aufhebungs- und Erstattungsbescheide seien später ergangen und deshalb nicht wirksam zugestellt worden. Etwaige deliktische Ansprüche aus § 823 Abs 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) iVm § 263 Strafgesetzbuch (StGB) und aus § 826 BGB seien gemäß § 852 Abs 1 BGB verjährt. Die Klägerin habe bereits 1988 vom Schaden und von der Person des Ersatzpflichtigen Kenntnis erlangt. Der Beklagte selbst habe durch die unerlaubte Handlung nichts erlangt, so daß auch eine Verpflichtung zur Herausgabe nach Bereicherungsrecht ausscheide (§ 852 Abs 3 BGB). Doch seien die Grundsätze der Durchgriffshaftung anwendbar. Allerdings beziehe sich die bisherige höchstrichterliche Rechtsprechung hierzu vornehmlich auf die Einmann-GmbH, weshalb eine Übertragung auf das Gebiet des öffentlichen Rechts nicht ohne weiteres möglich sei, zumal es vorliegend um einen gemeinnützigen Verein gehe und die Mitglieder keine unmittelbaren Vorteile erlangt hätten. Indes komme die Durchgriffshaftung ausnahmsweise auch dann zum Tragen, „wenn eine Berufung auf die Selbständigkeit der juristischen Person mit Treu und Glauben unvereinbar” sei, „insbesondere, weil die Rechtsfigur mißbraucht oder dem Zweck der Rechtsordnung zuwider verwendet worden ist” (BSGE 75, 82, 84 f = SozR 3-7685 § 13 Nr 1). So verhalte es sich hier. Der Beklagte habe die Rechtsfigur des Idealvereins vorsätzlich mißbraucht, um den Verein in den Genuß von Einarbeitungszuschüssen zu bringen. Er habe gewußt, daß sich der Einarbeitungszuschuß auf lediglich 70 vH des tariflichen Arbeitsentgelts belaufe und der Verein die restlichen 30 vH nicht aufbringen könne. Deshalb habe er Einarbeitungs- und Ausbildungsverträge abgeschlossen, wonach den zugewiesenen Arbeitnehmern Ausbildungskosten zur Last fielen. Darüber hinaus sei er sich bewußt gewesen, daß sich mögliche Erstattungsansprüche gegen den Verein nicht realisieren lassen würden. Schließlich habe die Klägerin den Erstattungsanspruch nicht durch Verwaltungsakt geltend zu machen brauchen. Das Rechtsschutzinteresse für die Klage sei gegeben, weil die Forderung jedenfalls dem Grunde nach umstritten und eine gerichtliche Auseinandersetzung zu erwarten gewesen sei.
Mit der Revision rügt der Beklagte eine Verletzung formellen und materiellen Rechts. Die Klage sei unzulässig. Es fehle am Rechtsschutzbedürfnis. Die Klägerin hätte etwaige Ansprüche durch Verwaltungsakt geltend machen müssen. In sachlicher Hinsicht sei die Durchgriffshaftung, die für die Einmann-GmbH entwickelt worden sei, vorliegend nicht anwendbar. Ein Mißbrauchstatbestand, der eine Anwendung rechtfertige, sei nicht erkennbar. Er, der Beklagte, sei davon ausgegangen, daß eine Verrechnung der Ausbildungskosten mit dem Arbeitsentgelt zulässig sei. Sämtliche Mittel seien nicht ihm, sondern dem Verein zugeflossen. Deshalb seien allenfalls die Vereinsmitglieder haftbar (BGHZ 54, 222). Im übrigen seien die Bewilligungsbescheide nicht wirksam aufgehoben worden. Es fehle an wirksamer Zustellung der Rücknahmebescheide. Damit sei ein öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch gegen den Verein nicht gegeben, weshalb auch eine Durchgriffshaftung gegen ihn, den Beklagten, ausscheide.
Der Beklagte beantragt,
die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die Ausführungen des LSG für zutreffend und erwidert, der Beklagte habe die Rechtsfigur des Idealvereins mißbraucht. Er habe gewußt, daß der sich abzeichnende Erstattungsanspruch gegen den Verein nicht durchsetzbar sei. Eine wirksame Rücknahme der Bewilligungsbescheide sei nicht Voraussetzung für die Durchgriffshaftung. Die Möglichkeit der Rücknahme müsse ausreichen, wenn eine Zustellung – wie hier – wegen Auflösung des Vereins ausscheide. Andernfalls könne sich der Vorstand durch vorzeitige Auflösung des Vereins der Haftung entziehen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Beklagten ist iS der Aufhebung der zweitinstanzlichen Entscheidung und der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).
Der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit ist gegeben. Der Beschluß des LG (vom 18. März 1994), durch den der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten für unzulässig erklärt und der Rechtsstreit an das (örtlich und sachlich zuständige) SG verwiesen wurde, ist hinsichtlich des Rechtsweges bindend (§ 17a Abs 2 Satz 3 Gerichtsverfassungsgesetz ≪GVG≫).
Von Amts wegen zu beachtende Verfahrenshindernisse, die einer Sachentscheidung entgegenstehen könnten, sind nicht ersichtlich. Die Berufung war zulässig, wobei offenbleiben kann, ob insoweit die Zivilprozeßordnung (ZPO) oder das SGG anzuwenden ist; sowohl nach dem einen als auch nach dem anderen Verfahrensgesetz wurde der für die Berufung maßgebliche Wert des Beschwerdegegenstandes überschritten (§ 511a Abs 1 Satz 1 ZPO; § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG). Auch die Klage ist zulässig. Insbesondere kann der Klägerin, soweit es um die öffentlich-rechtliche Durchgriffshaftung geht, nicht das Rechtsschutzbedürfnis für eine Leistungsklage abgesprochen werden; eine Behörde kann, wenn – wie hier – ohnehin mit einer gerichtlichen Auseinandersetzung zu rechnen ist und die Zulässigkeit eines Verwaltungsaktes Zweifel aufwerfen kann, freiwillig die für den Kläger schwächere Rolle wählen, dh sie braucht sich nicht des Verwaltungsaktes zu bedienen, sondern kann gegen den Schuldner im Wege der Leistungsklage vorgehen (vgl etwa BSG SozR 1300 § 50 Nr 17; BSGE 66, 176, 181 = SozR 3-4100 § 155 Nr 1; Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl 1993, vor § 51 Rz 17; Kopp, VwGO, 10. Aufl 1994, vor § 40 Rz 32a).
In der Sache reichen die tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht für die Beurteilung der Frage aus, ob der Klägerin gegen den Beklagten ein Anspruch auf Zahlung der geltend gemachten 72.931,42 DM nebst 4 % Zinsen ab Rechtshängigkeit der Klage, also ab 20. November 1993 (§§ 253, 261 ZPO), zusteht.
Als Anspruchsgrundlage für das Klagebegehren kommt, anders als das LG und die Vorinstanzen gemeint haben, vorrangig § 823 Abs 2 BGB iVm § 263 StGB in Betracht. Dafür spricht zunächst das ursprüngliche Klagebegehren. Die Klägerin hat schon mit der Klage vor dem LSG ausgeführt, der Beklagte sei ihr aufgrund rechtswidrigen und schuldhaften Verhaltens zum Schadensersatz in Höhe von 72.931,42 DM gemäß § 823 Abs 2 BGB iVm § 263 StGB (und weiteren Vorschriften) verpflichtet und es sei ein (zwischenzeitlich eingestelltes) Strafverfahren wegen Betruges gegen ihn eingeleitet worden; zugleich hat sie 4 % Zinsen ab Rechtshängigkeit der Klage gefordert. Damit hat sie unmißverständlich zum Ausdruck gebracht, daß sie ihr Klagebegehren primär unter dem Blickwinkel des § 823 Abs 2 BGB iVm § 263 StGB und des § 291 BGB geprüft sehen wolle. Vor allem kann die Klägerin nur mit Hilfe eines Schadensersatzanspruches aus unerlaubter Handlung ihr Zinsbegehren verwirklichen; über die öffentlich-rechtliche Durchgriffshaftung ist dies nicht möglich. Zum einen ist ein entsprechendes Zinsbegehren im öffentlichen Recht ohnedies nur schwer zu realisieren (vgl etwa BSGE 71, 72 = SozR 3-7610 § 291 Nr 1). Zum anderen geht es bei der Durchgriffshaftung um denselben Anspruch, der auch gegen die (ausgefallene) juristische Person besteht (BSGE 56, 76, 80 = SozR 7685 § 13 Nr 1). Ist aber gegen diese – wie hier gegen den Verein – ein Zinsanspruch nicht gegeben (vgl §§ 45, 48 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – ≪SGB X≫; § 44 Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil –), kann ein solcher wegen des Grundsatzes der Nachrangigkeit auch gegen den Durchgriffschuldner nicht bestehen.
Die Auffassung des LSG, etwaige deliktische Schadensersatzansprüche der Klägerin seien gemäß § 852 Abs 1 BGB verjährt (zur Unterbrechung der etwaigen Verjährung am 8. Oktober 1993: vgl §§ 253 Abs 1, 270 Abs 3 ZPO), weil die Arbeitsämter N. und E. bereits 1988 Kenntnis von dem entstandenen Schaden und der Person des Ersatzpflichtigen erlangt hätten, hält einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Zweifelhaft ist schon, ob die entsprechenden Ausführungen des LSG durch ausreichende Tatsachenfeststellungen belegt sind. Entscheidend für eine Kenntnis iS des § 852 Abs 1 BGB ist, daß der Geschädigte über einen Kenntnisstand verfügen muß, der ihn in die Lage versetzt, eine auf deliktische Anspruchsgrundlage gestützte Schadensersatzklage erfolgversprechend zu begründen. Auf den Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs 2 BGB iVm § 263 StGB bezogen, bedeutet das: Der Kläger muß ua vom Vorliegen des Betrugstatbestandes (§ 263 StGB) Kenntnis erlangt haben. Dafür genügt ein bloßer Verdacht ebensowenig wie ein Kennenkönnen oder Kennenmüssen; insbesondere kann vom Geschädigten nicht eine Überprüfung bzw Auswertung der Strafakten mit dem Ziel einer Feststellung der Vor-aussetzungen eines deliktischen Schadensersatzanspruches verlangt werden (BGH VersR 1986, 163; VersR 1990, 539; VersR 1995, 551; NJW 1996, 2933). Im übrigen kommt es für den Beginn der Verjährung nicht auf den Kenntnisstand irgendeiner Stelle des Leistungsträgers, sondern auf den der Bediensteten der für Regresse zuständigen Stelle des Leistungsträgers an (BGH VersR 1986, 917; VersR 1992, 627). Danach vermögen die bislang vom LSG getroffenen tatsächlichen Feststellungen nicht die Annahme der Verjährung gemäß § 852 Abs 1 BGB zu rechtfertigen. Der erkennende Senat kann die fehlenden Tatsachenfeststellungen, auch soweit sie das Vorliegen des Betrugstatbestandes betreffen, nicht selbst nachholen. Schon aus diesem Grund ist das zweitinstanzliche Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Sollte das LSG zu dem Ergebnis kommen, daß ein Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs 2 BGB iVm § 263 StGB gegeben und nicht verjährt ist, könnte sich in Zusammenhang mit der Frage des Schadensumfanges die Frage stellen, ob die für die zugewiesenen Arbeitnehmer entrichteten Beiträge zur Bundesanstalt für Arbeit (BA) geeignet sind, auf seiten der Klägerin zu einer Schadensminderung zu führen. Der erkennende Senat neigt der Auffassung zu, daß dies nicht der Fall ist. Aus seiner Sicht können die entsprechenden Beiträge die von der Klägerin erbrachten Leistungen schon deswegen nicht – auch nicht teilweise – ausgleichen, weil sie anwartschaftsbegründende Wirkung entfalten können (§ 104 Arbeitsförderungsgesetz ≪AFG≫). Sofern sich das LSG bei Fehlen entscheidungserheblicher Tatsachen vor die Frage gestellt sehen sollte, welche Verfahrensmaxime – Verhandlungsmaxime (§§ 128, 139 ZPO) oder Untersuchungsmaxime (§ 103 SGG) – zugrunde zu legen ist, könnte zu bedenken sein, daß der Unterschied in Fällen der vorliegenden Art nicht so grundlegend sein dürfte, zumal auch im Zivilverfahren eine Aufklärung durch das Gericht vorgesehen ist (vgl allgemein etwa Kissel, GVG, 1981, § 13 Rz 78).
Ob neben dem Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs 2 BGB iVm § 263 StGB weitere Ansprüche, etwa aus § 826 BGB, zu prüfen sind, dürfte vom Verlauf des zweitinstanzlichen Verfahrens abhängen. Es erscheint dem Senat untunlich (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG), schon im vorliegenden Zusammenhang hierauf einzugehen.
Ob die Voraussetzungen der öffentlich-rechtlichen Durchgriffshaftung vorliegend erfüllt sind, läßt sich aufgrund der bisherigen Tatsachenfeststellungen ebenfalls nicht beantworten.
Bei der – von der zivilgerichtlichen Rechtsprechung entwickelten – herkömmlichen Durchgriffshaftung lassen sich zwei Hauptanwendungsfälle unterscheiden, nämlich der der Unterkapitalisierung (BSGE 56, 76, 83 = SozR 7685 § 13 Nr 1; vgl aber auch BGHZ 68, 312, 316) und der der Vermögensvermischung (BGHZ 95, 330, 333 f; 125, 366, 368). Darüber hinaus wird eine Durchgriffshaftung, wie vom LSG zutreffend wiedergegeben, in Erwägung gezogen, „wenn eine Berufung auf die Selbständigkeit der juristischen Person mit Treu und Glauben unvereinbar” ist, „insbesondere, weil diese Rechtsfigur mißbraucht oder dem Zweck der Rechtsordnung zuwider verwendet worden ist” (BGHZ 22, 226, 230; 26, 31, 33 ff; 54, 222, 224; 61, 380, 383 f; BSGE 75, 82, 84 f = SozR 3-7685 § 13 Nr 1).
Der erkennende Senat hat die zivilrechtliche Durchgriffshaftung in einem Fall auf das Gebiet des öffentlichen Rechts übertragen, in dem ein GmbH-Gesellschafter für die Unterkapitalisierung seiner Gesellschaft und damit für die Nichtrealisierbarkeit eines Anspruchs der BA auf Rückzahlung von Eingliederungsbeihilfe (§ 54 AFG) verantwortlich war (BSGE 56, 76, 83 = SozR 7685 § 13 Nr 1). Ob an dieser Rechtsprechung festzuhalten ist, erscheint zweifelhaft. Bedenken ergeben sich – unabhängig von Abgrenzungsschwierigkeiten in der Sache – ua daraus, daß die Anwendung der Durchgriffshaftung auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts nicht von der Zufälligkeit abhängen kann, ob gegenüber der juristischen Person ein Aufhebungs- bzw Rücknahmebescheid ergangen ist und ob er bestandskräftig geworden ist oder nicht. Doch kann die Frage hier unbeantwortet bleiben. Der Verein, dessen geschäftsführender Vorsitzender der Beklagte war, war ein Idealverein (§ 21 BGB). Er bedurfte – anders als die GmbH (§ 5 Abs 1 des Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung) – nicht eines Mindeststammkapitals, weshalb nicht von einem Fall der Unterkapitalisierung die Rede sein kann.
Auch eine öffentlich-rechtliche Durchgriffshaftung unter dem Aspekt der Vermögensvermischung scheidet vorliegend aus. Nach den unangegriffenen und deshalb für den Senat bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) sind keinerlei Anhaltspunkte dafür erkennbar, daß die Abgrenzung zwischen Vereins- und Privatvermögen durch den Beklagten verschleiert worden wäre; eine persönliche Bereicherung des Beklagten ist vom LSG ausdrücklich verneint worden.
Damit bleibt die Frage der öffentlich-rechtlichen Durchgriffshaftung unter dem allgemeinen Gesichtspunkt von Treu und Glauben (§ 242 BGB). Insoweit ist zu beachten, daß die neuere zivilgerichtliche Rechtsprechung mehr und mehr dazu überzugehen scheint, Lösungsansätze in einer aus konzernrechtlichen Grundsätzen hergeleiteten Erstattungspflicht (aufgrund entsprechender Anwendung der §§ 302, 303 Aktiengesetz) zu suchen (BGHZ 115, 187, 192; 116, 37, 43; BGH NJW 1993, 1200; BAG NJW 1994, 3244; BAG NJW 1996, 1491; vgl auch BVerfG NJW 1993, 2600). Dies hat den 10. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) – in einem allerdings anders gelagerten Fall – zu der Äußerung veranlaßt, er sehe es nicht als Aufgabe des BSG an, einen „Grundtypus genuin öffentlich-rechtlicher Durchgriffshaftung wegen vorangegangenen Rechtsmißbrauchs” zu entwickeln (BSGE 75, 82, 86 = SozR 3-7685 § 13 Nr 1). Auch der erkennende Senat hält es für nicht tunlich, sich zu einem „System” der öffentlich-rechtlichen Durchgriffshaftung abschließend zu äußern. Einerseits kann die Klägerin ihr eigentliches Klagebegehren, wie dargelegt, nur über § 823 Abs 2 BGB iVm § 263 StGB verwirklichen. Andererseits kommt eine öffentlich-rechtliche Durchgriffshaftung, von der ohnehin nur „mit aller Vorsicht” Gebrauch zu machen ist (BSGE 56, 76, 82 = SozR 7685 § 13 Nr 1), in Fällen der vorliegenden Art nach Ansicht des Senats allenfalls im Fall einer Verwirklichung des Betrugstatbestandes (§ 263 StGB) in Betracht. Ob darüber hinaus noch weitere Voraussetzungen – insbesondere Vertrauensschutzgesichtspunkte (§§ 45 Abs 2 Satz 3, 48 Abs 1 Satz 2 SGB X) und die Wahrung von Fristen (§§ 45 Abs 4 Satz 2, 48 Abs 4 Satz 1 SGB X) – erfüllt sein müssen, bedarf keiner Entscheidung, solange nicht feststeht, daß der Betrugstatbestand (§ 263 StGB) verwirklicht ist.
Das LSG wird nach alldem die noch fehlenden Tatsachenfeststellungen zum Schadensersatzanspruch wegen Betruges (§ 823 Abs 2 BGB iVm § 263 StGB) sowie zur etwaigen Verjährung (§ 852 Abs 1 BGB) zu treffen haben. Des weiteren wird es bei seiner neuen Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen
Haufe-Index 1174563 |
AuA 1998, 360 |
NZS 1998, 346 |
SGb 1998, 491 |
SozR 3-7610 § 823, Nr.5 |
SozSi 1998, 280 |