Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 16. Dezember 1993 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger der beklagten Krankenkasse Krankengeld zurückzuzahlen hat.
Der Kläger, der vom 1. August 1981 bis 15. April 1985 als Wagenpfleger bei der Bereitschaftspolizei in Mainz beschäftigt war und der beklagten Krankenkasse als Mitglied angehörte, erhielt infolge einer am 6. Dezember 1983 eingetretenen Arbeitsunfähigkeit zunächst Lohnfortzahlung und vom 17. Januar 1984 bis 2. Januar 1985 Krankengeld in Höhe von insgesamt 13.564,00 DM. Veranlaßt durch ein Schreiben des bisherigen Arbeitgebers des Klägers vom 18. April 1985, stellte die Beklagte fest, daß der Kläger bereits seit dem 10. April 1982 als Wachmann bei der Wiesbadener Wach- und Schließgesellschaft M. … & Co GmbH tätig und fortlaufend bis zum 10. Mai 1985 bei der AOK Wiesbaden pflichtversichert war. Mit Bescheid vom 4. Juli 1985 forderte die Beklagte den Kläger auf, das für die Zeit vom 17. Januar 1984 bis 2. Januar 1985 gewährte Krankengeld zurückzuzahlen. Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies die Beklagte durch Bescheid vom 17. Oktober 1985 mit der Begründung zurück, der Kläger habe seine Nebenbeschäftigung bei der Wach- und Schließgesellschaft verschwiegen und bewußt falsche Angaben gemacht. Er sei deshalb zur Rückzahlung des Krankengeldes verpflichtet. In dem sich anschließenden Rechtsstreit wurden die Verwaltungsentscheidungen aufgehoben (Urteile des Sozialgerichts ≪SG≫ Wiesbaden vom 14. September 1988 und des Hessischen Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 8. Februar 1990). Nach Anhörung des Klägers forderte die Beklagte mit Bescheid vom 3. Mai 1990 erneut die Rückzahlung des Krankengeldes in Höhe von 13.564,00 DM. Der dagegen eingelegte Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 16. August 1990).
Das SG hat auch diese Bescheide der Beklagten aufgehoben (Urteil des SG Wiesbaden vom 14. Juli 1992). Die Berufung der Beklagten ist zurückgewiesen worden (Urteil des Hessischen LSG vom 16. Dezember 1993). In den Entscheidungsgründen des Berufungsgerichts wird ua ausgeführt: Die Beklagte habe die Leistungen nicht mehr zurückfordern können, weil die Jahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 des Zehnten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB X) abgelaufen gewesen sei. Die Ausschlußfrist beginne, wenn die Behörde die Rechtswidrigkeit des begünstigenden Verwaltungsakts sowie die Tatsachen hinsichtlich der weiteren Rücknahmevoraussetzungen kenne. Durch einen später aufgehobenen ersten Aufhebungsbescheid werde die Jahresfrist weder gewahrt noch unterbrochen. Dabei spiele es keine Rolle, ob der Rückforderungsbescheid aufgrund mangelnder Ermessensausübung aufgehoben worden sei. Denn die für den Fristbeginn nach § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X erforderliche Kenntnis beziehe sich nicht darauf, daß § 45 Abs 1 SGB X der Behörde für ihre Entscheidung, ob ein von Anfang an rechtswidriger Verwaltungsakt zurückzunehmen sei, einen Ermessensspielraum gebe. Die Beklagte sei durch das Schreiben des Klägers vom 27. April 1985 über dessen finanzielle Notlage (ca 85.000,00 DM Schulden) informiert worden. Damit seien ihr schon zu diesem Zeitpunkt alle Umstände bekannt gewesen, aus denen sich die Notwendigkeit einer Ermessensentscheidung ergeben habe.
Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X und macht ua geltend: Unter Berücksichtigung des zu § 48 Abs 4 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) ergangenen Beschlusses des Großen Senats des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE 70, 364) hätte das LSG auch bei der Anwendung des § 45 Abs 4 SGB X davon ausgehen müssen, daß die Kenntnis der Rechtswidrigkeit des aufgehobenen Verwaltungsakts für sich allein nicht den Lauf der Jahresfrist auszulösen vermöge. Vielmehr sei dazu die vollständige Kenntnis des für die Entscheidung über die Rücknahme des Verwaltungsakts erheblichen Sachverhalts nötig. Der Fristbeginn setze infolgedessen grundsätzlich die Kenntnis der für eine sachgerechte Ermessensausübung erforderlichen Gesichtspunkte voraus. Bei Ermessensentscheidungen müsse die Behörde somit sämtliche für die Ermessensbetätigung wesentlichen Umstände, dh auch die Verhältnisse des Betroffenen kennen. Dies folge auch aus dem Zweck der Frist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X. Die Behörde solle die infolge der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts nötige Entscheidung darüber, ob der Verwaltungsakt zurückgenommen werde oder bestehen bleibe, binnen Jahresfrist treffen. Diese Funktion könnte die Frist nur unvollständig erfüllen, wenn die Erkenntnis der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts für sich allein fristauslösend wäre. Die Frist wäre dann unzulässigerweise eine Bearbeitungsfrist mit der Folge, daß die Behörde unter Umständen vor Eintritt der Entscheidungsreife gezwungen wäre, entweder den Verwaltungsakt zurückzunehmen oder die Frist verstreichen zu lassen. Es handele sich jedoch – wie bei der entsprechenden Frist des § 48 Abs 4 Satz 2 VwVfG -um eine Entscheidungsfrist. Sie beginne erst zu laufen, wenn die Behörde auch wisse, daß die Aufhebung des rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts eine Ermessensentscheidung erfordere. Im übrigen habe das LSG zu Unrecht die analoge Anwendung der §§ 211 ff Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) abgelehnt. Bei Anwendung dieser Vorschriften sei davon auszugehen, daß der Bescheid vom 4. Juli 1985 die Jahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X unterbrochen habe und daß die Verwaltung berechtigt gewesen sei, einen neuen Bescheid zu erlassen. Denn analog § 217 BGB habe die Jahresfrist erst mit der Rechtskraft des Urteils des LSG am 8. Februar 1990 erneut zu laufen begonnen. Dies bedeute aber: Mit dem Rücknahmebescheid vom 3. Mai 1990 sei die Frist auf jeden Fall gewahrt worden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 16. Dezember 1993 sowie das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 14. Juli 1992 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und macht geltend: Nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei für den Beginn des Laufs der Jahresfrist (§ 45 Abs 4 Satz 2 SGB X) nicht die Kenntnis der Behörde erforderlich, daß sie die Leistungsbewilligung nur im Wege einer Ermessensentscheidung zurücknehmen könne. Die Ausschlußfrist beginne bereits dann zu laufen, wenn die Behörde die Rechtswidrigkeit des zurückzunehmenden Verwaltungsakts sowie die Tatsachen hinsichtlich der weiteren Rücknahmevoraussetzungen kenne.
Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil sich die Beteiligten hiermit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision hat keinen Erfolg. Die Vorinstanzen sind zu Recht zu dem Ergebnis gekommen, daß der Kläger das Krankengeld nicht zurückzuzahlen hat. Der Rücknahme der Krankengeldbewilligung und der Rückforderung des Krankengeldes durch die Beklagte steht der Ablauf der Jahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X entgegen.
Die Beklagte hat dem Kläger für die Zeit vom 17. Januar 1984 bis 2. Januar 1985 Krankengeld in Höhe von insgesamt 13.564,00 DM gezahlt. Derartige Zahlungen beruhen – auch wenn kein schriftlicher Bescheid ergeht – auf Krankengeldbewilligungen, dh auf Verwaltungsakten (BSG SozR 2200 § 182 Nr 103; Krauskopf, Soziale Krankenversicherung – SGB V –, Komm, § 44 RdNr 7; Kummer in Schulin HS-KV § 23 RdNrn 212 und 213). Will die Krankenkasse das gezahlte Krankengeld zurückfordern, so muß zuvor oder gleichzeitig die Krankengeldbewilligung aufgehoben werden (vgl § 50 Abs 1 Satz 1 SGB X).
Als Rechtsgrundlage für die Rücknahme der Krankengeldbewilligung kommt hier nur § 45 Abs 1 SGB X in Betracht. Nach dieser Vorschrift darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat, soweit er rechtswidrig ist, unter den Voraussetzungen der Abs 2 bis 4 SGB X mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen werden, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist.
Die Rückforderung des gezahlten Krankengeldes scheitert jedoch daran, daß die Krankengeldbewilligung nicht innerhalb der Jahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X aufgehoben worden ist. Diese Frist beginnt mit der Kenntnis der Tatsachen, die die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts für die Vergangenheit rechtfertigen. Die entsprechende Kenntnis hat die Beklagte bereits 1985 gehabt. Denn sie wußte – wie sich aus den Tatsachenfeststellungen des LSG und ihrem Bescheid vom 4. Juli 1985 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Oktober 1985 ergibt – schon damals, daß der Kläger während der gesamten Zeit des Krankengeldbezugs bei der Wiesbadener Wach- und Schließgesellschaft tätig gewesen war, dort Arbeitsentgelt bezogen und diese Beschäftigung gegenüber der Krankenkasse verschwiegen hatte. Außerdem war die Beklagte aufgrund des Schreibens des Klägers vom 27. April 1985 über dessen Schulden in Höhe von 85.000,00 DM informiert. Damit kannte sie alle Umstände,
die es an sich rechtfertigten, die Krankengeldbewilligung rückwirkend aufzuheben. Außerdem konnte die Beklagte aus den ihr mitgeteilten Verbindlichkeiten des Klägers den Schluß ziehen, daß sie – wie das LSG in seinem Urteil vom 8. Februar 1990 angenommen hat – im Wege einer Ermessensentscheidung darüber zu befinden hatte, ob die Krankengeldbewilligung angesichts der schlechten Vermögensverhältnisse ganz oder nur teilweise oder überhaupt nicht aufzuheben war.
Daß nur die schon 1985 bekannten Umstände auch für die im vorliegenden Rechtsstreit angefochtenen Verwaltungsentscheidungen maßgebend gewesen sind, macht der Inhalt des Bescheides vom 3. Mai 1990 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. August 1990 deutlich. In diesen Bescheiden werden nämlich die schon 1985 bekannten Tatsachen über das zweite Beschäftigungsverhältnis des Klägers bei der Wach- und Schließgesellschaft und der Doppelbezug von Arbeitsentgelt und Krankengeld zum Anlaß genommen, die Krankengeldbewilligung aufzuheben und das Krankengeld zurückzufordern.
Die Frage, ob der Beginn des Laufs der Frist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X auch die Kenntnis der Behörde voraussetzt, daß der aufzuhebende Verwaltungsakt rechtswidrig ist (so Beschluß des Großen Senats des BVerwG zu § 48 Abs 4 VwVfG, BVerwGE 70, 356, 361 = DVBl 1985, 512 = NJW 1985, 821; BVerwG in NVwZ 1988, 288) kann der Senat – wie dies auch in der bisherigen Rechtsprechung des BSG geschehen ist (BSGE 65, 221, 229; 66, 204, 210; BSG SozR 1300 § 45 Nr 2 und § 48 Nr 32) – unentschieden lassen. Denn der Beklagten war – wie sich schon aus ihrem Rückforderungsbescheid vom 4. Juli 1985 ergibt – bereits zum Zeitpunkt des Erlasses dieses Bescheides bekannt, daß die dem Kläger erteilte Leistungsbewilligung von Anfang an rechtswidrig war. Andernfalls hätte sie nicht schon 1985 von ihm das Krankengeld zurückgefordert.
Offenbleiben kann ferner, ob es für den Beginn des Laufs der Jahresfrist notwendig ist, daß die Behörde alle für die Ermessensausübung erforderlichen Tatsachen kennen muß. Denn nach den von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des LSG waren der Beklagten aufgrund des Schreibens des Klägers vom 27. April 1985 dessen finanzielle Notlage und damit alle zur Ermessensausübung erforderlichen Umstände bekannt. Weder sind vom LSG verspätet bekannt gewordene Tatsachen festgestellt worden, die für die Ermessensausübung der Beklagten wesentlich gewesen wären, noch hat die Beklagte selbst behauptet, daß sie ihr Ermessen erst nach Kenntnisnahme weiterer Tatsachen hätte ausüben können, die sie erst später, zB unmittelbar vor Erlaß des Bescheides vom 3. Mai 1990 erfahren habe.
Schließlich beginnt die Jahresfrist – entgegen der Ansicht der Beklagten – auch nicht erst dann zu laufen, wenn die Behörde weiß, daß die Aufhebung des rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts eine Ermessensentscheidung erfordert bzw die Ausübung von Ermessen voraussetzt. Das BSG hat bereits mehrfach entschieden, daß die Frist nicht erst in dem Augenblick beginnt, in dem die Verwaltung davon Kenntnis erhält, daß im konkreten Fall statt einer rechtsgebundenen Entscheidung eine Ermessensentscheidung zu ergehen hat (BSGE 65, 221, 223, 224; BSG SozR 4100 § 103 Nr 42; BSGE 66, 69, 74; 204, 210; BSG SozR 3-1300 § 45 Nrn 5 und 10 und SozR 3-1300 § 48 Nr 32; BSG, Urteil vom 11. September 1991 – 5 RJ 25/90 – und Urteil vom 24. Juni 1994 – 1 RK 45/93 –).
Für diese Auffassung sprechen der Wortlaut, die Entstehungsgeschichte und der Sinn der Vorschrift. So bezieht sich § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X ausdrücklich auf die Kenntnis von Tatsachen. Nach dem Gesetzeswortlaut kommen dabei nur die Tatsachen in Betracht, aus denen sich die Rechtswidrigkeit des begünstigenden Verwaltungsakts ergibt, sowie die Tatsachen, die die Voraussetzungen für die rückwirkende Aufhebung des Verwaltungsakts nach § 45 Abs 2 Satz 3 und Abs 3 Satz 2 SGB X erfüllen. Mag es mit dem Gesetzeswortlaut noch zu vereinbaren sein, die Rechtswidrigkeit des zurückgenommenen Verwaltungsakts wie eine Tatsache zu behandeln, so ist eine solche Auslegung jedenfalls nicht auf die (Rechts-)Kenntnis von dem Erfordernis der Ermessensausübung übertragbar. Würde ein Rechtsanwendungsfehler der Behörde auch hinsichtlich der übrigen Rücknahmevoraussetzungen den Fristbeginn ausschließen, bliebe die im Gesetz vorgesehene Beschränkung auf Tatsachen völlig unbeachtet. Wäre eine derartige Regelung angestrebt worden, hätte der Gesetzgeber eine andere, nicht auf Tatsachen bezogene Formulierung, zB „Kenntnis von den Voraussetzungen der Rücknahme”, verwenden können (so auch BSGE 65, 221, 227).
Aber auch die Entstehungsgeschichte der entsprechenden Fristvorschrift des § 48 Abs 4 Satz 1 VwVfG – auf diese Vorschrift wird in der amtlichen Begründung zu § 43 SGB X (BT-Drucks 8/2034, S 34) verwiesen – läßt sich für diese Auffassung anführen. Danach sollten bloße Rechtsanwendungsfehler den Fristbeginn gerade nicht ausschließen. In der ersten aus dem Jahre 1963 stammenden Fassung des VwVfG (§ 37 Abs 4 EVwVfG 1963) sollte die Jahresfrist noch nicht durch Kenntnis von „Tatsachen”, sondern durch Kenntnis von „Umständen”, welche die Rücknahme rechtfertigen, ausgelöst werden. Dagegen ist im weiteren Lauf des Gesetzgebungsverfahrens (§ 37 Abs 4 EVwVfG 1970 = BT-Drucks VI/1173, S 57; § 43 Abs 4 des Regierungsentwurfs, BT-Drucks 7/910, S 71) eine Einschränkung auf „Tatsachen” vorgenommen worden (vgl dazu Kopp, DVBl 1985, 525, 526). Nach der amtlichen Begründung ist notwendig, daß die Behörde von Tatsachen Kenntnis erhalten hat. Die Vorschrift erfaßt daher nur die Fälle, in denen die Behörde durch tatsächliche Ereignisse auf die Rechtswidrigkeit des konkreten Verwaltungsakts hingewiesen wird. Nicht einbezogen sind die Fälle, in denen die Rechtswidrigkeit, zB durch höchstrichterliche Rechtsprechung oder durch deren Änderung, bekannt wird, in denen die Behörde zufällig auf die Rechtswidrigkeit einer Parallelentscheidung stößt oder die Behörde sonst auf eine rechtswidrige Praxis hingewiesen wird (vgl BT-Drucks 7/910, S 71). Weder aus der amtlichen Begründung zu § 45 SGB X (BT-Drucks 8/2034, S 34) noch zu § 48 VwVfG (BT-Drucks 7/910, S 71) ergeben sich somit Hinweise darauf, daß der Gesetzgeber hinsichtlich der übrigen Voraussetzungen der Rücknahme den Fristbeginn bei Rechtsanwendungsfehlern ausschließen wollte (vgl BSGE 65, 221, 227; 66, 204, 210).
Auch aus dem Sinn und Zweck des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X unter Berücksichtigung der systematischen Stellung der Vorschrift folgt, daß die Kenntnis aller Tatsachen und die Kenntnis der jeweiligen Rechtsfolge nicht zu verlangen ist. Andernfalls bliebe für die Jahresfrist kaum noch ein Anwendungsbereich und der Gesetzgeber hätte sie gar nicht zur Begrenzung der Rücknahmebefugnis für die Vergangenheit in das Gesetz aufzunehmen brauchen (vgl BSGE 65, 221, 227, 228). Dagegen kann die Beklagte nicht einwenden, daß der Kläger des Vertrauensschutzes nicht bedürfe und die Aufhebung der Krankengeldbewilligung aus Gründen der materiellen Gerechtigkeit erfolgen müsse. Die Vorschrift des § 45 SGB X stellt – ebenso wie § 48 VwVfG – einen Ausgleich zwischen widerstreitenden Elementen des Rechtsstaatsprinzips, nämlich dem Gebot der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung – dem Interesse der Verwaltung an der Wiederherstellung des rechtmäßigen Zustandes – und dem Vertrauensschutz und der Rechtssicherheit dar (vgl BSGE 63, 224, 229; Steinwedel in KassKomm § 45 SGB X RdNr 4) und ist nach ihrem Sinn und Zweck eine Schutzvorschrift zugunsten des Bürgers. Dabei wird in § 45 SGB X dem öffentlichen Interesse an der Verwirklichung sozialer Rechte dadurch Rechnung getragen, daß rückwirkende Eingriffe in bestandskräftig zuerkannte Rechtspositionen nur unter besonders engen Voraussetzungen zugelassen werden (BSGE 63, 224, 229). Der Gesetzgeber hat eine Abwägung dahin getroffen, daß eine Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit grundsätzlich nicht zulässig ist. § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X dient in diesem Zusammenhang nicht dem Vertrauensschutz des Begünstigten, denn der Verwaltungsakt darf nur in Fällen des Abs 2 Satz 3 und Abs 3 Satz 2 mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen werden. In diesen Fällen – wenn der Begünstigte den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung erwirkt hat oder seine Rechtswidrigkeit kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte oder der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat – kann ein Vertrauen des Begünstigten in das Behaltendürfen von vornherein nicht entstehen oder ist nicht schützenswert. Während der Gesetzgeber in § 48 Abs 4 Satz 2 VwVfG für die Rücknahme von Verwaltungsakten, die durch arglistige Täuschung, Drohung und Bestechung erwirkt worden sind, keine einjährige Frist normiert hat, da häufig zunächst strafrechtliche Ermittlungsverfahren abgewartet werden müssen oder die volle Aufklärung des Sachverhalts zeitraubend sein kann, was dem Begünstigten nicht zugute kommen soll (vgl BT-Drucks 7/910, S 71), hat er in § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X gerade auch in diesen Fällen die Rücknahmemöglichkeit der Verwaltung durch die Einjahresfrist eingeschränkt (vgl BSG SozR 1300 § 45 Nr 44). Das zeigt, daß der Gesetzgeber hier den Gedanken der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit in den Vordergrund gestellt hat (vgl BSGE 65, 221, 223; 66, 204, 208; BSG SozR 3-1300 § 48 Nr 32). Würde die Frist erst beginnen, wenn die Behörde den rechtlichen Schluß zieht, daß sie Ermessen auszuüben hat, hätte sie es in der Hand, den Fristbeginn auszulösen, und die angestrebte Rechtssicherheit würde nicht eintreten.
Hat die Frist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X damit aber bereits im Jahre 1985 zu laufen begonnen, so war die Aufhebung der Krankengeldbewilligung im Mai 1990 nicht mehr möglich. Denn zu diesem Zeitpunkt war die Jahresfrist abgelaufen.
Hiergegen läßt sich nicht mit Erfolg einwenden, der Rückforderungsbescheid vom 4. Juli 1985 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Oktober 1985 habe den Lauf der Jahresfrist unterbrochen. Denn diese Bescheide sind in dem vorangegangenen sozialgerichtlichen Verfahren rechtskräftig aufgehoben worden und haben damit rechtlich keinen Einfluß auf den Lauf der Frist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X (vgl dazu BSGE 65, 211, 223 = SozR 1300 § 45 Nr 45; SozR 4100 § 103 Nr 42; BSGE 66, 69, 74 = SozR 4100 § 104 Nr 19; BSGE 66, 204, 208 = SozR 3-1300 § 45 Nr 1; BSG, Urteil vom 29. Juni 1994 – 1 RK 45/93 –). Für den Lauf der Jahresfrist ist nämlich nicht entscheidend, ob ein – später wieder aufgehobener – Bescheid das Vertrauen des Betroffenen bereits erschüttert hat, der Betroffene also mit einer Rückforderung rechnen muß.
Ebensowenig kann angenommen werden, daß der Erlaß des Bescheides vom 4. Juli 1985 den Lauf der Jahresfrist gemäß § 217 BGB unterbrochen hat. Entgegen der Ansicht der Beklagten dürfen hier die Vorschriften der §§ 211 ff BGB nicht entsprechend angewendet werden. § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X enthält eine abschließende Regelung. Mit ihr hat der Gesetzgeber bereits entschieden, inwieweit sich ein Irrtum der Behörde über das einzuschlagende Verfahren auf den Fristablauf auswirkt (BSGE 65, 221, 224). Selbst in Fällen der Drohung oder arglistigen Täuschung soll nach dem Willen des Gesetzgebers der Rechtssicherheit der Vorrang vor dem Interesse der Verwaltung an hinausschiebbarer Wiederholung eines zuvor fristgerecht erteilten, aber wegen Rechtswidrigkeit aufgehobenen Rücknahmebescheides zukommen.
Zu Unrecht beruft sich die Beklagte auf die Entscheidungen in BSGE 62, 103, 108 und 63, 37, 43. Aus ihnen kann nicht hergeleitet werden, daß im Rahmen des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB V die Verjährungsvorschriften des BGB entsprechend anwendbar wären. Allerdings hat das BSG in diesen Entscheidungen seinerzeit angenommen, daß die Jahresfrist durch einen Aufhebungsbescheid, der später selbst aufgehoben wird, gewahrt werden könne. Diese Rechtsprechung ist inzwischen jedoch vom BSG aufgegeben worden (vgl dazu BSGE 65, 221, 223 = SozR 1300 § 45 Nr 45). Soweit die Beklagte zur Stützung ihrer Auffassung auf die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Lüneburg sowie auf den Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 20. Mai 1988 (NVwZ 1988, 822 = DÖV 1988, 975 = DVBl 1989, 41) verweist, ist zu beachten, daß sich die Entscheidung des OVG Lüneburg auf § 116 Abs 4 des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG = § 48 Abs 4 VwVfG) bezieht, der anders als § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X gerade nicht in Fällen der Drohung oder der arglistigen Täuschung eingreift (vgl auch BSGE 65, 221, 224). Im übrigen wird in dem Beschluß des BVerwG darauf hingewiesen, daß die analoge Anwendbarkeit der Verjährungsvorschriften „nicht frei von Zweifeln” sei (BVerwG in NVwZ 1988, 822).
Ist wie hier die Jahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X abgelaufen, kommt es entgegen der Auffassung der Beklagten nicht darauf an, ob die Beklagte eine rechtsgebundene Entscheidung oder eine Ermessensentscheidung zu treffen hatte und nach welchen Kriterien diese Frage zu entscheiden ist (vgl dazu BSG SozR 3-1300 § 50 Nr 16). Der Rücknahmebescheid vom 3. Mai 1990 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. August 1990 ist allein deshalb rechtswidrig, weil er erst nach Ablauf der Jahresfrist ergangen ist.
Nach alledem konnte die Revision der Beklagten keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen