Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeldanspruch bei Besuch einer Abendschule
Orientierungssatz
1. Ein Jugendlicher, der das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, befindet sich dann in einer Schulausbildung, wenn diese Ausbildung ihn mehr als 20 Stunden pro Woche in Anspruch nimmt (Festhaltung an BSG vom 23.8.1989 - 10 RKg 8/86 = SozR 5870 § 2 Nr 65).
2. Der in § 8 JArbSchG für die Beschäftigung Jugendlicher gesetzlich verankerte Grundsatz ist in derselben Weise zugunsten von Jugendlichen anzuwenden, welche sich in einer Schulausbildung befinden. Dies bedeutet, daß einem Jugendlichen, welcher durch den Schulbesuch mehr als 20 Stunden in der Woche in Anspruch genommen wird, die Ausübung einer Halbtagsbeschäftigung nicht mehr zumutbar und er daher außerstande ist, seinen Lebensunterhalt im wesentlichen selbst zu verdienen. Für ihn muß demgemäß nach dem Grundgedanken des § 2 Abs 2 BKGG das Kindergeld gezahlt werden.
Normenkette
BKGG § 2 Abs 2 S 1 Nr 1; JArbSchG § 8
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 16.12.1988; Aktenzeichen L 1 Kg 8/87) |
SG Kiel (Entscheidung vom 23.06.1987; Aktenzeichen S 5 Kg 4/86) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger für die Zeit vom 1. September 1985 bis zum 31. Juli 1986 für seine damals 16 Jahre alte Tochter Dorothea (D.) Anspruch auf Kindergeld hat.
Während der genannten Zeit besuchte D. die Abendrealschule in Kiel. Der Unterricht fand an fünf Wochentagen (Montag bis Freitag) statt und umfaßte 17 Stunden und 20 Minuten pro Woche. Die Erledigung der Hausaufgaben nahm bei Zugrundelegung eines objektiven Maßstabes acht Stunden in der Woche in Anspruch. Für den Schulweg benötigte die Tochter des Klägers bei Benutzung eines Busses wöchentlich zusammen sechs Stunden.
Durch ihren Bescheid vom 12. November 1985 hob die Beklagte die Bewilligung des Kindergeldes für D. mit Wirkung vom September 1985 auf, weil das Kind sich nicht mehr in einer Schul- oder Berufsausbildung befinde. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 30. Januar 1986).
Das Sozialgericht (SG) Kiel hat die Beklagte durch Urteil vom 23. Juni 1987 unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, dem Kläger das begehrte Kindergeld zu gewähren. Es hat die Berufung zugelassen. Diese ist durch das nunmehr angefochtene Urteil des Landessozialgerichts (LSG) vom 16. Dezember 1988 zurückgewiesen worden. Das LSG hat die Revision zugelassen. Nach Auffassung des Berufungsgerichts war D. neben dem Besuch der Abendrealschule in Kiel die Ausübung einer Halbtagsbeschäftigung von damals 20 Stunden in der Woche nicht zumutbar. Bei einem noch nicht 18 Jahre alten Kind müßten die Vorschriften des Jugendarbeitsschutzgesetzes (JArbSchG) berücksichtigt werden. Danach dürften Personen, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, nicht mehr als 40 Stunden wöchentlich beschäftigt werden. Diese Höchstbelastungszeit von insgesamt 40 Wochenstunden werde aber übertroffen, wenn D. neben der Belastung von 31 Stunden und 20 Minuten pro Woche durch die Abendrealschule noch einer Halbtagsbeschäftigung nachgehen sollte.
Die Beklagte macht mit der Revision eine Verletzung des § 2 Abs 2 Nr 1 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) geltend. Sie meint, für das Kind sei eine Gesamtbelastung von 57 1/2 Stunden wöchentlich zumutbar. Demzufolge habe D. trotz des Schulbesuchs einer Halbtagsbeschäftigung nachgehen können. Hierbei müsse von der seinerzeit in der Rechtsprechung festgelegten Belastungsobergrenze von 60 Stunden in der Woche ausgegangen und berücksichtigt werden, daß die tarifliche Arbeitszeit inzwischen auf durchschnittlich 38,5 Stunden reduziert worden sei. Wenn der erkennende Senat von einer Obergrenze von 48 Wochenstunden ausgehen wolle, dürfe er die persönlichen Lebensumstände und Verhaltensweisen des jeweiligen Kindes nicht berücksichtigen und müsse insbesondere die Wegezeiten außer Ansatz lassen. Bei Abendschulen seien die Unterrichtsstunden derart gelegt, daß eine Beschäftigung jedenfalls an halben Tagen ohne weiteres möglich bleibe. Es sei auch nicht gerechtfertigt, für Jugendliche unter 18 Jahren eine andere Obergrenze der Belastungsfähigkeit festzusetzen. Dies folge schon aus der Vielzahl von Ausnahmeregelungen im JArbSchG. Im übrigen bezögen sich die dort festgesetzten Belastungsgrenzen auf die reine Arbeitszeit. Nach der Berechnungsweise des LSG würde eine Schulwoche mit 25 Unterrichtsstunden a 45 Minuten bei der Ermittlung der überwiegenden Inanspruchnahme einschließlich der Zeit für Vor- und Nacharbeit und einer angenommenen Wegezeit von einer Stunde pro Schulweg eine Belastung von nur 47,5 Wochenstunden ergeben. Es dürfe nicht unberücksichtigt bleiben, daß für alle Kinder ab Vollendung des 16. Lebensjahres grundsätzlich die gleichen in § 2 Abs 2 BKGG genannten Voraussetzungen Geltung hätten. Eine Sonderbehandlung bestimmter Altersgruppen sei unzulässig.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 16. Dezember 1988 und des Sozialgerichts Kiel vom 23. Juni 1987 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Er bezieht sich auf Urteile des erkennenden Senats vom 23. August 1989 - 10 RKg 5/86 und 10 RKg 8/86 -.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Die Gerichte der Vorinstanzen haben zu Recht angenommen, daß die Tochter D. des Klägers sich in der Zeit von September 1985 bis einschließlich Juli 1986 in einer Schulausbildung befand und er demgemäß einen Anspruch auf das Kindergeld hat. Der Senat kann offenlassen, ob es sich bei dem Bescheid der Beklagten vom 12. November 1985 (in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Januar 1986) um einen Bescheid über die Aufhebung der früheren Kindergeldbewilligung für D. oder um die Ablehnung eines Neuantrages auf Gewährung dieser Leistung handelte; denn die Nichtgewährung der Leistung ist in jedem Falle rechtswidrig.
Unter Schulausbildung im Sinne von § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 1 BKGG wird in der Regel der Besuch öffentlicher oder privater allgemeinbildender und weiterführender Schulen verstanden, wenn der Unterricht nach staatlich genehmigten Lehrplänen für öffentliche Schulen gestaltet wird (vgl BSG SozR 5870 § 2 Nr 32 mwN). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) wird gewöhnlich eine Ausbildung im Rahmen der herkömmlichen Organisationsform einer Schule verlangt, dh der Besuch einer allgemeinbildenden Schule mit Vollzeitunterricht (BSGE 43, 44, 45). Auch Abendschulen, die den Erwerb von Bildungsinhalten, Kenntnissen und Fertigkeiten vermitteln, die für eine spätere berufliche Beschäftigung oder Tätigkeit nützlich, wertvoll und erwünscht sind, gehören zu Schulen in diesem Sinne, wenn sie in entsprechender Organisationsform betrieben werden (vgl dazu BSGE 31, 152, 155; 39, 156). Die Vorinstanzen und auch die Verfahrensbeteiligten gehen zu Recht davon aus, daß es sich bei der Abendschule in Kiel um eine Bildungsanstalt im Sinne des § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 1 BKGG handelte. Die Rechtsprechung hat allerdings den Begriff der Schulausbildung dahin eingeschränkt, daß sie die Zeit und Arbeitskraft des Kindes ausschließlich oder überwiegend in Anspruch nehmen muß (vgl dazu ua BSGE 39, 156, 157). Diese von der Beklagten in den Vordergrund ihrer Überlegungen gestellte Voraussetzung für das Vorhandensein einer Schulausbildung entspricht dem Zweck des Gesetzes. Der Gesetzgeber geht davon aus, daß Kinder nach Vollendung des 16. Lebensjahres in der Regel berufstätig sind und sich selbst unterhalten können. Deshalb hat er den Anspruch auf Kindergeld über die Vollendung des 16. Lebensjahres hinaus nur verlängert, sofern das Kind durch die Schulausbildung gehindert ist, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Das ist aber nur dann der Fall, wenn die Ausbildung wegen der damit verbundenen zeitlichen Inanspruchnahme eine Erwerbstätigkeit nicht mehr zuläßt. Aus diesem Grunde kommt es im vorliegenden Falle darauf an, ob D. durch den Besuch der Abendschule in Kiel in der Zeit vom 1. September 1985 bis zum 31. Juli 1986 überwiegend in Anspruch genommen worden ist und ihr daneben die Ausübung einer wenigstens halbtägigen Erwerbstätigkeit nicht mehr zugemutet werden konnte.
Der Senat hat in seinem Urteil vom 23. August 1989 - 10 RKg 8/86 - (SozR 5870 § 2 Nr 65) die Auffassung vertreten, daß eine Jugendliche, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, sich dann in einer Schulausbildung befindet, wenn diese Ausbildung sie mehr als 20 Stunden pro Woche in Anspruch nimmt. An dieser Auffassung hält der Senat fest. Sie wird insbesondere durch geltende Arbeitszeitschutzvorschriften gestützt. Insbesondere der in § 8 JArbSchG enthaltene Grundgedanke, wonach Jugendliche in der Regel nicht mehr als 40 Stunden pro Woche belastet werden dürfen, zwingt dazu, eine Belastung, wie sie die Beklagte in dem angefochtenen Bescheid zugrunde gelegt hat, als unzumutbar anzusehen. Dieser für die Beschäftigung Jugendlicher gesetzlich verankerte Grundsatz ist in derselben Weise zugunsten von Jugendlichen anzuwenden, welche sich in einer Schulausbildung befinden. Dies bedeutet, daß einem Jugendlichen, welcher durch den Schulbesuch mehr als 20 Stunden in der Woche in Anspruch genommen wird, die Ausübung einer Halbtagsbeschäftigung nicht mehr zumutbar und er daher außerstande ist, seinen Lebensunterhalt im wesentlichen selbst zu verdienen. Für ihn muß demgemäß nach dem Grundgedanken des § 2 Abs 2 BKGG das Kindergeld gezahlt werden.
Nach den Feststellungen in dem angefochtenen Urteil besuchte D. den Schulunterricht mit einer Dauer von 17 Stunden und 20 Minuten wöchentlich. Bei Anlegung eines objektiven allgemeinen Maßstabes hatte sie zusätzlich acht Stunden für die Erledigung ihrer Hausaufgaben aufzuwenden. Ohne Berücksichtigung ihres Schulweges (s dazu die Entscheidung des Senats vom 23. August 1989 - 10 RKg 5/86 -) ergab sich demgemäß eine wöchentliche Belastung des Kindes von über 25 Stunden in der Woche. Dem Kind war es daher nicht mehr zumutbar, seinen Lebensunterhalt im wesentlichen selbst zu verdienen; dies ließ der Besuch der Abendschule nicht zu. D. befand sich demgemäß in der hier interessierenden Zeit in einer Schulausbildung im Sinne des § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 1 BKGG. Hieran ändert nichts, daß der Unterricht für D. frühestens um 16.10 Uhr (Freitag) begann. Ihr hätte, auch wenn man die Zeit für die Hausaufgaben berücksichtigt, theoretisch der Vormittag für eine Halbtagsbeschäftigung zur Verfügung gestanden. Nach Sinn und Zweck des Arbeitsschutzes für Jugendliche kommt es nicht darauf an, wie ihre tägliche Belastung zeitlich geordnet ist. Vielmehr enthalten die Vorschriften des JArbSchG allgemeine Grenzen, welche ohne Rücksicht auf die Gestaltung und Organisation der Arbeit des Jugendlichen gesetzt sind. In diesem Zusammenhang ist auch unerheblich, ob von einem in der Schulausbildung befindlichen Jugendlichen nach Schulrecht erwartet wird, daß er noch einer geregelten Erwerbstätigkeit nachgeht. Es ist daher im vorliegenden Falle unerheblich, ob das Bildungsangebot für D. in Kiel darauf ausgerichtet war, neben dem Besuch der Abendschule eine kurzzeitige Beschäftigung zu ermöglichen.
Nach alledem befand D. sich in einer Schulausbildung. Der Kläger hat demgemäß für die Dauer dieses Schulbesuches Anspruch auf das begehrte Kindergeld. Die Revision der Beklagten war zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen