Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. häusliche Krankenpflege. nicht ausgebildete Pflegeperson. Angehöriger. Pflegebereitschaft. Leistungsausschluß. Verfassungsmäßigkeit. keine Bindung an ärztliche Verordnung. Vereinbarung mit Leistungserbringern zur Vermeidung von Doppelleistungen
Leitsatz (amtlich)
1. Dem Anspruch auf häusliche Krankenpflege steht nicht entgegen, daß es sich um Maßnahmen handelt, die auch von nicht ausgebildeten Pflegepersonen durchgeführt werden können.
2. Der Anspruch auf häusliche Krankenpflege entfällt nicht schon dann, wenn im Haushalt lebende Angehörige die erforderlichen Maßnahmen durchführen könnten, sondern erst dann, wenn sie dazu im Einverständnis mit dem zu Pflegenden auch bereit sind.
Stand: 26. Juni 2000
Orientierungssatz
1. Im Hinblick auf die Intensität des Eingriffs zahlreicher pflegerischer Maßnahmen in Intimbereiche läßt Art 1 Abs 1 S 1 GG ein Einverständnis auf beiden Seiten, also die aktive wie auch die passive Pflegebereitschaft, als unverzichtbar erscheinen. Nur mit dieser Einschränkung wird die Vorschrift auch der verfassungsrechtlichen Vorgabe des Art 3 GG gerecht.
2. Eine Krankenkasse ist wegen des Zustimmungsvorbehalts in § 27 Abs 3 BMV-Ä nicht an die ärztliche Verordnung von häuslicher Krankenpflege gebunden; sofern sie die ärztlich verordneten Maßnahmen aus medizinischen Gründen nicht für erforderlich hält und nicht über eigene Sachkompetenz für die Beurteilung dieser Frage verfügt, hat sie eine gutachterliche Stellungnahme des Medizinischen Dienstes einzuholen.
3. Soweit ein Anspruch auf häusliche Krankenpflege mit einem Anspruch auf Leistungen der häuslichen Pflege aus der sozialen Pflegeversicherung zusammentrifft, bleibt es den Krankenkassen unbenommen, durch Vereinbarungen nach § 132a Abs 2 SGB 5 mit Leistungserbringern Doppelleistungen und durch Datenabgleiche Mißbräuche zu vermeiden.
Beteiligte
AOK Westfalen-Lippe - Die Gesundheitskasse |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 23. März 1999 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger begehrt Leistungen der häuslichen Krankenpflege.
Der 1909 geborene Kläger ist bei der Beklagten krankenversichert. Er ist schwerpflegebedürftig und erhält von der sozialen Pflegeversicherung Pflegesachleistungen und Pflegegeld (sog Kombinationsleistung) nach Pflegestufe II. Soweit die Pflege nicht durch den Pflegedienst erfolgt, wird der Kläger durch seine im selben Haus, aber in einer separaten Wohnung lebende Tochter gepflegt, die auch noch ihre pflegebedürftige Mutter versorgt. Die Tochter hat zunächst auch Insulininjektionen verabreicht. Der Hausarzt des Klägers verordnete für die Zeit vom 1. Oktober bis 31. Dezember 1997 wegen diverser Krankheiten häusliche Krankenpflege in der Form von einmal täglichen Salbeneinreibungen im Genitalbereich, Insulininjektionen sowie Blutzucker- und Blutdruckkontrollen. Die Beklagte lehnte die Gewährung der verordneten Maßnahmen mit Bescheid vom 23. Oktober 1997 ab, weil der Einsatz von geschultem Krankenpflegepersonal nicht erforderlich sei. Es handele sich um Leistungen der Grundpflege, für die eine Kostenübernahme bzw -beteiligung nicht erfolgen könne. Der Kläger machte hiergegen geltend, seine Tochter könne die benötigten Leistungen nicht mehr erbringen; das Verhältnis zu ihr sei angespannt. Die Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 25. Februar 1998 zurück. Die verordneten Leistungen wurden durch den Pflegedienst erbracht und dem Kläger in Rechnung gestellt; die Begleichung der Rechnung steht noch aus.
Das Sozialgericht (SG) hob mit Urteil vom 30. Oktober 1998 die angefochtenen Bescheide auf und gab der Klage statt. Die hiergegen von der Beklagten eingelegte Berufung wurde vom Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 23. März 1999 zurückgewiesen. Das LSG hat sich der Auffassung des SG, daß es sich um Maßnahmen der Behandlungspflege handele, angeschlossen und zur Begründung weiterhin ausgeführt, der Anspruch des Klägers auf Behandlungspflege als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung nach § 37 Abs 2 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) werde nicht dadurch ausgeschlossen, daß er gleichzeitig Leistungen nach der Pflegestufe II aus der Pflegeversicherung erhalte. Wegen des gegliederten Sozialversicherungssystems sei es unvermeidlich, bei einem einheitlich erscheinenden Lebenssachverhalt danach zu differenzieren, ob es um Behandlungs- oder Grundpflege gehe. Die gesetzlich vorgesehenen Ansprüche der Versicherten könnten nicht wegen bei der Vergütung der Pflegeleistungen auftretender Probleme ausgeschlossen werden. § 37 Abs 3 SGB V sei als Ausnahmevorschrift eng auszulegen und setze eine wohnungsmäßige familienhafte Wirtschaftsführung im Verhältnis zwischen dem Versicherten und der für die Pflege heranzuziehenden Person voraus. Hieran fehle es im Verhältnis des Klägers zu seiner Tochter.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung von § 13 Abs 3 SGB V . Der vom Kläger geltend gemachte Kostenerstattungsanspruch bestehe nicht. Das Bundessozialgericht (BSG) habe wiederholt entschieden, daß dem Versicherten tatsächlich Kosten in einer bezifferten Höhe entstanden sein müßten, um einen Kostenerstattungsanspruch geltend machen zu können. Das sei hier nicht der Fall. Ein möglicherweise bestehender Kostenfreistellungsanspruch des Klägers gegenüber einem Pflegedienst reiche nicht aus, um den Tatbestand des § 13 Abs 3 SGB V zu erfüllen. Daneben rügt die Beklagte hilfsweise eine Verletzung von § 37 Abs 2 und 3 SGB V . Das LSG habe es außerdem verfahrensfehlerhaft versäumt, die Erforderlichkeit der vom Kläger begehrten Maßnahmen der Behandlungspflege zu überprüfen. Es könne nicht offenbleiben, ob der Versicherte zumindest bestimmte Maßnahmen der Behandlungspflege ganz oder teilweise selbst vornehmen könne, etwa die Salbeneinreibungen im Intimbereich und die Blutdruckmessung; die im Pflegegutachten festgestellten gesundheitlichen Einschränkungen stünden dem nicht entgegen. Soweit der Kläger sich weigere, seine Tochter tätig werden zu lassen, verstoße er gegen die Verpflichtung zur zumutbaren familiären Eigenhilfe. In jedem Fall müsse jedoch der Ausschlußtatbestand des § 37 Abs 3 SGB V herangezogen werden. Hierbei könne nicht darauf abgestellt werden, daß die Tochter des Klägers nicht in dessen Haushalt lebe. Nach ihrem Sinn und Zweck stelle die Vorschrift nur darauf ab, daß die Leistung durch Personen erbracht werden könne, die dem Versicherten nahestehen und in seinem Umfeld leben.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 23. März 1999 und des Sozialgerichts Detmold vom 30. Oktober 1998 zu ändern und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 23. März 1999 zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
I
Der Kläger begehrt Leistungen der häuslichen Krankenpflege.
Der 1909 geborene Kläger ist bei der Beklagten krankenversichert. Er ist schwerpflegebedürftig und erhält von der sozialen Pflegeversicherung Pflegesachleistungen und Pflegegeld (sog Kombinationsleistung) nach Pflegestufe II. Soweit die Pflege nicht durch den Pflegedienst erfolgt, wird der Kläger durch seine im selben Haus, aber in einer separaten Wohnung lebende Tochter gepflegt, die auch noch ihre pflegebedürftige Mutter versorgt. Die Tochter hat zunächst auch Insulininjektionen verabreicht. Der Hausarzt des Klägers verordnete für die Zeit vom 1. Oktober bis 31. Dezember 1997 wegen diverser Krankheiten häusliche Krankenpflege in der Form von einmal täglichen Salbeneinreibungen im Genitalbereich, Insulininjektionen sowie Blutzucker- und Blutdruckkontrollen. Die Beklagte lehnte die Gewährung der verordneten Maßnahmen mit Bescheid vom 23. Oktober 1997 ab, weil der Einsatz von geschultem Krankenpflegepersonal nicht erforderlich sei. Es handele sich um Leistungen der Grundpflege, für die eine Kostenübernahme bzw -beteiligung nicht erfolgen könne. Der Kläger machte hiergegen geltend, seine Tochter könne die benötigten Leistungen nicht mehr erbringen; das Verhältnis zu ihr sei angespannt. Die Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 25. Februar 1998 zurück. Die verordneten Leistungen wurden durch den Pflegedienst erbracht und dem Kläger in Rechnung gestellt; die Begleichung der Rechnung steht noch aus.
Das Sozialgericht (SG) hob mit Urteil vom 30. Oktober 1998 die angefochtenen Bescheide auf und gab der Klage statt. Die hiergegen von der Beklagten eingelegte Berufung wurde vom Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 23. März 1999 zurückgewiesen. Das LSG hat sich der Auffassung des SG, daß es sich um Maßnahmen der Behandlungspflege handele, angeschlossen und zur Begründung weiterhin ausgeführt, der Anspruch des Klägers auf Behandlungspflege als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung nach § 37 Abs 2 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) werde nicht dadurch ausgeschlossen, daß er gleichzeitig Leistungen nach der Pflegestufe II aus der Pflegeversicherung erhalte. Wegen des gegliederten Sozialversicherungssystems sei es unvermeidlich, bei einem einheitlich erscheinenden Lebenssachverhalt danach zu differenzieren, ob es um Behandlungs- oder Grundpflege gehe. Die gesetzlich vorgesehenen Ansprüche der Versicherten könnten nicht wegen bei der Vergütung der Pflegeleistungen auftretender Probleme ausgeschlossen werden. § 37 Abs 3 SGB V sei als Ausnahmevorschrift eng auszulegen und setze eine wohnungsmäßige familienhafte Wirtschaftsführung im Verhältnis zwischen dem Versicherten und der für die Pflege heranzuziehenden Person voraus. Hieran fehle es im Verhältnis des Klägers zu seiner Tochter.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung von § 13 Abs 3 SGB V. Der vom Kläger geltend gemachte Kostenerstattungsanspruch bestehe nicht. Das Bundessozialgericht (BSG) habe wiederholt entschieden, daß dem Versicherten tatsächlich Kosten in einer bezifferten Höhe entstanden sein müßten, um einen Kostenerstattungsanspruch geltend machen zu können. Das sei hier nicht der Fall. Ein möglicherweise bestehender Kostenfreistellungsanspruch des Klägers gegenüber einem Pflegedienst reiche nicht aus, um den Tatbestand des § 13 Abs 3 SGB V zu erfüllen. Daneben rügt die Beklagte hilfsweise eine Verletzung von § 37 Abs 2 und 3 SGB V. Das LSG habe es außerdem verfahrensfehlerhaft versäumt, die Erforderlichkeit der vom Kläger begehrten Maßnahmen der Behandlungspflege zu überprüfen. Es könne nicht offenbleiben, ob der Versicherte zumindest bestimmte Maßnahmen der Behandlungspflege ganz oder teilweise selbst vornehmen könne, etwa die Salbeneinreibungen im Intimbereich und die Blutdruckmessung; die im Pflegegutachten festgestellten gesundheitlichen Einschränkungen stünden dem nicht entgegen. Soweit der Kläger sich weigere, seine Tochter tätig werden zu lassen, verstoße er gegen die Verpflichtung zur zumutbaren familiären Eigenhilfe. In jedem Fall müsse jedoch der Ausschlußtatbestand des § 37 Abs 3 SGB V herangezogen werden. Hierbei könne nicht darauf abgestellt werden, daß die Tochter des Klägers nicht in dessen Haushalt lebe. Nach ihrem Sinn und Zweck stelle die Vorschrift nur darauf ab, daß die Leistung durch Personen erbracht werden könne, die dem Versicherten nahestehen und in seinem Umfeld leben.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 23. März 1999 und des Sozialgerichts Detmold vom 30. Oktober 1998 zu ändern und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 23. März 1999 zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einverstanden erklärt.
II
Die Revision der Beklagten ist unbegründet und war zurückzuweisen.
1. Dem Kläger steht gemäß § 37 Abs 2 Satz 1 SGB V ein Anspruch auf Gewährung von Behandlungspflege als Sachleistung der gesetzlichen Krankenversicherung zu. Im Hinblick auf die von ihm in der Vergangenheit in Anspruch genommenen Dienste ist die Beklagte gemäß § 13 Abs 3 SGB V verpflichtet, ihn von der Vergütungspflicht gegenüber dem ambulanten Pflegedienst freizustellen, der in Kenntnis der Tatsache, daß die Beklagte die Gewährung von häuslicher Krankenpflege als Sachleistung abgelehnt hatte, die Maßnahmen erbracht und die Vergütung gestundet hat. § 13 Abs 3 SGB V umfaßt neben dem dort ausdrücklich geregelten Kostenerstattungsanspruch als dessen Vorstufe einen Anspruch auf Freistellung von einer Verbindlichkeit, die bei rechtzeitiger Leistungsgewährung als Sachleistung von der Krankenkasse hätte getragen werden müssen (vgl auch BSG, Urteil vom 10. Februar 2000 - B 3 KR 26/99 R - zur Veröffentlichung vorgesehen; anders BSG SozR 3-2500 § 39 Nr 5 für den Fall, daß Versicherter und Leistungserbringer gemeinsam von einer Sachleistungserbringung ausgegangen sind); wobei die Leistungspflicht der Beklagten nur die notwendigen Kosten der ärztlich verordneten Behandlungspflege umfaßt. Hierdurch wird die Höhe der Vergütung auf die Sätze begrenzt, die die Beklagte mit geeigneten Pflegepersonen, Einrichtungen oder Unternehmen nach § 132 SGB V vereinbart hat, die sie für Leistungen der Behandlungspflege üblicherweise in Anspruch nimmt. Die Beklagte geht zu Unrecht davon aus, daß auch in einem solchen Fall die Zulässigkeit der Klage einen bezifferten Zahlungsantrag voraussetzt. Der Senat hat dies im Urteil vom 28. Januar 1999 (B 3 KR 4/98 R = BSGE 83, 254, 263 = SozR 3-2500 § 37 Nr 1) nur im Hinblick auf den Fall der nachträglichen Kostenerstattung verlangt, der hier nicht vorliegt.
2. Die Beklagte hat es zu Unrecht abgelehnt, die begehrten Sachleistungen zu erbringen, so daß der Kläger gezwungen war, sich diese selbst zu beschaffen. Nach § 37 Abs 2 Satz 1 SGB V erhalten Versicherte in ihrem Haushalt oder ihrer Familie als häusliche Krankenpflege Behandlungspflege, wenn sie zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung erforderlich ist (sog Behandlungssicherungspflege, vgl hierzu BSGE 83, 254, 261, aaO). Der Anspruch des Klägers auf Gewährung häuslicher Krankenpflege ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil er zugleich Leistungen bei häuslicher Pflege aus der sozialen Pflegeversicherung erhält. Das Verhältnis des Anspruchs aus § 37 Abs 2 Satz 1 SGB V zu Ansprüchen aus den §§ 36 ff Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) ist in § 13 Abs 2 und § 34 Abs 2 Satz 1 SGB XI geregelt. Nach § 13 Abs 2 SGB XI bleiben die Leistungen der häuslichen Krankenpflege nach § 37 SGB V beim Bezug von Leistungen der Pflegeversicherung unberührt; nach § 34 Abs 2 Satz 1 SGB XI kann es nur zu einem Ruhen des Anspruchs aus der sozialen Pflegeversicherung kommen, wenn im Rahmen des Anspruchs auf häusliche Krankenpflege auch Anspruch auf Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung besteht. Letzteres kommt allerdings nur bei der sog Krankenhausvermeidungspflege (§ 37 Abs 1 SGB V) in Betracht; bei der hier betroffenen Behandlungssicherungspflege (§ 37 Abs 2 Satz 1 SGB V) sind Leistungen der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung nach dem Eintritt des Versicherungsfalls der Pflegebedürftigkeit nicht zulässig.
3. Bei den vom Kläger in Anspruch genommenen Maßnahmen, nämlich Salbeneinreibung, Insulininjektionen, Blutzuckerkontrolle und Blutdruckmessung, handelt es sich – wie die Vorinstanzen zutreffend erkannt haben – um Behandlungspflege iS des § 37 Abs 2 Satz 1 SGB V. Zwar ist der Inhalt des Begriffs Behandlungspflege im Gesetz nicht definiert; seine Grenzen sind, wie der Senat im Hinblick auf die Abgrenzung zu den Leistungen der Pflegeversicherung deutlich gemacht hat (BSGE 82, 27, 32 = SozR 3-3300 § 14 Nr 2) auch in der Pflegewissenschaft umstritten. Dies bedarf im Hinblick auf die hier streitigen Maßnahmen jedoch keiner weiteren Erörterung, da sie zum unbestrittenen Kernbereich der Behandlungspflege zählen. Die Subsumtion einer nicht vom Arzt zu erbringenden Maßnahme der Krankenbehandlung unter den Begriff Behandlungspflege hängt nicht davon ab, ob sie ausschließlich von fachlich geschulten Pflegekräften oder auch von Laien erbracht werden kann. Die Beklagte hat die Ablehnung ihrer Leistungspflicht zunächst, wie zahlreiche Krankenkassen bundesweit auch, damit begründet, das BSG habe mit Urteil vom 17. April 1996 (3 RK 28/95 = SozR 3-2500 § 53 Nr 10) zwischen der einfachen Behandlungspflege, die keine Fachkunde voraussetze und der Behandlungspflege durch fachlich qualifizierte Krankenpflegekräfte unterschieden und die einfache Behandlungspflege den Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit (§§ 53 ff SGB V aF) zugeordnet. Hieraus folge, daß die gesetzliche Krankenversicherung im Rahmen von § 37 Abs 2 Satz 1 SGB V nur für Maßnahmen der qualifizierten Behandlungspflege zuständig sei. Eine derartige Schlußfolgerung läßt das erwähnte Urteil des erkennenden Senats nicht zu. Es stellt im Gegenteil klar, daß Behandlungspflege „nicht nur” als Leistung der Krankenversicherung in Betracht kommt, sondern in bestimmten Fällen auch als Pflegebedarf iS der seinerzeit anzuwendenden Vorschriften über Leistungen der Krankenversicherung bei Schwerpflegebedürftigkeit zu berücksichtigen war. Eine Zuordnung allein zur Krankenversicherung sei nur geboten, wenn die Behandlungspflege ausschließlich von fachlich qualifizierten Krankenpflegekräften zu erbringen sei. Hierin kam somit keineswegs ein Ausschluß sog einfacher Behandlungspflege aus der Leistungspflicht der Krankenversicherung im Rahmen des § 37 Abs 2 Satz 1 SGB V zum Ausdruck. Das Gegenteil ist der Fall. Auch nach geltendem Recht ist Behandlungspflege in jeder Form den Leistungen der Krankenversicherung zuzuordnen; nur ausnahmsweise, beim notwendigen Zusammentreffen mit einer Maßnahme der Grundpflege ist sie auch beim Pflegebedarf in der Pflegeversicherung zu berücksichtigen. Es kann deshalb offenbleiben, ob eine Unterscheidung zwischen einfacher und qualifizierter Behandlungspflege überhaupt durchführbar wäre. Im Schrifttum ist als Reaktion auf das Urteil des Senats vom 17. April 1996 deutlich gemacht worden, daß in der Praxis selbst komplizierteste Maßnahmen der Behandlungspflege nach entsprechender Anleitung von Laien durchgeführt werden, insbesondere wenn die Pflege von Familienangehörigen vorgenommen wird (vgl Vogel/Schaaf, SGb 1997, 560, 568).
4. Weil die häusliche Pflege vom behandelnden Arzt verordnet worden ist, hat dieser deutlich gemacht, daß er sie zur Sicherung des Behandlungserfolges bei verschiedenen spezifischen Erkrankungen für erforderlich hielt. Dies steht der Rüge der Beklagten entgegen, das LSG habe zu Unrecht nicht geprüft, ob einzelne Maßnahmen (Salbeneinreibung, Blutdruckmessung) vom Kläger selbst hätten durchgeführt werden können. Werden bestimmte Maßnahmen der Behandlungspflege vom Arzt verordnet, so besteht für eine gerichtliche Prüfung nur dann Anlaß, wenn Zweifel auf der Hand liegen oder die Erforderlichkeit bereits im Verwaltungsverfahren angezweifelt worden ist. Die Krankenkasse ist nämlich an eine ärztliche Verordnung häuslicher Krankenpflege nicht ohne weiteres gebunden. § 27 Abs 3 Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä) sieht ausdrücklich vor, daß bei der häuslichen Krankenpflege für die Leistungserbringung neben der vertragsärztlichen Verordnung noch die Zustimmung der Krankenkasse erforderlich ist. Sofern die verordnete Leistung nicht oder nicht in vollem Umfang gewährt wird, hat die Krankenkasse den behandelnden Vertragsarzt von ihrer Entscheidung zu unterrichten (§ 27 Abs 3 Satz 2 BMV-Ä). Hält die Krankenkasse einzelne vom Arzt verordnete Maßnahmen der Behandlungspflege aus medizinischen Gründen nicht für erforderlich, etwa weil sie, wie hier, die Vornahme bestimmter Maßnahmen durch den Versicherten selbst für möglich und zumutbar hält, so hat sie hierüber im Regelfall gemäß § 275 Abs 1 Nr 1 SGB V in Ermangelung einer eigenen Sachkompetenz in medizinischen Fragen eine gutachtliche Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung einzuholen. Zweifel daran, daß der Kläger nicht in der Lage war, die Salbeneinreibungen und Blutdruckmessungen selbst vorzunehmen, lagen und liegen angesichts des hohen Alters und der Vielzahl der behandlungsbedürftigen Erkrankungen nicht auf der Hand. Vorliegend hat auch die Beklagte im Verwaltungsverfahren die Gewährung der Behandlungspflege allein mit dem Hinweis abgelehnt, daß sie für einfache Behandlungspflege nicht einzutreten habe und im übrigen die Tochter als Pflegeperson zur Verfügung stehe. Unter diesen Umständen bestand für die Vorinstanzen keine Veranlassung, der nachträglich und nicht näher substantiierten Behauptung nachzugehen, der Kläger benötige überhaupt keine Hilfe durch Dritte.
5. Dem Anspruch des Klägers steht auch der Ausschlußtatbestand in § 37 Abs 3 SGB V nicht entgegen. Danach besteht der Anspruch auf häusliche Krankenpflege nur, soweit eine im Haushalt lebende Person den Kranken in dem erforderlichen Umfang nicht pflegen und versorgen kann. Die Beklagte geht zu Recht davon aus, daß es sich hierbei um eine konkrete Ausgestaltung des Vorrangs der Eigenhilfe vor der Inanspruchnahme von Hilfe durch die Solidargemeinschaft der Krankenversicherten handelt. Das Gesetz knüpft hierbei an familienrechtliche Fürsorge- und Unterhaltspflichten sowie an sittliche Beistandspflichten unter zusammenlebenden Haushaltsangehörigen außerhalb des Familienverbundes im engeren Sinne an. Der Senat hat eine Inpflichtnahme von Angehörigen im Bereich der Pflegeversicherung als verfassungsgemäß angesehen (BSGE 84, 1, 7 = SozR 3-3300 § 77 Nr 1), soweit es sich darum handelte, ob tatsächlich erbrachte Pflegeleistungen durch Angehörige von einer Vergütung, wie sie professionelle Pflegekräfte erhalten, ausgeschlossen werden dürfen, so daß nur das geringere Pflegegeld in Anspruch genommen werden kann. Entgegen der Regelung in § 37 Abs 3 SGB V fehlt es hier jedoch schon an einer im Haushalt des Versicherten lebenden Person, die die Pflege durchführen kann. Unter Haushalt ist nach allgemeinem Sprachgebrauch die häusliche, wohnungsmäßige, familienhafte Wirtschaftsführung zu verstehen (vgl Mengert in: Peters, Handbuch der Krankenversicherung, § 37 RdNr 57). Die Tochter des Klägers lebt zwar im selben Haus wie der Kläger, dort aber in einem eigenen Haushalt. Hieran ändert auch die Tatsache nichts, daß sie für ihre Eltern in deren Wohnung das Essen zubereitet.
Das LSG hat zu Recht entschieden, daß § 37 Abs 3 SGB V als Ausnahmevorschrift nicht über ihren Wortlaut hinaus zu Lasten des Klägers weit ausgelegt werden kann. Soweit die Beklagte geltend macht, das BSG habe bereits im Urteil vom 14. Juli 1977 (3 RK 60/75 = BSGE 44, 139 = USK 77100) die Subsidiarität des Anspruchs auf häusliche Krankenpflege allgemein aus familienrechtlichen Unterstützungspflichten abgeleitet, verkennt sie, daß in der seinerzeit maßgeblichen Vorschrift (§ 185 Reichsversicherungsordnung) der hier diskutierte Ausschlußtatbestand der Angehörigenpflege noch nicht enthalten war. Der Gesetzgeber hat den von der Rechtsprechung entwickelten Subsidiaritätsgedanken aufgegriffen und zugleich auf die im Wortlaut der Vorschrift festgelegten Voraussetzungen beschränkt. Dies schließt einen Rückgriff auf die allgemeine familienrechtliche Solidarpflicht zum Zwecke der Ausweitung der in § 37 Abs 3 SGB V enthaltenen Ausnahmeregelung aus. Vorschriften des SGB sind im Zweifel dahin auszulegen, daß die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden (§ 2 Abs 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch). Das bedeutet in diesem Zusammenhang, daß die Sicherung des ärztlichen Behandlungsziels den Ausschlag gibt, nicht aber die Entlastung der Solidargemeinschaft durch die kostenlose oder kostengünstige Hilfe Dritter. Deshalb ist § 37 Abs 3 SGB V sogar hinter seinem Wortlaut zurückbleibend dahingehend auszulegen, daß der Leistungsausschluß nicht schon dann eingreift, wenn die Hilfe durch Haushaltsangehörige geleistet werden könnte, sondern erst dann, wenn tatsächlich auch Hilfe geleistet wird. Ein Leistungsausschluß besteht nur, wenn sowohl der zu Pflegende bereit ist, sich von dem Angehörigen pflegen zu lassen, als auch der pflegende Angehörige mit der Durchführung der Pflege einverstanden ist. Im Hinblick auf die Intensität des Eingriffs zahlreicher pflegerischer Maßnahmen in Intimbereiche läßt Art 1 Abs 1 Satz 1 Grundgesetz (GG) ein Einverständnis auf beiden Seiten, also die aktive wie auch die passive Pflegebereitschaft, als unverzichtbar erscheinen. Nur mit dieser Einschränkung wird die Vorschrift auch der verfassungsrechtlichen Vorgabe des Art 3 GG gerecht. Andernfalls enthielte die Regelung nämlich eine Differenzierung zwischen alleinlebenden Pflegebedürftigen, denen ohne weiteres Behandlungspflege zu gewähren wäre, und Pflegebedürftigen mit nicht zur Pflege bereiten Angehörigen, die auch bei zwingender medizinischer Erforderlichkeit ohne pflegerische Versorgung bleiben müßten. Denn selbst bei Bestehen einer unterhaltsrechtlichen Verpflichtung des Angehörigen zur Pflege hätte der Pflegebedürftige keine rechtlichen Zwangsmittel, dies gegenüber einem böswilligen Angehörigen durchzusetzen (vgl § 888 Abs 2 Zivilprozeßordnung); jedenfalls wäre eine zwangsweise Durchsetzung faktisch nicht geeignet, eine sachgerechte Pflege zu erreichen. Ein genereller Ausschluß von häuslicher Krankenpflege, nur weil Haushaltsangehörige vorhanden sind, würde für den Fall, daß Pflege durch diese nicht geleistet wird, eine sachlich nicht gerechtfertigte Benachteiligung gegenüber alleinstehenden Pflegebedürftigen bedeuten.
Dies gilt allerdings dann nicht, wenn der Versicherte sich ohne nachvollziehbaren Grund weigert, Maßnahmen der Behandlungspflege von ehrenamtlichen Pflegepersonen in Anspruch zu nehmen, insbesondere solchen, die ihn ohnehin zur Sicherstellung der Pflege als Voraussetzung für den Anspruch auf Pflegegeld aus der Pflegeversicherung versorgen, und es sich um einfache Maßnahmen ohne Berührung der Intimsphäre handelt, wie es etwa bei der Medikamentengabe regelmäßig der Fall sein dürfte. Dasselbe gilt, wenn ein kollusives Zusammenwirken von Pflegebedürftigen und Haushaltsangehörigen angenommen werden muß, wenn etwa beide sich ohne nachvollziehbare Gründe weigern, Pflegemaßnahmen vornehmen zu lassen bzw durchzuführen, die zuvor ohne weiteres erbracht worden sind. Ein solcher Mißbrauch ist aber im vorliegenden Fall nicht zu erkennen. Die Weigerung der Tochter, die auch noch ihre pflegebedürftige Mutter versorgen muß und sich durch den Einsatz eines Pflegedienstes bereits entlasten mußte, die Salbeneinreibungen im Intimbereich des Vaters vorzunehmen und im Hinblick auf zunehmende Umgangsschwierigkeiten mit dem Kläger weiterhin Insulininjektionen zu verabreichen, ist nachvollziehbar.
6. Das LSG hat schließlich zutreffend entschieden, daß das gesetzlich geregelte Verhältnis der Leistungen aus der Pflege- und der Krankenversicherung nicht zu Lasten des Versicherten durch Vereinbarungen der Krankenkassen mit Leistungserbringern nach § 132a Abs 2 SGB V bzw den §§ 72, 77 SGB XI auf der Grundlage entsprechender Empfehlungen der Spitzenverbände der Krankenkassen mit den Verbänden der Leistungserbringer nach § 132a Abs 1 SGB V bzw § 75 Abs 5 SGB XI eingeschränkt werden kann. Den Krankenkassen bleibt es unbenommen, zur Vermeidung von Doppelleistungen mit den Leistungserbringern entsprechende Vereinbarungen zu treffen. Diese können jedoch nur darauf abzielen, daß ein und dieselbe Hilfeleistung nicht sowohl auf Kosten des einen wie des anderen Versicherungszweigs geleistet wird. Zu einer doppelten Inanspruchnahme von Leistungen kann es etwa bei Maßnahmen der verrichtungsbezogenen Behandlungspflege kommen. Um in diesem Bereich Mißbräuche zu vermeiden, können die nach § 46 Abs 1 SGB XI verbundenen Pflege- und Krankenkassen Datenabgleiche vornehmen; das SGB XI schränkt zu diesem Zweck in § 96 ausdrücklich den Datenschutz ein. Es besteht deshalb keine Notwendigkeit, zur Vermeidung mißbräuchlicher doppelter Inanspruchnahme von Leistungen im Gesetz vorgesehene Ansprüche der Versicherten einzuschränken.
Das von der Beklagten erwähnte Beispiel der doppelten Berechnung der Einsatzpauschale betrifft dagegen ausschließlich die Ausgestaltung des zwischen ihr und den Leistungserbringern bestehenden Vergütungssystems. Es ist kein Grund ersichtlich, der einer Koordinierung der Vergütungsvereinbarungen für Leistungen der häuslichen Krankenpflege nach § 37 SGB V einerseits und für Pflegesachleistungen nach § 36 SGB XI andererseits entgegensteht, um sachlich nicht gerechtfertigte Vergütungen in Fällen auszuschließen, in denen Pflegebedürftige durch denselben Pflegedienst und bei demselben Einsatz Leistungen aus beiden Bereichen beziehen. Daß ein Pflegedienst in derartigen Fällen etwa Fahrtkosten nicht zweimal geltend machen kann, versteht sich von selbst. Dies ist allerdings kein Grund, Maßnahmen der Behandlungspflege, die von einem Pflegedienst als Sachleistung erbracht werden, auch wenn dies im zeitlichen, sachlich aber nicht notwendigen Zusammenhang mit Verrichtungen aus dem Katalog des § 14 Abs 4 SGB XI geschieht, als Leistungen der Krankenversicherung nach § 37 SGB V zu verweigern.
7. Nur de lege ferenda wäre zu erwägen, zur Entlastung der Solidargemeinschaft die Bereitschaft von Angehörigen und anderen nicht erwerbsmäßig tätigen Pflegepersonen zur Vornahme von Behandlungspflege dadurch zu fördern, daß sie beim Pflegegeld der Pflegeversicherung bedarfserhöhend berücksichtigt oder durch ein eigenständiges krankenversicherungsrechtliches Pflegegeld abgegolten wird.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen
BSGE, 101 |
FEVS 2000, 533 |
NZS 2001, 89 |
GesPol 2002, 67 |
PflR 2000, 218 |
KVuSR 2001, 46 |
SozSi 2001, 322 |