Entscheidungsstichwort (Thema)
Wirtschaftlichkeitsprüfung. Prüfvereinbarung. Abhilfeverfahren nach Widerspruchseinlegung. Kostengrundentscheidung nach § 63 SGB 10. Notwendigkeit der Zuziehung eines Rechtsanwalts im Wirtschaftlichkeitsprüfungsverfahren
Leitsatz (amtlich)
1. Sieht eine Prüfvereinbarung für Verfahren der vertrags(zahn)ärztlichen Wirtschaftlichkeitsprüfung nach Widerspruchseinlegung ein Abhilfeverfahren vor und hilft der Prüfungsausschuss dem Rechtsbehelf ab, ist eine Kostengrundentscheidung gemäß § 63 SGB 10 zu treffen.
2. Die Zuziehung eines Rechtsanwalts in Verfahren der Wirtschaftlichkeitsprüfung ist notwendig, wenn in der Widerspruchsbegründung nicht allein medizinische Aspekte der Behandlungsweise, sondern schwierige Sachfragen und/oder Rechtsfragen erörtert werden (Fortführung von BSG vom 15.12.1987 - 6 RKa 21/87 = SozR 1300 § 63 Nr 12).
Normenkette
SGB V § 106 Abs. 5 Sätze 5-6; SGB X §§ 62, 63 Abs. 1 S. 1, Abs. 2, 3 S. 2; SGG §§ 83, 85 Abs. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Streitig ist ein Anspruch auf Kostenerstattung nach erfolgreichem Widerspruch des Vertragsarztes im Verfahren der Wirtschaftlichkeitsprüfung.
Die Klägerin, eine zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassene Ärztin für Allgemeinmedizin, unterlag mit ihren Heilmittelverordnungen bereits in den Jahren 1996 bis 1998 der Wirtschaftlichkeitsprüfung, wobei für die Quartale der Jahre 1997 und 1998 jeweils Regresse in Höhe von 5 % bzw 10 % der veranlassten Verordnungskosten festgesetzt wurden. Für das Quartal III/1999 verfügte der Prüfungsausschuss erneut einen Regress wegen unwirtschaftlicher Verordnung von Heilmitteln in Höhe von 5 % bzw 1.251,79 € ( Bescheid vom 15. November 2001 ). Die Klägerin erhob Widerspruch und trug nach Einsichtnahme der Verordnungsblätter durch ihren bevollmächtigten Rechtsanwalt vor, die Datengrundlage der Prüfung sei infolge der Einbeziehung zahlreicher Verordnungen aus anderen Quartalen fehlerhaft. Daraufhin hob der Prüfungsausschuss den Regressbescheid auf ( Abhilfebescheid vom 6. März 2003 ).
Den Antrag der Klägerin, ihre Aufwendungen für die Zuziehung eines Rechtsanwalts in diesem Prüfverfahren für erforderlich zu erklären und ihre außergerichtlichen Kosten zu erstatten, lehnte der Prüfungsausschuss ab ( Bescheid vom 6. Juni 2003 ). Ihr Widerspruch blieb erfolglos. Der beklagte Beschwerdeausschuss führte in seinem Bescheid aus, jedenfalls im Abhilfeverfahren vor dem Prüfungsausschuss sei die Zuziehung eines Rechtsanwalts grundsätzlich nicht notwendig. Besondere Umstände, die ausnahmsweise eine andere Beurteilung rechtfertigen könnten, lägen nicht vor. Gegenstand des Streits seien rein medizinische Angelegenheiten bzw Fachfragen gewesen. Insbesondere hätte die Klägerin den Umstand von Quartalsverschiebungen der geprüften Heilmittelverordnungen, der letztlich zur Aufhebung des Regresses geführt habe, nach persönlicher Einsichtnahme in die Verordnungsblätter selbst vortragen können. Im Bereich der Sachaufklärung könne die Zuziehung eines Rechtsanwalts nicht als notwendig angesehen werden, da sich juristische Fragestellungen erst als Folge der Sachaufklärung ergäben ( Beschluss vom 15. Dezember 2003 ).
Das Sozialgericht (SG) hat den Beklagten verpflichtet, die Zuziehung eines Bevollmächtigten in dem Widerspruchsverfahren für erforderlich zu erklären und der Klägerin die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen zu erstatten. Es hat zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, die Voraussetzungen für einen Kostenerstattungsanspruch nach § 63 Abs 1 iVm Abs 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) seien erfüllt, da der Widerspruch der Klägerin im Abhilfeverfahren vollumfänglich erfolgreich und die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten notwendig gewesen sei. Die Regelung in § 19 Abs 4 iVm § 18 Abs 2 Satz 4 der im streitigen Quartal anzuwendenden "Vereinbarung zur Prüfung der Wirtschaftlichkeit der vertragsärztlichen Versorgung" vom 27. Dezember 1993 (Prüfvereinbarung), derzufolge der betroffene Arzt im Abhilfeverfahren auf seine Kosten einen Rechtsbeistand hinzuziehen könne, sei wegen des vorrangig geltenden § 63 SGB X unwirksam. Bei der danach maßgeblichen ex-ante-Beurteilung müsse davon ausgegangen werden, dass in Verfahren der vertragsärztlichen Wirtschaftlichkeitsprüfung angesichts der Komplexität und Kompliziertheit der Materie die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten in der Regel erforderlich sei. Insbesondere könnten die rechtlichen Vorgaben für Regresse nicht einem leicht verständlichen Gesetz, sondern nur der umfassenden höchstrichterlichen Judikatur entnommen werden. Dies rechtfertige die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten für das Widerspruchsverfahren, zu dem auch das Abhilfeverfahren gehöre. Soweit das Bundessozialgericht (BSG) im Urteil vom 15. Dezember 1987 ( SozR 1300 § 63 Nr 12 ) die Zuziehung eines Rechtsanwalts im Abhilfeverfahren vor dem Prüfungsausschuss als grundsätzlich nicht notwendig erachtet habe, sei dem nicht zu folgen. Zwar könne es sich anbieten, die Beanstandungen in einem unmittelbaren Gespräch zwischen dem betroffenen Arzt und dem Prüfungsausschuss zu erörtern. Dennoch sei neben einer medizinischen Erörterung des streitigen Sachverhalts bereits in diesem frühen Verfahrensstadium auch eine juristische Auseinandersetzung angezeigt. Hierfür sei, da ein Vertragsarzt erfahrungsgemäß nicht über hinreichenden juristischen Sachverstand verfüge, die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten regelmäßig notwendig ( Urteil vom 6. Oktober 2004 ).
Der Beklagte rügt mit seiner Sprungrevision eine Verletzung von § 106 Abs 5 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) sowie von § 63 SGB X. Das SG habe verkannt, dass den verfahrensrechtlichen Regelungen in § 106 Abs 5 Satz 5 und 6 SGB V als lex specialis Vorrang vor den Vorschriften in §§ 77 ff Sozialgerichtsgesetz (SGG) zukomme, soweit nicht ausdrücklich in § 106 Abs 5 Satz 5 SGB V auf Bestimmungen des SGG Bezug genommen werde. Das sei hinsichtlich des vom SG herangezogenen § 83 SGG nicht der Fall. Hieraus sowie aus der Regelung in § 106 Abs 5 Satz 6 SGB V, wonach nur das Verfahren vor dem Beschwerdeausschuss als Vorverfahren iS von § 78 SGG gelte, ergebe sich, dass das Abhilfeverfahren vor dem Prüfungsausschuss kein Bestandteil des Vorverfahrens iS von § 63 Abs 2 SGB X sei. Da bereits die genannten Vorschriften einer Erstattung von Kosten im Abhilfeverfahren vor dem Prüfungsausschuss entgegenstünden, komme es auf die Frage der Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Rechtsanwalts im Abhilfeverfahren nicht an. Ein Anspruch auf Kostenerstattung lasse sich auch nicht aus § 63 Abs 1 SGB X ableiten, denn diese Vorschrift sei nicht geeignet, die in § 63 Abs 2 SGB X geregelte Erstattungsfähigkeit für Kosten eines Rechtsanwalts zu erweitern; zudem stelle das Abhilfeverfahren vor dem Prüfungsausschuss auch kein Widerspruchsverfahren dar. Darüber hinaus macht der Beklagte vorsorglich geltend, die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts im Abhilfeverfahren sei entsprechend den Grundsätzen des BSG-Urteils vom 15. Dezember 1987 hier nicht notwendig gewesen. Es sei zu berücksichtigen, dass die Beratungsfunktion der Prüfgremien gegenüber dem Arzt bei Hinzuziehung eines Rechtsanwalts bereits im ersten Verwaltungsverfahren eher beeinträchtigt werde.
Der Beklagte beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts für das Saarland vom 6. Oktober 2004 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die Entscheidung des SG für zutreffend. Ihr Widerspruch sei im Ergebnis erfolgreich gewesen, sodass jedenfalls im Umfang von § 63 Abs 1 SGB X ein Kostenerstattungsanspruch begründet sei. Darüber hinaus ergebe sich dieser Anspruch auch aus § 63 Abs 2 SGB X. Wenn nach dem Wortlaut von § 106 Abs 5 Satz 6 SGB V nur das Verfahren vor dem Beschwerdeausschuss als Vorverfahren gelte, so beruhe dies darauf, dass in der vertragsärztlichen Wirtschaftlichkeitsprüfung gemäß § 106 Abs 5 Satz 5 SGB V die Durchführung eines Abhilfeverfahrens unzulässig sei und deshalb gegen Entscheidungen des Prüfungsausschusses nur der Beschwerdeausschuss angerufen werden könne. Werde dennoch ein Abhilfeverfahren vor dem Prüfungsausschuss durchgeführt, müsse § 63 Abs 2 SGB X zumindest analog angewendet werden. Aber auch wenn ein Abhilfeverfahren vor dem Prüfungsausschuss für zulässig erachtet werde, sei dies nur sinnvoll, wenn der Arzt bereits hier alle Einwände vorbringe, die eine Abänderung des ursprünglichen Bescheids durch den Prüfungsausschuss gebieten könnten. Hierfür sei angesichts der Kompliziertheit von Wirtschaftlichkeitsprüfungsverfahren bei einer ex-ante-Betrachtung die Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe geboten. Zumindest liege ein "besonderer Fall" vor, für den das BSG die Möglichkeit einer Kostenerstattung auch für das Abhilfeverfahren anerkannt habe.
Die zu 1. beigeladene Kassenärztliche Vereinigung (KÄV) und der zu 2. beigeladene Krankenkassenverband schließen sich dem Standpunkt des Beklagten an, ohne selbst einen Antrag zu stellen. Die übrigen beigeladenen Krankenkassen(-verbände) äußern sich nicht zur Sache. Alle Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision hat keinen Erfolg. Der Beklagte ist verpflichtet, zu Gunsten der Klägerin eine Kostengrundentscheidung für das Vorverfahren zu treffen und dabei auch die Zuziehung eines Bevollmächtigten für notwendig zu erklären. Die Ablehnung bzw das Unterlassen dieser Entscheidungen durch den Beklagten beschweren die Klägerin in rechtswidriger Weise ( § 54 Abs 2 Satz 1 SGG ).
Rechtsgrundlage für den zutreffend im Wege einer Verpflichtungsklage ( Versagungsgegenklage gemäß § 54 Abs 1 Satz 1 Variante 3 SGG - vgl BSG SozR 3-1500 § 63 Nr 7 S 10 ) geltend gemachten Anspruch auf Erlass einer Kostengrundentscheidung sowie auf Feststellung der Notwendigkeit der Zuziehung eines Rechtsanwalts ist § 63 SGB X. Diese Vorschrift regelt die Kostenerstattungspflicht und Kostenfestsetzung im sog isolierten Vorverfahren, also in einem förmlichen Rechtsbehelfsverfahren iS des § 62 SGB X, an das sich - jedenfalls wegen der Hauptsache - kein gerichtliches Verfahren anschließt. Sie findet auch auf Verfahren der vertragsärztlichen Wirtschaftlichkeitsprüfung unmittelbar Anwendung ( BSG SozR 3-1300 § 63 Nr 10 S 33, mwN; SozR 4-1930 § 6 Nr 1 RdNr 5 ). Gemäß § 63 Abs 1 Satz 1 SGB X hat der Rechtsträger, dessen Behörde den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat, demjenigen, der Widerspruch erhoben hat, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen zu erstatten, soweit sein Widerspruch erfolgreich gewesen ist (materiellrechtlicher Kostenerstattungsanspruch). Erfolgreich ist ein Widerspruch, wenn der Rechtsbehelf ursächlich zur Aufhebung einer Entscheidung im Rahmen verwaltungsinterner Kontrolle geführt hat ( vgl BSG SozR 3-1300 § 63 Nr 3 S 13 f ).
In verfahrensrechtlicher Hinsicht verpflichtet § 63 Abs 3 SGB X die Behörde, im Falle eines ganz oder teilweise erfolgreichen Widerspruchs eine Kostengrundentscheidung zu treffen ( vgl BSG, Urteil vom 16. März 2006 - B 4 RA 59/04 R -, RdNr 22, zur Veröffentlichung in SozR 4 vorgesehen; s auch Roos in von Wulffen, SGB X, 5. Aufl 2005, § 63 RdNr 31 ) und darin auch zu bestimmen, ob die gegebenenfalls erfolgte Zuziehung eines Rechtsanwalts oder eines sonstigen Bevollmächtigten notwendig war ( § 63 Abs 3 Satz 2 SGB X ). Anders als im gerichtlichen Verfahren, in dem die Zuziehung eines Rechtsanwalts oder eines sonstigen Bevollmächtigten nach Anordnung des Gesetzgebers iS einer unwiderlegbaren Vermutung stets als notwendig erachtet wird ( § 193 Abs 3 SGG bzw § 162 Abs 2 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung ≪VwGO≫ ), erstreckt sich ein Kostenerstattungsanspruch für das verwaltungsinterne Vorverfahren gemäß § 63 Abs 2 SGB X gegenständlich auf Gebühren und Auslagen eines Rechtsanwalts nur dann, wenn die Notwendigkeit der Zuziehung eines Bevollmächtigten im Einzelfall bejaht werden kann. Die Festsetzung der konkreten Höhe zu erstattender Aufwendungen - sowohl für einen Bevollmächtigen als auch hinsichtlich sonstiger Auslagen - erfolgt hingegen in einem von der Kostengrundentscheidung abgeschichteten Verfahren ( § 63 Abs 3 Satz 1 SGB X ).
Einzige tatbestandliche Voraussetzung für die gegenständliche Erstreckung der Kostengrundentscheidung auf die Gebühren und Auslagen eines Rechtsanwalts ist die Notwendigkeit von dessen Zuziehung. Hingegen bedeutet die in § 63 Abs 2 SGB X enthaltene Wendung "im Vorverfahren" nicht, dass ein nach § 63 Abs 1 SGB X entstandener Kostenerstattungsanspruch im Falle der Zuziehung eines Bevollmächtigten auf bestimmte Verfahrensabschnitte begrenzt und insbesondere ein gegebenenfalls zunächst vor der Ausgangsbehörde durchzuführendes Abhilfeverfahren davon ausgenommen wäre. Der Begriff "Vorverfahren" in § 63 Abs 2 SGB X bezeichnet den Verfahrensabschnitt, der mit Einlegung eines förmlichen Rechtsbehelfs iS von § 62 Abs 1 SGB X beginnt und entweder durch Abhilfe oder durch einen Widerspruchsbescheid abgeschlossen wird ( vgl Krasney in Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, Stand März 1995, § 62 SGB X RdNr 9 sowie § 63 SGB X RdNr 6 ). Er beschreibt genau denselben Gegenstand, für den § 63 Abs 1 SGB X die Regelung für das "ob" der Kostenerstattung vorgibt ( vgl BSG SozR 3-1300 § 63 Nr 1 S 2 ). Die Vorschriften des Sozialverwaltungsverfahrensrechts unterscheiden sich insoweit nicht von der Regelung im allgemeinen Verwaltungsverfahrensrecht. Diesbezüglich ordnet § 72 letzter Satzteil VwGO explizit eine Kostengrundentscheidung - auf der Grundlage von § 80 Verwaltungsverfahrensgesetz, dem § 63 SGB X nachgebildet ist - an, wenn das Widerspruchsverfahren noch vor der Ausgangsbehörde durch eine Abhilfeentscheidung endet ( vgl BVerwGE 101, 64, 67 = NVwZ 1997, 272; Redeker/von Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, 14. Aufl 2004, § 72 RdNr 3 sowie § 73 RdNr 24 ff ).
Ein nach Widerspruchseinlegung zunächst durchzuführendes Abhilfeverfahren vor dem Prüfungsausschuss, wie es in verschiedenen Prüfvereinbarungen und so auch im Bezirk der beigeladenen KÄV normiert ist, ist somit ebenfalls Teil des Vorverfahrens iS von § 63 SGB X ( vgl bereits BSG SozR 1300 § 63 Nr 12 S 44 ). Deshalb bedarf es im Rahmen dieses Rechtsstreits keiner Entscheidung, ob ein solches Abhilfeverfahren wegen des fehlenden Verweises in § 106 Abs 5 Satz 5 SGB V auf § 85 Abs 1 SGG für den Bereich der vertrags(zahn)ärztlichen Wirtschaftlichkeitsprüfung generell unzulässig und rechtswidrig ist (insoweit zweifelnd der vormals für das Vertragszahnarztrecht zuständig gewesene 14a-Senat in BSGE 72, 214, 220 = SozR 3-1300 § 35 Nr 5 S 11; ebenso Hess in Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, aaO, § 106 SGB V RdNr 91; Engelhard in Hauck/Noftz, SGB V, K § 106 RdNr 596 f; Ascher, Die Wirtschaftlichkeitsprüfung mit Richtgrößenprüfung, 3. Aufl 2005, S 56; Stellpflug, Vertragsarztrecht/Vertragszahnarztrecht, 1. Aufl 2005, RdNr 589; Nix, MedR 2006, S 152, 154 f; Raddatz/Szidat, Die Wirtschaftlichkeit der Kassenärztlichen und Kassenzahnärztlichen Versorgung in der Rechtsprechung - WKR -, Stand April 1999, Nr 4.2.4.7 S 30 f; Peikert in Schnapp/Wigge, Handbuch des Vertragsarztrechts, 2. Aufl 2006, § 20 RdNr 15) oder ob das Abhilfeverfahren im Falle entsprechender Regelung in der Prüfvereinbarung in Übereinstimmung mit den allgemeinen Vorschriften für das Widerspruchsverfahren ( § 85 Abs 1 SGG ) auch in der Wirtschaftlichkeitsprüfung zur Anwendung kommen kann (vgl zB Hencke in Peters, Handbuch der Krankenversicherung, Teil II - SGB V, Stand November 2000, § 106 RdNr 32, 37; Krauskopf, Soziale Krankenversicherung - Pflegeversicherung, Band 2, Stand September 2005, § 106 SGB V RdNr 80, 85; Jörg, Das neue Kassenarztrecht, 1993, RdNr 504) . Selbst wenn das Abhilfeverfahren per se unzulässig wäre, könnte dessen tatsächliche Durchführung dem betroffenen Vertragsarzt auch in kostenrechtlicher Hinsicht nicht zum Nachteil gereichen. Sofern das Vorschalten eines Abhilfeverfahrens aber eine zulässige Möglichkeit der Ausgestaltung des Wirtschaftlichkeitsprüfungsverfahrens darstellt, ist es nach obigen Darlegungen gleichwohl Teil des Vorverfahrens iS von § 63 SGB X und damit geeignet, einen Kostenerstattungsanspruch auszulösen, wenn es für den Widerspruchsführer mit einer vollständigen oder teilweisen Abhilfe endet.
Dem kann nicht mit Erfolg entgegengehalten werden, dass nach ausdrücklicher Anordnung in § 106 Abs 5 Satz 6 SGB V ( idF des GKV-Gesundheitsreformgesetzes 2000 vom 22. Dezember 1999, BGBl I 2626; zuvor Satz 7 idF des Gesundheitsstrukturgesetzes vom 21. Dezember 1992, BGBl I 2266 ) nur das Verfahren "vor dem Beschwerdeausschuss" als Vorverfahren gilt und ein Abhilfeverfahren vor dem Prüfungsausschuss daher kein Vorverfahren darstellt. § 106 Abs 5 Satz 6 SGB V ordnet lediglich an, dass das Verfahren sui generis vor dem Beschwerdeausschuss als Vorverfahren iS von § 78 SGG gilt und deshalb für einen weiterhin beschwerten Beteiligten die Anfechtungsklage vor dem SG eröffnet, ohne - auch vor dem Beschwerdeausschuss - Vorverfahren gemäß § 78 SGG zu sein ( vgl BSGE 74, 59, 61 = SozR 3-2500 § 106 Nr 22 S 120 ). Die Vorschrift trifft jedoch keine Regelung zu der Frage, ob ein nach Widerspruchseinlegung durchgeführtes Abhilfeverfahren vor der Ausgangsbehörde, in dem der Widerspruchsführer vollständig obsiegt (sodass es eines anschließenden Klageverfahrens nicht mehr bedarf) als Bestandteil des Rechtsbehelfsverfahren iS von § 62 SGB X anzusehen ist. Dies ist aus den bereits dargelegten systematischen Gründen zu bejahen. Zudem würde eine bei erfolgreichem Widerspruch ebenso bestehende Kostenlast des Widerspruchsführers dazu beitragen, die Wahrnehmung der von der Rechtsordnung zur Verfügung gestellten Rechtsschutzmöglichkeiten durch den Bürger unangemessen zu erschweren ( vgl hierzu BSG SozR 3-1300 § 63 Nr 10 S 36; ähnlich BVerwGE 101, 64, 72 = NVwZ 1997, 272, 274 ).
Der nach bundesrechtlichen Vorschriften gemäß § 63 SGB X bestehende Kostenerstattungsanspruch im Falle eines für den Widerspruchsführer erfolgreich abgeschlossenen Abhilfeverfahrens vor der Ausgangsbehörde kann durch abweichende Bestimmungen in einer Prüfvereinbarung nicht wirksam eingeschränkt werden. Dies hat der Senat für den Zeitraum nach In-Kraft-Treten des SGB V am 1. Januar 1989 bereits entschieden ( BSG SozR 3-1300 § 63 Nr 10 S 34 ff ); daran hält er fest. Die Regelung in § 19 Abs 4 iVm § 18 Abs 2 Satz 4 der für den Bezirk der beigeladenen KÄV geltenden Prüfvereinbarung vom 27. Dezember 1993, wonach der betroffene Arzt "auf seine Kosten" einen Rechtsbeistand hinzuziehen kann, enthält in der Auslegung durch das SG einen solchen Ausschluss der Erstattungsfähigkeit von Rechtsanwaltskosten im Abhilfeverfahren. Dies erscheint zwar nicht zwingend, doch ist der Senat an diese Auslegung von Landesrecht gemäß § 162 SGG gebunden. Wie das SG aber zutreffend erkannt hat, steht die Vorschrift in dieser Auslegung im Widerspruch zu höherrangigem Bundesrecht und ist deshalb unwirksam.
Die Klägerin, deren Widerspruch gegen die Regressfestsetzung der Prüfungsausschuss auf der Grundlage ihrer Darlegungen zur unzutreffenden Datengrundlage für begründet erachtet und deshalb vollständig abgeholfen hat, kann somit gemäß § 63 Abs 1 Satz 1 SGB X zunächst vom Prüfungsausschuss den Erlass einer Kostengrundentscheidung zu ihren Gunsten beanspruchen ( vgl BSG SozR 3-1300 § 63 Nr 12 S 41 ). Lehnt - wie hier - der Prüfungsausschuss den Erlass eines entsprechenden Verwaltungsakts ab, obliegt es im anschließenden Widerspruchsverfahren und im nachfolgenden Klageverfahren dem mit Widerspruchserhebung funktionell umfassend zuständig gewordenen Beschwerdeausschuss, diesen Anspruch auf Bescheidung zu erfüllen. Der Beklagte ist deshalb zu verurteilen, die Kostengrundentscheidung selbst zu erlassen, und nicht lediglich dazu, den Prüfungsausschuss zum Erlass der Kostengrundentscheidung zu verpflichten .
Die Klägerin kann, wie das SG zutreffend entschieden hat, auch verlangen, dass der Beklagte die Notwendigkeit der Zuziehung eines Rechtsanwalts für das Rechtsbehelfsverfahren feststellt ( § 63 Abs 2 iVm Abs 3 Satz 2 SGB X ).
Die Frage der Notwendigkeit der Zuziehung eines Rechtsanwalts im Vorverfahren ist danach zu beurteilen, ob der Widerspruchsführer im Zeitpunkt der Beauftragung seines Bevollmächtigten es für erforderlich halten durfte, im Vorverfahren durch einen Rechtsanwalt unterstützt zu werden ( sog Ex-ante-Sicht, vgl Senatsbeschluss vom 29. September 1999 - B 6 KA 30/99 B - juris, mwN ). Dies ist der Fall, wenn schwierige Sachfragen oder Rechtsfragen eine Rolle spielen und deshalb ein Bürger mit dem Bildungs- und Erfahrungsstand des Widerspruchsführers sich vernünftigerweise eines Rechtsanwalts bedient. In Konkretisierung dieser Grundsätze für den Bereich des kassen- bzw vertragsärztlichen Wirtschaftlichkeitsprüfungsverfahrens hat der Senat im Urteil vom 15. Dezember 1987 entschieden, dass "hinsichtlich der Prüfung der Abrechnung und der Behandlungsweise eines Kassen- und Vertragsarztes" jedenfalls im Abhilfeverfahren vor dem Prüfungsausschuss nach § 17 Abs 2 Ersatzkassenvertrag-Zahnärzte in der damals geltenden Fassung die Zuziehung eines Rechtsanwalts grundsätzlich nicht notwendig war; bei Vorliegen besonderer Umstände konnte allerdings eine abweichende Beurteilung geboten sein ( BSG SozR 1300 § 63 Nr 12 S 45 ). Der Senat hat bei dieser typisierenden Bewertung in erster Linie auf die medizinischen Fachfragen abgestellt, die im Rahmen der Beurteilung einer bestimmten Behandlungsweise von Bedeutung sind und für deren Erörterung in einem unmittelbaren Gespräch speziell die geprüften Vertrags(zahn)ärzte besondere Kompetenz mitbringen. Ob dieser Grundsatz auch auf Prüfungen der Verordnungsweise uneingeschränkt übertragbar ist, wo sich zusätzlich zu den medizinischen Fachfragen der Behandlungsausrichtung vielfältige Fragen der - von dem betroffenen Arzt selbst oftmals nicht erkennbaren - Heranziehung einer zutreffenden Datengrundlage für einen Regress stellen ( vgl BSGE 95, 199 = SozR 4-2500 § 106 Nr 11, jeweils RdNr 23 ff ), hat der Senat in dem genannten Urteil nicht entschieden.
Es bedarf im Rahmen dieses Rechtsstreits keiner abschließenden Entscheidung darüber, ob an der im Urteil vom 15. Dezember 1987 ( BSG, aaO ) für den Abschnitt des Abhilfeverfahrens iS grundsätzlich fehlender Notwendigkeit der Zuziehung eines Rechtsanwalts aufgestellten Regel angesichts der zwischenzeitlichen Rechtsentwicklung im Bereich der Wirtschaftlichkeitsprüfung noch festzuhalten ist. Diese in den vergangenen 20 Jahren stattgefundene Rechtsentwicklung wird bereits äußerlich in einer erheblichen Ausweitung des Umfangs der normativen Grundlagen für die Wirtschaftlichkeitsprüfung deutlich. Während sich diese ursprünglich in einem einzigen Absatz des § 368n Reichsversicherungsordnung - dort Abs 5 - erschöpften, umfassen sie in § 106 SGB V idF des GKV-Modernisierungsgesetzes vom 14. November 2003 ( BGBl I 2190 ) mittlerweile bereits 19 Absätze. Angesichts dieser Entwicklung bei den Rechtsgrundlagen der Wirtschaftlichkeitsprüfung und der hierzu umfangreich ergangenen Rechtsprechung wird vielfach für eine Umkehrung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses iS regelmäßiger Notwendigkeit der Zuziehung eines Rechtsanwalts in Verfahren der Wirtschaftlichkeitsprüfung plädiert ( vgl zB LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 15. Juli 1998 - L 11 KA 144/97 - juris; LSG Hamburg, Urteil vom 25. April 2001 - II KABf 9/96 - juris; Engelhard in Hauck/Noftz, aaO, K § 106 RdNr 618 f; Hess in Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, aaO, § 106 RdNr 92; Spellbrink, Wirtschaftlichkeitsprüfung im Kassenarztrecht nach dem Gesundheitsstrukturgesetz, 1994, RdNr 338; Steinhilper in Ehlers ≪Hrsg≫, Wirtschaftlichkeitsprüfung Vertragsärzte/Vertragszahnärzte, 2. Aufl 2002, RdNr 454; Raddatz in WKR, 4.2.4.6 S 29 ). Ob dem in dieser pauschalen Form zu folgen ist, kann hier jedoch offen bleiben. Jedenfalls dann, wenn nicht allein medizinische Aspekte der wirtschaftlichen Behandlungsweise im Zentrum des Vorbringens des Widerspruchsführers stehen, sondern wenn schwierige Sachfragen - zB hinsichtlich des Vorhandenseins zutreffender Datengrundlagen für die Prüfung - oder Rechtsfragen angesprochen werden oder sonstige besondere Umstände vorliegen, ist es schon nach der bisherigen Rechtsprechung des Senats einem Vertrags(zahn)arzt nicht zuzumuten, das Widerspruchsverfahren und auch ein ggf vorgeschaltetes Abhilfeverfahren vor dem Prüfungsausschuss alleine - dh ohne anwaltliche Unterstützung - durchzuführen.
So verhält es sich auch im hier zu entscheidenden Fall. Die Klägerin, gegen die bereits für acht Quartale der beiden vorangegangenen Jahre Regresse festgesetzt worden waren und die deshalb mit Weiterungen - Disziplinarverfahren wegen fortgesetzter Unwirtschaftlichkeit, ggf sogar Zulassungsentziehung - über das konkrete Verfahren hinaus rechnen musste, hatte ihren Widerspruch nicht auf medizinische Fachfragen einer wirtschaftlichen Behandlungsweise, sondern darauf gestützt, dass sich die Datengrundlage der Prüfung nach Akteneinsicht aus ihrer Sicht als völlig unzureichend erwies (umfangreiche Liste zeitlicher Fehlzuordnungen von Heilmittelrezepten, die nach Bereinigung zu einer erheblich geringeren Überschreitung des Fachgruppendurchschnitts führten). Hinsichtlich solcher Umstände muss ein Vertragsarzt kraft seines Berufes und der mit ihm einhergehenden Informationspflichten keine näheren Kenntnisse haben. Jeder Bürger in der Lage der Klägerin hätte sich zur weiteren Abklärung vermuteter Ungereimtheiten in der Datengrundlage vernünftigerweise anwaltlicher Hilfe bedient. Es kann der Klägerin auch nicht vorgehalten werden, sie habe die Fehlzuordnungen leicht selbst erkennen können und auch selbst vortragen müssen. Denn auch der fachkundig besetzte Prüfungsausschuss hatte im Rahmen seiner ersten Befassung mit der Angelegenheit diesbezüglich von Amts wegen keine Feststellungen getroffen.
Allerdings besteht für den Fall, dass ein Widerspruch ohne nähere Begründung eingelegt wird und der Prüfungsausschuss auf Grund eigener nochmaliger Überprüfung dem Rechtsbehelf abhilft, keine Notwendigkeit für die Zuziehung eines Rechtsanwalts oder eines sonstigen Bevollmächtigten. Der formale Akt bloßer Widerspruchserhebung ist auch jedem Vertrags(zahn)arzt ohne anwaltliche Unterstützung zumutbar. Wenn aber - wie hier - der Widerspruch nach Ablauf der für das Abhilfeverfahren in der Prüfvereinbarung vorgesehenen Frist von zwei Monaten mit anwaltlicher Hilfe begründet wird und darin über medizinische Fachfragen hinaus auch Fragen der zutreffenden Sachverhaltsermittlung oder Rechtsfragen detailliert erörtert werden, muss im Falle des Erfolgs des Rechtsbehelfs die Zuziehung des Bevollmächtigten iS von § 63 Abs 2 SGB X als notwendig festgestellt werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Halbsatz 3 SGG iVm einer entsprechenden Anwendung von § 154 Abs 2 VwGO. Da die Beigeladenen keine Anträge gestellt haben, sind sie weder zur Tragung von Kosten verpflichtet ( § 154 Abs 3 VwGO ) noch sind ihre außergerichtlichen Kosten zu erstatten ( § 162 Abs 3 VwGO ). Die Streitwertfestsetzung nach Maßgabe der Höhe der von der Klägerin geltend gemachten Rechtsanwaltsvergütung für das Widerspruchsverfahren hat ihre Grundlage in § 197a Abs 1 Satz 1 Halbsatz 1 SGG iVm §§ 63 Abs 2, 52 Abs 3, 47 Abs 1 Gerichtskostengesetz.
Fundstellen
ArztR 2007, 105 |
NZS 2007, 166 |
SGb 2006, 739 |
ZMGR 2007, 47 |