Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 29.08.1989)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 29. August 1989 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Beklagte wendet sich im Revisionsverfahrenn gegen ihre Verurteilung zur Zahlung von Hinterbliebenenleistungen aus der Unfallversicherung an die Klägerin (Urteil des Sozialgerichts -SGDuisburg vom 4. August 1986 und des Landessozialgerichts -LSGfür das Land Nordrhein-Westfalen vom 29. August 1989).

Der am 21. Mai 1983 im Alter von 69 Jahren verstorbene Ehemann der Klägerin (Versicherter) bezog bis zu seinem Tode wegen einer Quarzstaublungenerkrankung (Silikose) eine Verletztenrente in Höhe von 50 vH der Vollrente. In diesem Umfange war seine Erwerbsfähigkeit durch die genannte Berufskrankheit tatsächlich eingeschränkt. Den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch auf Gewährung von Leistungen nach § 589 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) lehnte die Beklagte durch ihren Bescheid vom 24. Januar 1984 mit der Begründung ab, dem Obduktionsgutachten sei zu entnehmen, daß der verstorbene Versicherte mit einer jeden ernsthaften Zweifel ausschließenden Wahrscheinlichkeit an den Folgen eines chronischen, blutenden Zwölffingerdarmgeschwürs gestorben sei. Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 26. Juni 1984).

In seinem Urteil hat das SG mehrere Gutachten eingeholt bzw verwertet und die Beklagte verurteilt, der Klägerin Hinterbliebenenleistungen nach § 589 RVO zu zahlen. In der medizinischen Wissenschaft, so heißt es ua in dem Urteil des SG, werde durchaus ein Zusammenhang zwischen der Lungenerkrankung des Versicherten und einem Geschwürsleiden gesehen. Die gegen dieses Urteil gerichtete Berufung blieb erfolglos, weil nach der Überzeugung des LSG die Voraussetzungen gegeben sind, unter denen die Beklagte nach § 589 Abs 2 RVO zur Zahlung der Hinterbliebenenleistungen verpflichtet ist. Wegen der tatsächlichen Verhältnisse sei von der gesetzlichen Vermutung des § 589 Abs 2 Satz 1 RVO auszugehen; diese sei nicht entkräftet worden. Der Tod des Versicherten sei zwar infolge einer Ulcusblutung mit schockbedingtem Herz-Kreislaufversagen eingetreten. Es bestehe jedoch nicht nur die theoretische, sondern vielmehr eine reale Möglichkeit eines wesentlichen ursächlichen Zusammenhanges zwischen dem Zwölffingerdarmgeschwür des Verstorbenen und der bei ihm vorhanden gewesenen Berufskrankheit. Dies ergebe sich zur Überzeugung des Gerichts aus den vorliegenden Gutachten und der darin zitierten und von ihm überprüften medizinisch-wissenschaftlichen Literatur. Es komme nicht darauf an, daß ein derartiger Kausalzusammenhang nachgewiesen werde, vielmehr sei allein entscheidend, ob dieser Zusammenhang offenkundig fehle. Von letzterem könne hier nicht ausgegangen werden. Hierfür sei erforderlich, daß mit einer jeden ernsthaften Zweifel ausschließenden Wahrscheinlichkeit kein solcher ursächlicher Zusammenhang bestehe. Entsprechende, schon vor Jahren durchgeführte Untersuchungen, seien bis heute nicht widerlegt worden. Wenn aber in der medizinischen Wissenschaft Unklarheit über die Ursachen einer Erkrankung herrsche, könne daraus nicht auf das Fehlen einer realen Möglichkeit eines Zusammenhanges mit bestimmten Ursachen geschlossen werden. Die Vermutung des § 589 Abs 2 Satz 1 RVO sei gerade für diesen Fall geschaffen worden.

Das LSG hat die Revision ua auch deshalb zugelassen, weil es nach seiner Überzeugung bezüglich der Zulässigkeit der Berufung der Beklagten wegen der Gewährung von Sterbegeld und Überbrückungshilfe von Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) abweiche.

Nach Auffassung der Revision beruht das angefochtene Urteil des LSG auf einer Verletzung des § 589 Abs 2 RVO. Die darin enthaltene Rechtsvermutung sei widerlegt, wenn die anerkannte und vorhandene Berufskrankheit mit einer jeden ernsthaften Zweifel ausschließenden Wahrscheinlichkeit keine rechtlich wesentliche Ursache für den Tod des Versicherten gewesen sei. Ganz entfernte, lediglich theoretische Möglichkeiten des Kausalzusammenhanges müßten außer Betracht bleiben. Bei der Prüfung der Frage, ob die Rechtsvermutung im konkreten Falle widerlegt sei, müsse das Tatsachengericht zunächst allgemein prüfen, ob eine lediglich ganz entfernte Möglichkeit des Zusammenhanges zwischen der Silikose und der zum Tode führenden Erkrankung bestanden habe. Wenn dies nicht der Fall gewesen sei, müsse im konkreten Einzelfall überprüft werden, ob nicht trotz der allgemein vorhandenen realen Möglichkeit des Ursachenzusammenhanges lediglich eine entfernte theoretische Möglichkeit hierfür vorhanden gewesen sei. Das LSG habe sich in seinen Überlegungen auf die konkreten Umstände bezogen und diese überprüft. Die Vorfrage, nämlich des Zusammenhanges zwischen Silikose, Emphysem und Zwölffingerdarmgeschwür sei nur am Rande erörtert worden. Bei der konkreten Überprüfung habe das LSG sich auf die Wiedergabe statistischer Angaben beschränkt, ohne dabei den konkreten Sachverhalt zu würdigen. Zumindest hätte das LSG weitere Ermittlungen anstellen müssen.

Die Beklagte hält die Zulässigkeit der Berufung gegen das Urteil des SG uneingeschränkt für gegeben.

Sie beantragt,

die Urteile des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 29. August 1989 – L 15 BU 35/86 LSG NRW – sowie des Sozialgerichts Duisburg vom 4. August 1986 – S 2 BU 162/84 – aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 24. Januar 1984 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Juni 1984 zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält es für zutreffend, daß die Vermutung des § 589 Abs 2 Satz 1 RVO durch das LSG als nicht widerlegt angesehen worden sei. Diese Auffassung stimme mit der medizinisch-wissenschaftlichen Literatur und dem Ergebnis medizinischer Untersuchungen überein. Die Beklagte müsse die fraglichen Hinterbliebenenleistungen wegen der durch § 589 Abs 2 RVO vorgenommenen Beweislastverlagerung zahlen.

Auch die Klägerin hält die Zulässigkeit der Berufung gegen das Urteil des SG in vollem Umfang für gegeben.

 

Entscheidungsgründe

II

Der Senat konnte gemäß § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden, nachdem die Beteiligten sich übereinstimmend damit einverstanden erklärt haben.

Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Das LSG hat zutreffend angenommen, daß die von der Beklagten eingelegte Berufung in vollem Umfange zulässig war; außerdem waren die von dem LSG festgestellten Tatsachen eine ausreichende Entscheidungsgrundlage zur Verurteilung der Beklagten.

Richtig ist allerdings, daß die Berufung gemäß § 144 Abs 1 Nr 1 SGG nicht zulässig ist, wenn es um Ansprüche auf einmalige Leistungen geht. Das SG hat die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide verurteilt, „der Klägerin Hinterbliebenenleistungen gemäß § 589 RVO zu gewähren”. Es hat die Beklagte damit nicht nur zur Gewährung von Hinterbliebenenrente (§ 589 Abs 1 Nr 3 RVO), sondern auch zur Zahlung von Sterbegeld (§ 589 Abs 1 Nr 1 RVO) verurteilt. Daß darüber hinaus Überführungskosten im Sinne von § 589 Abs 1 Nr 2 RVO entstanden waren, ist dem Urteil ebensowenig zu entnehmen wie eine Verurteilung zur Gewährung dieser Leistung. Die Zahlung von Sterbegeld ist eine einmalige Leistung im Sinne von § 144 Abs 1 Nr 1 SGG. Ihretwegen ist daher nach dieser Vorschrift die Berufung grundsätzlich ausgeschlossen. Im vorliegenden Falle hat das LSG jedoch mit Recht angenommen, daß die Voraussetzungen vorliegen, unter denen nach § 150 Nr 3 SGG von der Zulässigkeit der Berufung auszugehen ist. Danach ist die Berufung ungeachtet des § 144 SGG zulässig, wenn ua der ursächliche Zusammenhang des Todes eines Versicherten mit einer Berufskrankheit streitig ist. So liegen die Dinge hier. Die Beteiligten streiten nämlich nicht um das Vorliegen einer Berufskrankheit bei dem verstorbenen Versicherten (s hierzu die ständige Rechtsprechung des BSG, zB USK 1981, 8138 und zuletzt Urteil vom 24. Januar 1990 – 2 RU 20/89 – mit weiteren Nachweisen). Vielmehr waren und sind die Gerichte der Vorinstanz und die Verfahrensbeteiligten übereinstimmend der Auffassung, daß die fragliche Berufskrankheit bei dem Versicherten tatsächlich vorlag. Streitig war allein, ob zwischen seinem Tode und der (anerkannten und) vorhandenen beruflichen Erkrankung ein ursächlicher Zusammenhang besteht. Dieser Streit eröffnet aber nach § 150 Nr 3 SGG die Berufungsinstanz (aA LSG Baden-Württemberg Breithaupt 1986, 937). Die beiden Urteile, welche in dem angefochtenen Urteil angeführt sind und von denen das LSG annimmt, daß sie zur Annahme der Unzulässigkeit der Berufung der Beklagten im vorliegenden Falle führen müßten, stehen dem nicht entgegen. Weder in dem Urteil des 2. Senats (BSG SozR 1500 § 144 Nr 3) noch in dem Urteil des 5. Senats vom 20. November 1973 – 5 RKnU 30/72 – hat das BSG Veranlassung gesehen, die Vorschrift des § 150 Nr 3 SGG zu erörtern, weil die tatsächlichen Umstände der Sachverhaltsgestaltung dies nicht erforderten.

Der Klägerin steht nach § 589 Abs 1 Nrn 1 und 3 RVO Sterbegeld und Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu; denn es ist davon auszugehen, daß der Tod des Ehemannes der Klägerin durch die anerkannte Berufskrankheit verursacht worden ist. Angesichts der Art und des Umfanges der bei dem Versicherten vorhanden gewesenen Berufserkrankung wird nach § 589 Abs 2 Satz 1 RVO die berufsbedingte Todesverursachung vermutet. Diese Vermutung beseitigt mit rechtlichen Mitteln die Ungewißheit über den ursächlichen Zusammenhang und ist nach § 589 Abs 2 Satz 2 RVO nur dann widerlegt, wenn das Fehlen der Kausalität offenkundig ist. Die objektive Beweislast für die Offenkundigkeit trägt die Beklagte (BSG SozR 2200 § 589 Nr 5). Das offenkundige Fehlen des Kausalzusammenhanges zwischen der Berufskrankheit und dem Tod des Versicherten hat sich vom LSG nicht feststellen lassen. Demgemäß gilt die gesetzliche Vermutung des § 589 Abs 2 Satz 1 RVO im vorliegenden Falle weiter.

Das LSG hat im Gegensatz zu der Annahme der Beklagten insbesondere nicht den Begriff der Offenkundigkeit verkannt; sondern es hat ihn in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des BSG dahin verstanden, daß das Fehlen des Kausalzusammenhanges nur dann offenkundig ist, wenn entweder keine oder lediglich eine entfernt liegende und rein theoretische Möglichkeit des Zusammenhanges besteht. Das LSG hat also den § 589 Abs 2 RVO nicht verletzt, wenn es beim Bestehen einer konkreten und ernsthaften Möglichkeit des Kausalzusammenhanges die Vermutung als nicht widerlegt angesehen hat.

Die Entscheidung der Frage, ob im Einzelfall eine konkrete und ernsthafte oder nur eine weit entfernt liegende und theoretische Möglichkeit des Kausalzusammenhanges besteht, läßt sich nicht durch Subsumtion von Tatsachen unter eine Rechtsnorm gewinnen, sondern vollzieht sich in dem den Tatsachengerichten vorbehaltenen Raum der freien richterlichen Beweiswürdigung (ua Urteil des BSG vom 18. Dezember 1973 – 5 RKnU 31/72 – mwN). Das Revisionsgericht ist daher nach § 163 SGG nur dann nicht an die Feststellungen des LSG gebunden, wenn diese auf begründeten Verfahrensrügen beruhen. Solche Rügen hat die Revision jedoch nicht vorgebracht.

Es mag dahinstehen, ob die Beklagte eine fehlerhafte Beweiswürdigung durch das LSG geltend macht, soweit sie annimmt, das LSG hätte im Anschluß an die Rechtsprechung des BSG (SozR 2200 § 589 Nr 5) seine Untersuchungen und Feststellungen bezüglich des Kausalzusammenhanges in zwei Etappen vornehmen müssen. Ein derartiger Mangel ist nicht gegeben. Richtig ist allerdings, daß in dem Urteil des BSG dargelegt ist, es müsse zunächst die theoretische Möglichkeit des ursächlichen Zusammenhanges zwischen der Berufskrankheit und der den Tod auslösenden Erkrankung überprüft werden. Abgesehen davon, daß durch diese Rechtsprechung eine starre Auslegungs- und Feststellungsregel bezüglich des § 589 Abs 2 RVO nicht aufgestellt ist, hat das LSG auf den Seiten 11 ff des angefochtenen Urteils eben die theoretische Grundlage für die Anwendung der Beweislastregel im vorliegenden Falle erörtert. Daß es dabei die besonderen Umstände des konkreten Falles berücksichtigt und anschließend miterörtert hat, stellt einen Verfahrensmangel des LSG nicht dar. Unzutreffend ist angesichts der ausführlichen Darlegungen in dem angefochtenen Urteil auch die Annahme der Beklagten, das LSG habe seine Überlegungen ausschließlich auf den konkreten Sachverhalt beschränkt und theoretische Erörterungen unterlassen. Jedenfalls hat das LSG die von ihm getroffene Feststellung der konkreten Möglichkeit des ursächlichen Zusammenhanges zwischen der anerkannten Berufskrankheit bei dem Versicherten und seinem Tode angesichts der im einzelnen erörterten medizinischen Unklarheit über den Zusammenhang der Berufskrankheit und dem Geschwürsleiden des Klägers in Anlehnung an die Rechtsprechung des BSG (SozR 2200 § 589 Nr 5) in verfahrensrechtlich einwandfreier Weise durchgeführt. Insbesondere hat das LSG sämtliche von ihm eingeholten und bereits vorhandenen Gutachten bei seinen Feststellungen ausführlich berücksichtigt und gewürdigt, so daß dem Vorbringen der Revision nicht entnommen werden kann, warum das LSG die von ihm getroffene Feststellung nach § 589 Abs 2 RVO in verfahrensfehlerhafter Weise getroffen haben könnte.

Der Senat hat die danach unbegründete Revision der Beklagten zurückgewiesen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1174686

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