Leitsatz (amtlich)
1. In der Revisionsinstanz kann die Schätzung des Grades der MdE (RVO § 559a ), soweit sie auf der Ausübung der freien richterlichen Beweiswürdigung beruht, nur daraufhin nachgeprüft werden, ob die gesetzlichen Grenzen für die Ausübung dieses Ermessens überschritten worden sind.
2. Es besteht kein Erfahrungssatz des Inhalts, daß die MdE durch Linsenverlust eines Auges im Normfall auf 15 % eingeschätzt werden müßte.
3. Für den Grad der MdE ist es ohne Bedeutung, ob ein linsenloses Auge im Falle eines Verlustes des anderen Auges noch als "Reserveauge" zur Verfügung stehen würde.
Leitsatz (redaktionell)
Die Schätzung des Grades der MdE durch eine Tatsacheninstanz beruht auf der Ausübung des Rechts, nach der freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen richterlichen Überzeugung zu entscheiden. Die Einschätzung der MdE ist nicht eigentlich Aufgabe des ärztlichen Sachverständigen, dessen Sachkunde sich in erster Linie darauf bezieht, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzen durch Schädigungsfolgen beeinträchtigt sind. Ärztliche Meinungsäußerungen darüber inwieweit sich derartige Beeinträchtigungen auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, sind zwar eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE, können aber keine bindende Wirkung haben. Für die Schätzung einer MdE ist ausschließlich maßgebend, in welchem Umfang der Verletzte in dem Zeitpunkt, für den die Schätzung vorgenommen wird, in seiner Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt ist. Die Einschätzung einer MdE darf nicht darauf abgestellt werden, von welchem Grad der MdE an ein Anspruch auf Rente besteht. Dieser Umstand ist jedoch insofern nicht völlig ohne Bedeutung, als er erkennen läßt, bei welchem Vomhundertsatz nach Auffassung des Gesetzgebers die Grenze liegt, unterhalb deren Beeinträchtigungen der körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit für die Erwerbsfähigkeit noch von untergeordneter Bedeutung sind.
Normenkette
SGG § 128 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03; RVO § 555 Fassung: 1939-02-17, § 559a Abs. 1 Fassung: 1939-02-17
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 8. März 1956 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger, der am ... 1935 geboren ist, erlitt am 22. November 1951 bei Arbeiten in der Schlosserei einer Berufsfachschule für das Baugewerbe einen Arbeitsunfall, der eine Verletzung des linken Auges zur Folge hatte.
Die Beklagte gewährte ihm zunächst durch Bescheid vom 2. Juli 1952 mit Wirkung vom 22. Dezember 1951 eine vorläufige Rente unter Zugrundelegung einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) von 25 v. H.
Im Frühjahr 1953 wurde das linke Auge des Klägers, an dem sich ein Wundstar gebildet hatte, operiert. Dabei wurde die Linse entfernt.
Mit Bescheid vom 23. Juli 1953 lehnte die Beklagte den Anspruch auf Gewährung einer Dauerrente für die Zeit nach der bis zum 11. März 1953 gewährten Heilanstaltspflege ab. Zur Begründung nahm sie auf ein augenfachärztliches Gutachten Bezug, in dem die MdE. mit 15 v. H. eingeschätzt und darauf hingewiesen wird, daß die Möglichkeit bestehe, durch Tragen einer Haftschale beidäugiges Sehen zu erreichen.
Gegen diesen Bescheid hat der Kläger beim Bezirksberufungsausschuß des Sozialversicherungsamts Berlin Beschwerde eingelegt. Sie ist nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Klage auf das Sozialgericht (SG.) Berlin übergegangen (§ 218 Abs. 5 SGG). Zur Begründung dieser Klage hat der Kläger vorgebracht: Eine Haftschale könne er nicht tragen, weil dabei Beschwerden aufträten; er leide an Heuschnupfen. Durch den Verlust der Linse sei er in seinem Fortkommen sehr behindert; die Absicht, sich zum Polizeidienst zu melden, habe er aufgeben müssen, und die betriebsärztliche Dienststelle der Firma ... sei der Auffassung, daß er für bestimmte Arbeiten, die plastisches und Präzisionssehen erfordern, sowie als Schleifer und Schweißer nicht einsatzfähig sei.
Während des Verfahrens vor dem SG. sind noch zwei ärztliche Gutachten erstattet worden. In dem einen wird die MdE. mit 20 v. H. eingeschätzt. Der Gutachter hält es für glaubhaft, daß der Kläger die Haftschale nicht längere Zeit tragen könne und weist darauf hin, daß das linsenlose Auge trotz der Unmöglichkeit, ein beidäugiges Sehen mit Hilfe eines Starglases zu erzielen, insofern nicht wertlos sei, als es auch ohne Starglas zur Erweiterung des Gesichtsfeldes beitrage und für den Fall eines Verlustes des anderen Auges als Reserveauge zur Verfügung stehe; als Besonderheit ist nach Meinung dieses Gutachters zu berücksichtigen, daß das verletzte Auge in Auswärtsstellung steht. Der andere Gutachter ist der Auffassung, daß bei komplikationsloser Linsenlosigkeit die Gewährung einer Rente von 20 v. H. nicht gerechtfertigt sei. Das leichte Auswärtsschielen hat nach seiner Auffassung den Vorteil, daß dadurch das Gesichtsfeld nach außen erweitert werde.
Das SG. Berlin hat durch Urteil vom 12. Februar 1955 den Bescheid der Beklagten vom 23. Juli 1953 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 12. März 1953 eine Dauerrente unter Berechnung einer MdE. vom 20 v. H. zu zahlen.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Berufung beim Landessozialgericht (LSG.) Berlin eingelegt.
Das LSG. hat ein weiteres augenfachärztliches Gutachten eingeholt. Dieser Gutachter vertritt unter Bezugnahme darauf, daß der völlige Verlust eines Auges in der Regel mit 25 v. H. bewertet werde, die Auffassung, das durch die Linsenlosigkeit eines Auges verursachte Fehlen des beidäugigen Sehens könne, wenn beide Augen gutes Sehvermögen haben, unmöglich höher als mit 15 v. H. bewertet werden. Er führt an: Bei jedem Schielen sei beidäugiges Einfachsehen bzw. räumliches Sehen unmöglich; das linsenlose Auge nehme durch Ausnützung seines Gesichtsfeldes am Sehakt teil und sei bei Ausfall des gesunden Auges als Reserveauge heranzuziehen und voll sehtüchtig.
Das LSG. hat durch Urteil vom 8. März 1956 die Berufung gegen das Urteil des SG. Berlin vom 12. Februar 1955 zurückgewiesen. Die Revision hat es zugelassen.
Gegen dieses Urteil, das beiden Beteiligten am 9. April 1956 zugestellt worden ist, hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 3. Mai 1956 (beim Bundessozialgericht eingegangen am 5. Mai 1956) Revision eingelegt und diese in demselben Schriftsatz begründet.
Sie beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des LSG. Berlin und des SG. Berlin die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist zugelassen (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) und in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG).
Sie ist jedoch unbegründet.
Die Revision rügt ausdrücklich eine Verletzung des § 559 a Abs. 1 und 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Wie sich aus der Begründung dieser Rüge ergibt, will sie jedoch nicht rügen, das LSG. habe diese Vorschriften und insbesondere den Begriff der "Minderung der Erwerbsfähigkeit" rechtlich unrichtig ausgelegt und angewendet. Das Urteil läßt auch keinen solchen Rechtsirrtum erkennen (vgl. hierzu BSG. 1 S. 174 (178)).
Die Revision beanstandet lediglich, daß das LSG. in Übereinstimmung mit dem SG. die MdE. des Klägers auf 20 v. H. eingeschätzt hat. Die Schätzung des Grades der MdE. durch eine Tatsacheninstanz beruht auf der Ausübung des Rechts, nach der freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen richterlichen Überzeugung zu entscheiden (§ 128 SGG). Soweit die tatsächlichen Grundlagen, von denen die Schätzung ausgeht, von der Revision nicht mit zulässigen und begründeten Rügen angegriffen werden (vgl. § 163 SGG) kann eine solche Schätzung in der Revisionsinstanz nur daraufhin nachgeprüft werden, ob die gesetzlichen Grenzen für die Ausübung des richterlichen Ermessens überschritten worden sind (vgl. für § 287 der Zivilprozeßordnung (ZPO): Stein-Jonas-Schönke-Pohle, ZPO, 18. Aufl., Anm. III 4 zu § 287; Baumbach-Lauterbach, ZPO, 24. Aufl., Anm. 3 A zu § 287). Die Schätzung selbst kann das Revisionsgericht dagegen nicht durch eine eigene Schätzung ersetzen.
Die Revision will offenbar die Richtigkeit der Ausführungen des LSG. über die Auswirkungen der Linsenlosigkeit des Auges nicht bestreiten (vgl. hierzu auch Noeske in BG 1956 S. 523). Sie wendet ein, diese Ausführungen seien deshalb nicht geeignet, eine Einschätzung der MdE. des Klägers auf 20 v. H. zu rechtfertigen, weil diese Erkenntnisse auch schon bei der bisherigen Übung, die MdE. in solchen Fällen mit 15 v. H. zu bemessen, berücksichtigt worden seien. Weiterhin verweist die Revision auf die Rechtsübung des früheren Reichsversicherungsamts (RVA.) und auf die nach Meinung der Revision herrschende ärztliche Auffassung.
Die durch Folgen eines Unfalls verursachte MdE. ist in jedem Einzelfall unter Berücksichtigung der Fähigkeiten und Kenntnisse des Verletzten und etwaiger Besonderheiten des Falles festzustellen, so daß es schon aus diesem Grunde insoweit weder allgemein gültige Erfahrungssätze noch ein durch Rechtsübung entstandenes Gewohnheitsrecht geben kann, wonach die MdE. durch Linsenverlust eines Auges im Normalfall auf 15 v. H. eingeschätzt werden müßte. Auch ist die Einschätzung der MdE. nicht eigentlich Aufgabe des ärztlichen Sachverständigen, dessen Sachkunde sich in erster Linie darauf bezieht, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch Unfallfolgen beeinträchtigt sind. Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit sich derartige Beeinträchtigungen auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, sind zwar eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE., können aber keine bindende Wirkung haben (vgl. AN. 1902 S. 178; 1905 S. 413; BSG 2 S. 127; BSG. in KOV. 1955 Heft 11 Rechtspr. Nr. 251).
Das LSG. hat die abweichende Übung des RVA., das in der Unfallversicherung als Rekursgericht, d. h. als Tatsacheninstanz, zu entscheiden hatte, und die für eine Einschätzung der MdE. durch den Linsenverlust eines Auges mit 15. v. H. eintretenden ärztlichen Ansichten keineswegs übergangen, sondern ebenso ausdrücklich berücksichtigt wie den Umstand, daß das linsenlose Auge für den Umfang des Gesichtsfeldes von Bedeutung und der Kläger infolgedessen günstiger gestellt ist als ein Verletzter, der ein Auge völlig verloren hat. Das LSG. hat auch ausdrücklich erwogen, daß ein linsenloses Auge im Falle des Verlustes des anderen Auges eine wertvolle "Reserve" bilden würde. Es hat jedoch diesen Umstand mit Recht unberücksichtigt gelassen; denn für die Schätzung einer MdE. ist ausschließlich maßgebend, in welchem Umfang der Verletzte in dem Zeitpunkt, für den die Schätzung vorgenommen wird, in seiner Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt ist. Das lassen auch die Augenfachärzte unberücksichtigt, die in ihren Meinungsäußerungen über die Höhe der durch einseitige Linsenlosigkeit bedingten MdE. auf den Wert des linsenlosen Auges als "Reserveauge" hinweisen.
Nach den bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG. (vgl. § 163 SGG) ist der Kläger nicht in der Lage, ein Haftglas zu tragen. Das LSG. hat deshalb auch die Möglichkeit, auf diese Weise u. U. ein beidäugiges Sehen zu erzielen, mit Recht außer Betracht gelassen.
Andererseits ist es auch nicht als fehlerhaft anzusehen, daß das LSG. bei der Schätzung der MdE. die hohen Anforderungen mitberücksichtigt hat, die in zahlreichen Berufen an die Sehleistungen gestellt werden.
Der von der Revision beanstandete vergleichende Hinweis auf die für die Entschädigung nach dem Bundesversorgungsgesetz maßgebenden Vomhundertsätze rechtfertigt nicht die Schlußfolgerung, daß die Schätzung der MdE. auf unrichtigen oder sogar unsachlichen Erwägungen beruhe.
Die Revision weist allerdings mit Recht darauf hin, daß die Einschätzung einer MdE. nicht darauf abgestellt werden darf, von welchem Grad der MdE. an ein Anspruch auf Rente besteht. Dieser Umstand ist jedoch insofern nicht völlig ohne Bedeutung, als er erkennen läßt, bei welchem Vomhundertsatz nach Auffassung des Gesetzgebers die Grenze liegt, unterhalb deren Beeinträchtigungen der körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit für die Erwerbsfähigkeit nur noch von untergeordneter Bedeutung sind. Die Ausführungen im Urteil des LSG. lassen nicht den Schluß zu, daß diese Grenzziehung vom LSG. in unberechtigtem Umfang berücksichtigt worden wäre.
Da auch sonst ein Rechtsirrtum nicht ersichtlich ist, war die Revision der Beklagten gegen das Urteil des LSG. zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen