Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeldanspruch bei Verhinderung der Aufnahme einer Ausbildung aus politischen Gründen. Anrechnung eigener Einkommen
Leitsatz (amtlich)
1. Kindergeldrechtlich sind die Kinder, die in den in § 2 Abs 5 S 3 BKGG genannten Staaten wohnen, auch zu berücksichtigen, wenn sie aus politischen Gründen an der Aufnahme oder Fortsetzung einer Berufsausbildung gehindert werden.
2. Zur Einschränkung der Leistungspflicht bei eigenem Einkommen solcher Kinder.
Normenkette
BKGG § 2 Abs 4 S 1 Nr 1; BKGG § 2 Abs 4 S 2; BKGG § 2 Abs 5 S 3
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 13.01.1989; Aktenzeichen L 6 Kg 8/88) |
SG Mainz (Entscheidung vom 25.05.1988; Aktenzeichen S 4 Kg 19/87) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte dem Kläger für die Zeit von September 1987 bis Juni 1988 das Kindergeld unter Berücksichtigung der am 7. August 1970 geborenen Tochter Franziska zu gewähren hat. Franziska lebte während dieser Zeit unfreiwillig in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Sie hatte wegen des von ihr gestellten Ausreiseantrages keinen Ausbildungsplatz erhalten und deshalb als Hilfskraft bei der Inneren Mission gegen ein monatliches Entgelt von 400,- M der DDR gearbeitet.
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 13. August 1987 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Oktober 1987 die Berücksichtigung des Kindes mit der Begründung ab, die Tochter des Klägers habe sich in der streitigen Zeit nicht in einer Berufsausbildung befunden. Der Umstand, daß dies politische Gründe gehabt habe, rechtfertige auch die Anwendung des § 2 Abs 4 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) nicht. Diese Vorschrift sei nur auf Kinder anzuwenden, die sich im Bundesgebiet vergeblich um einen Ausbildungsplatz bemüht hätten.
Klage und Berufung des Klägers blieben ohne Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Zurückweisung der Berufung darauf gestützt, daß § 2 Abs 4 Satz 1 BKGG eine Ausnahmeregelung treffe, die nur für Kinder gelte, die im Geltungsbereich des Bundeskindergeldgesetzes keinen Ausbildungsplatz erhielten oder die im Bundesgebiet oder Berlin-West als Arbeitslose der Arbeitsvermittlung zur Verfügung ständen. Die Vorschrift des § 2 Abs 4 Satz 1 Nr 2 BKGG könne hier nicht analog angewendet werden.
Der Kläger begründet seine - vom LSG zugelassene - Revision damit, daß die in § 2 Abs 4 Satz 2 BKGG geregelte Ausgrenzung der unfreiwillig im Gebiet der DDR lebenden Kinder der bei ihnen bestehenden Zwangslage nicht hinreichend Rechnung trage. Das gelte insbesondere für die Verhinderung der Ausbildung aus politischen Gründen. Deshalb müsse bei verfassungskonformer Auslegung der Vorschrift des § 2 Abs 4 BKGG zu Gunsten des Klägers berücksichtigt werden, daß seine Tochter nicht aus der DDR ausreisen und dort auch keine Ausbildung beginnen durfte.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 13. Januar 1989 und das Urteil des Sozialgerichts Mainz vom 25. Mai 1988 sowie den Bescheid der Beklagten vom 13. August 1987 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Oktober 1987 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger das für die Zeit von September 1987 bis Juni 1988 zu zahlende Kindergeld unter Berücksichtigung der Tochter Franziska zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält an der Beurteilung der Sach- und Rechtslage in den angefochtenen Bescheiden fest.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet; die Tatsachenfeststellungen des LSG reichen nicht aus, um über die Klage abschließend zu entscheiden.
Nach den das Revisionsgericht bindenden Tatsachenfeststellungen des LSG hatten während der entscheidungserheblichen Zeit der Kläger seinen Wohnsitz in der Bundesrepublik und seine - über 16 Jahre alte - Tochter Franziska in der DDR. Sofern die Tochter des Klägers seit ihrer Geburt ohne Unterbrechung ihren Wohnsitz im Gebiet der DDR hatte, was noch festzustellen ist, ist sie beim Kläger gemäß § 2 Abs 5 Satz 3 BKGG zu berücksichtigen. Dabei finden die Vorschriften des § 2 Abs 2 bis 4 BKGG Anwendung.
Nach den ebenfalls bindenden Tatsachenfeststellungen des LSG befand Franziska sich in der streitigen Zeit nicht in einer Schul- oder Berufsausbildung iS des § 2 Abs 2 Satz 1 BKGG; es lag auch kein Fall des Überganges zwischen zwei Ausbildungsabschnitten (§ 2 Abs 2 Satz 4 BKGG) vor. Deshalb kann Franziska als Kind iS des Kindergeldrechts nur unter den Voraussetzungen des § 2 Abs 4 Satz 1 Nr 1 BKGG - der Unterfall des § 2 Abs 4 Satz 1 Nr 2 BKGG ist von vornherein nicht gegeben - Berücksichtigung finden. Die vom LSG und der Beklagten vorgenommene Auslegung des Begriffes des "mangelnden Ausbildungsplatzes" in § 2 Abs 4 Satz 1 Nr 1 BKGG wird jedoch den besonderen Verhältnissen nicht gerecht. Zwar wäre das von ihnen gewonnene Ergebnis bei einer am Wortlaut orientierten Abgrenzung des Begriffes des mangelnden Ausbildungsplatzes gerechtfertigt, weil § 2 Abs 4 Satz 1, 1. Halbsatz BKGG auf den "Geltungsbereich dieses Gesetzes" abhebt. Ferner wäre dieses Ergebnis auch dann naheliegend, wenn wesentlich die Motive berücksichtigt werden müßten, die zur Einführung dieser Regelung (zunächst in § 2 Abs 4a BKGG, eingefügt durch Art I Nr 1 des Gesetzes vom 18. August 1976 - BGBl I 2213 -) - Überhang von Ausbildungsbewerbern im Bundesgebiet - geführt haben.
Indessen ist diese Auslegung mit der Zielsetzung der Vorschrift des § 2 Abs 5 Satz 3 BKGG nicht vereinbar. Denn die Einbeziehung der Kinder, die immer in den in dieser Vorschrift genannten Staaten gelebt haben, in die Kindergeldgewährung nach dem Bundeskindergeldgesetz erfordert, auf sie auch die in § 2 Absätze 2 bis 4 BKGG für die Kindergeldgewährung über das 16. Lebensjahr hinaus geschaffenen Regelungen anzuwenden. In § 2 Absätze 2 bis 4 BKGG ist durchweg auf eine besondere Lebenssituation des Kindes abgehoben. Diese kann bei den von § 2 Abs 5 Satz 3 BKGG erfaßten Kindern zwangsläufig nur in ihrem dortigen Lebensbereich vorliegen. Wird - wie das LSG und die Beklagte meinen - die Lebenssituation dieser Kinder mit den Maßstäben gemessen, die für die im Bundesgebiet oder in Berlin-West lebenden Kinder gelten, dann sind auch die Besonderheiten der Lebenssituation - hier der Ausbildungssituation - im Wohnstaat des Kindes zwangsläufig irrelevant. Dem ist nicht beizupflichten. § 2 Abs 5 Satz 3 BKGG erfordert gerade, den Gegebenheiten des Wohnstaates - hier seines Berufsbildungssystems - Rechnung zu tragen. Die durch § 2 Abs 5 Satz 3 BKGG geschaffene Rechtslage entspricht daher derjenigen in Art 73 Abs 1 der EWG-VO Nr 1408/71 für die im Ausland lebenden Kinder der im Bundesgebiet wohnenden ausländischen Arbeitnehmer aus dem EG-Bereich (vgl dazu erkennender Senat, Urteil vom 11. März 1987 - 10 RKg 2/86 - SozR 5870 § 2 BKGG Nr 51). Dementsprechend bedarf sowohl der Begriff des "Geltungsbereiches" des BKGG iS des § 2 Abs 4 Satz 1, 1. Halbsatz BKGG als auch der der Verhinderung des Ausbildungsbeginnes mangels eines Ausbildungsplatzes (§ 2 Abs 4 Satz 1 Nr 1 BKGG) bei einem unter § 2 Abs 5 Satz 3 BKGG fallenden - hier in der DDR lebenden - Kind unter Berücksichtigung der dort während der entscheidungserheblichen Zeit herrschenden Ausbildungsverhältnisse einer erweiterten Auslegung.
Nach der Zielsetzung des § 2 Abs 4 Satz 1 Nr 1 BKGG sollen alle Kinder berücksichtigt werden, die keinen Ausbildungsplatz erhalten haben und die deshalb von den Eltern weiter unterhalten werden müssen. Es ist deshalb nicht angängig, als Kinder iS des § 2 Abs 5 Satz 3 BKGG nur diejenigen zu erfassen, die wie im Bundesgebiet und in West-Berlin wegen des Mißverhältnisses zwischen Nachfrage und Angebot von Ausbildungsplätzen keine Berufsausbildung beginnen können. Vielmehr ist neben der Verhinderung der Ausbildung aus diesen volkswirtschaftlichen Gründen auch und gerade der aus politischen Gründen erfolgende Ausschluß von der Berufsausbildung als Anwendungsfall iS des § 2 Abs 4 Satz 1 Nr 1 BKGG anzusehen. Dementsprechend ist Franziska, die nach den unwidersprochenen Feststellungen des LSG wegen ihres Übersiedlungsantrages keinen Ausbildungsplatz erhalten hatte, als Kind zu berücksichtigen, weil sie ihre Berufsausbildung mangels eines - ihr verwehrten - Ausbildungsplatzes nicht beginnen konnte.
Damit sind jedoch entgegen der vom Kläger vertretenen Ansicht die Anspruchsvoraussetzungen noch nicht voll erfüllt. Wie zuvor im einzelnen dargelegt, ist in den Fällen des § 2 Abs 5 Satz 3 BKGG bei der Anwendung des § 2 Abs 4 Satz 1 BKGG auf die Lebensverhältnisse des Kindes im Aufenthaltsstaat abzuheben. Demzufolge ist auch die hierzu in § 2 Abs 4 Satz 2 BKGG geregelte Einschränkung der Leistungspflicht rechtserheblich. Nach den unangefochtenen Tatsachenfeststellungen des LSG hatte Franziska ein monatliches Erwerbseinkommen von 400,- M der DDR. Bei dieser Einkommensart und -höhe besteht Anlaß zur Prüfung, ob bei Berücksichtigung der in der DDR zur streitigen Zeit bestehenden durchschnittlichen Lebenshaltungskosten das von Franziska erzielte Einkommen dem Betrag von 400,- DM entspricht, der gemäß § 2 Abs 4 Satz 2 BKGG zum Ausschluß der Berücksichtigung des Kindes nach § 2 Abs 4 Nr 1 BKGG führt. Ein Anhalt dafür, in welcher Weise diese - dem Revisionsgericht verwehrte - Tatsachenfeststellung zu erfolgen hat, ergibt sich aus § 2 Abs 6 BKGG. Danach wird die Bundesregierung ermächtigt, durch RechtsVO festzulegen, ob für die in Abs 5 bezeichneten Kinder Kindergeld ganz oder teilweise zu leisten ist, soweit dies mit Rücksicht auf die durchschnittlichen Lebenshaltungskosten für Kinder in deren Wohnland und auf die dort gewährten, dem Kindergeld vergleichbaren Leistungen geboten ist. Solange die Bundesregierung von dieser Ermächtigung - wie ersichtlich - keinen Gebrauch macht, hat das Tatsachengericht den erforderlichen Vergleich im Rahmen der Anwendung des § 2 Abs 5 iVm § 2 Abs 4 BKGG selbst anzustellen. Es ist dieser Feststellung nicht deswegen enthoben, weil im Dienstblatt-Runderlaß 208/85 der Bundesanstalt für Arbeit vom 20. Dezember 1985 in Abschnitt 4. Buchst b als Lebenshaltungskosten für ein in der DDR oder in Berlin (Ost) lebendes Kind ein Betrag von 300,- M der DDR monatlich zugrundegelegt worden ist.
Falls das LSG zu dem Ergebnis gelangt, daß Franziska trotz ihres Einkommens zu berücksichtigen ist, hat es noch zusätzlich festzustellen, ob der Kläger für das Kind Unterhalt in dem in § 2 Abs 5 Satz 2, 2. Halbsatz Nr 2 BKGG bestimmten Umfang geleistet hatte.
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen