Entscheidungsstichwort (Thema)
Anrechnung des Zeitraums zwischen Abitur und Beginn des „praktischen Jahres” vor Aufnahme eines Studiums in der DDR als Anrechnungszeit wegen Schulausbildung
Leitsatz (amtlich)
Die Zeit zwischen Ablegung der Reifeprüfung und Beginn des praktischen Jahres, das in der DDR in der Zeit von 1957 bis 1963 grundsätzlich von Studienbewerbern vor Aufnahme eines Studiums zu absolvieren war, ist als sogenannte unvermeidbare Zwischenzeit der Anrechnungszeit wegen Schulausbildung zuzurechnen, wenn die Zwischenzeit nicht 4 Monate übersteigt und der Abiturient im Anschluß an das praktische Jahr zum frühestmöglichen Zeitpunkt das Studium aufnimmt.
Stand: 4. Dezember 2000
Normenkette
SGB VI § 58 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 Buchst. b Fassung: 1989-12-18, § 252 Abs. 4 Fassung 1989-12-18
Beteiligte
Bundesversicherungsanstalt für Angestellte |
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 13. Mai 1998 aufgehoben. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 13. Dezember 1996 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten auch des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger begehrt von der Beklagten die Feststellung eines höheren Wertes seiner Rechte auf Rente wegen Berufsunfähigkeit (Rente wegen BU), auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (Rente wegen EU) „auf Zeit” und „auf Dauer” unter Zuerkennung einer weiteren (Ausbildungs-)Anrechnungszeit.
Der am 7. Mai 1940 geborene Kläger hatte in der DDR die Oberschule besucht und am 6. Juni 1958 die Reifeprüfung abgelegt. Er hatte sich für ein Studium an der Technischen Hochschule D. beworben, die ihm die Ausübung eines praktischen Jahres vorschlug. Am 1. September 1958 nahm der Kläger eine Beschäftigung als Laborwerker beim VEB Braunkohlekombinat L. auf. Zum 25. November 1958 wurde er als Student an der Universität L. zugelassen und in der Fachrichtung Physik nachimmatrikuliert. Am 2. Juli 1964 schloß er das Studium erfolgreich als Diplom-Physiker ab.
Mit Bescheid vom 13. Januar 1993 erkannte die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) ihm das Recht auf eine Rente wegen BU ab 1. Februar 1992 zu. Bei der Feststellung des Wertes der Rente berücksichtigte sie die Zeit der Schulausbildung nach dem vollendeten 16. Lebensjahr (7. Mai 1956) bis 6. Juni 1958 und die Zeit der Hochschulausbildung ab 29. November 1958 jeweils als Anrechnungszeit; ferner legte sie die Zeit vom „1. Februar” bis 28. November 1958 als Pflichtbeitragszeit in der knappschaftlichen Rentenversicherung zugrunde; den in der Zeit vom „1. September” bis 28. November 1958 erzielten Verdienst verteilte sie auf diesen Zeitraum.
Dem Widerspruch des Klägers, mit dem der Kläger die Wertfeststellung der Rente beanstandet hatte, half die Beklagte teilweise ab; im übrigen wies sie den Widerspruch zurück (Widerspruchsbescheid vom 16. September 1993).
Während des Klageverfahrens nahm die Beklagte eine Neufeststellung des Rechts auf Rente wegen BU vor (Bescheid vom 29. Oktober 1993). Mit Bescheid vom 14. Oktober 1994 erkannte sie dem Kläger das Recht auf eine Rente wegen EU auf Zeit vom 1. Juni 1993 bis 31. Dezember 1995 zu; mit den Bescheiden vom 1. Dezember 1994 und 20. Januar 1995 berechnete sie Nachzahlungen unter Anrechnung von Arbeitslosengeld (Alg); mit Bescheid vom 11. April 1996 erkannte sie dem Kläger das Recht auf eine Rente wegen EU auf Dauer ab 1. Januar 1996 zu; mit Bescheid vom 2. Juli 1996 erkannte die Beklagte an, daß der Versicherungsfall der BU nicht im Januar 1992, sondern bereits im Dezember 1991 eingetreten sei und stellte den Rentenwert für die Zeit vom 1. Januar 1992 bis 31. Mai 1993 neu fest; unter Anrechnung weiterer Entgelte für die Jahre 1968 und 1969 erfolgte eine erneute Neufeststellung der Rente wegen BU für die Gesamtbezugszeit vom 1. Januar 1992 bis 31. Mai 1993 (Bescheid vom 13. August 1996); hierbei berücksichtigte sie die Zeit vom 1. September bis 28. November 1958 als Beitragszeit; die bisher als beitragsgeminderte Zeit zugrunde gelegte Zeit vom 1. Februar bis 6. Juni 1958 wurde nunmehr als beitragsfreie Anrechnungszeit gewertet; die nachfolgende – hier streitige – Zeit bis 31. August 1958 blieb unberücksichtigt.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger Rente wegen BU ab 1. Januar 1992 und Rente wegen EU ab 1. Juni 1993 ua unter Zugrundelegung der Zeit vom 7. Juni 1958 bis 31. August 1958 als Anrechnungszeit wegen Schulausbildung zu gewähren (Urteil vom 13. Dezember 1996). Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) die erstinstanzliche Entscheidung insoweit aufgehoben, als die Beklagte zur Berücksichtigung der Zeit vom 7. Juni bis 31. August 1958 als Anrechnungszeit wegen Schulausbildung verurteilt worden ist (Urteil vom 13. Mai 1998). Zur Begründung ist ausgeführt worden, der Kläger habe in dieser Zeit keine Ausbildung betrieben; die Zeit stelle auch keine sog unvermeidbare Zwischenzeit zwischen zwei Ausbildungen dar. Den Antrag des Klägers auf Berichtigung des Tatbestandes im Urteil vom 13. Mai 1998 hat das LSG mit Beschluß vom 29. Oktober 1998 abgelehnt.
Mit seiner Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 58 Abs 1 Satz 1 Nr 4 SGB VI. Er trägt vor, der streitbefangene Zeitraum sei für ihn eine Zeit der Schulausbildung, jedenfalls eine unvermeidbare Zwischenzeit gewesen. Nach Erlangung der Hochschulreife am 6. Juni 1958 habe er nach den Bestimmungen im Bildungswesen der DDR und entsprechenden Verfügungen und Mitteilungen des Ministeriums für Volksbildung vor Aufnahme des Studiums ein sog praktisches Jahr ableisten müssen. Von sich aus hätte er das am 1. September 1958 begonnene praktische Jahr nicht abbrechen dürfen. Die in seinem Fall erfolgte Nachimmatrikulation im November 1958 sei vorgenommen worden, weil sie im Interesse der DDR zum Zwecke der Planerfüllung bei der Besetzung der Studiumsplätze gelegen habe. Im übrigen enthalte der Tatbestand des LSG-Urteils verschiedene Unrichtigkeiten.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 13. Mai 1998 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 13. Dezember 1996 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie ist der Auffassung, daß die angefochtene Entscheidung nicht zu beanstanden sei.
II
Die Revision des Klägers ist begründet.
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist allein das Begehren des Klägers, bei den Feststellungen der Werte seiner Rechte auf Renten wegen BU und EU „auf Zeit” und EU „auf Dauer” die Zeit vom 7. Juni 1958 bis 31. August 1958 als Anrechnungszeit wegen Schulausbildung zu berücksichtigen.
Die Revision des Klägers hat Erfolg, da die Entscheidung des LSG im Ergebnis Bundesrecht verletzt.
Die kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklagen (§ 54 Abs 4 SGG) gegen die Wertfestsetzungen der BfA sind begründet. Der Kläger kann beanspruchen, daß bei den Feststellungen der monatlichen Werte seiner Rechte auf Rente wegen BU (für die Zeit vom 1. Januar 1992 bis 31. Mai 1993), auf Rente wegen EU auf Zeit (für die Zeit ab 1. Juni 1993 bis zum 31. Dezember 1995) und seines unbefristeten Rechts auf Rente wegen EU (ab 1. Januar 1996) die Zeit vom 7. Juni bis 31. August 1958 als Anrechnungszeit angerechnet wird.
Prüfungsmaßstab sind die Vorschriften des zum 1. Januar 1992 in Kraft getretenen SGB VI. Unerheblich ist, daß der Versicherungsfall der BU spätestens am 31. Dezember 1991 eingetreten ist. Dementsprechend hat die BfA (im Bescheid vom 2. Juli 1996) als Rentenbeginn den 1. Januar 1992 bindend festgesetzt. Die rechtliche Bewertung der zuerkannten Rente und deren Wert bestimmte sich von vornherein nicht nach dem alten (bis 31. Dezember 1991 geltenden) Recht des Beitrittsgebiets, das mit Ablauf des 31. Dezember 1991 aufgehoben worden ist. Nur auf der Grundlage des zum 1. Januar 1992 erstmals im Beitrittsgebiet in Kraft getretenen bundesgesetzlichen Rentenversicherungsrechts des SGB VI konnte der Kläger überhaupt ein Recht auf eine Rente wegen BU gegen die BfA erlangen. Demzufolge bestimmt sich auch dessen Wert, der hier ausschließlich im Streit ist, nach den Vorschriften des SGB VI. Dasselbe gilt im Blick auf die erst später entstandenen Rechte auf Renten wegen EU „auf Zeit” und dann „auf Dauer”.
Gemäß § 58 Abs 1 Satz 1 Nr 4 SGB VI in der bis zum 31. Dezember 1996 gültigen Fassung durch das Rentenreformgesetz 1992 (RRG 1992) vom 9. November 1989 (BGBl I 2261) sind Anrechnungszeiten solche Zeiten, in denen Versicherte nach dem vollendeten 16. Lebensjahr eine Schule (Buchst a) oder Fachschule oder Hochschule (Buchst b) besucht und abgeschlossen haben, insgesamt jedoch höchstens bis zu sieben Jahren (84 Monaten).
Dieser Höchstzeitraum war allerdings überschritten, weil die Beklagte mit der Anerkennung der Zeit vom 7. Mai 1956 bis 6. Juni 1958 (26 Monate) und vom 29. November 1958 bis 31. Oktober 1963 (60 Monate) bereits 86 Monate der Rentenberechnung zugrunde gelegt hat. Im vorliegenden Fall greift zugunsten des Klägers jedoch die Übergangsvorschrift des § 252 Abs 4 SGB VI idF des RRG 1992; danach ist in den Fällen, in denen der Versicherte nach vollendetem 16. Lebensjahr eine Schule, Fachschule oder Hochschule vor dem 1. Januar 1992 besucht hat und die Rente im Jahre 1992 beginnt, die Zeit des Schulbesuchs oder Fachschulbesuchs mit höchstens bis zu vier Jahren und des Hochschulbesuchs höchstens bis zu fünf Jahren zu berücksichtigen, soweit wegen dieser Ausbildungen insgesamt ein Zeitraum von sieben Jahren überschritten wurde. Die Höchstdauer für die Anrechnung eines Hochschulbesuchs ist schon mit dem von der Beklagten berücksichtigten Zeitraum vom 29. November 1958 bis 31. Oktober 1963 (fünf Jahre = 60 Monate) ausgeschöpft, abgesehen davon, daß die Ausbildung erst Ende November 1958 begann und deshalb von vornherein die hier strittige Zeit nicht jener Ausbildung zugerechnet werden konnte. Die Ausbildungszeit vom 7. Juni bis 31. August 1958 ist jedoch rechtlich der vorangegangenen Schulausbildung zuzurechnen; die dort zu beachtende Höchstdauer von vier Jahren (= 48 Monate) ist mit den bisher von der Beklagten berücksichtigten 26 Monaten noch nicht ausgeschöpft.
Der streitbefangene Zeitraum ist keine Anrechnungszeit wegen Schulausbildung, wie diese in § 58 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst a SGB VI ausgestaltet ist. Es handelt sich vielmehr um eine – ausbildungslose – sog unvermeidbare Zwischenzeit zwischen zwei Ausbildungsabschnitten, die das Bundessozialgericht (BSG) in richterlicher Rechtsfortbildung den gesetzlich formulierten Ausbildungs-Anrechnungszeiten gleichstellt.
Wie der Senat in ständiger Rechtsprechung (zuletzt Urteil vom 16. Dezember 1997, 4 RA 67/97, SozR 3-2600 § 58 Nr 13; ferner die Parallelentscheidungen vom selben Tag in den Verfahren 4 RA 14/97, 4 RA 65/97 und 4 RA 69/97; ferner Urteile vom 4. August 1998 – B 4 RA 8/98 R –, vom 27. Januar 1999 – B 4 RA 10/98 R – und vom 23. März 1999 – B 4 RA 12/98 R –) dargelegt hat, erfüllen nur solche Zeiten einer Schul-, Fachschul- oder Hochschulausbildung den Tatbestand einer Anrechnungszeit iS des SGB VI, die der „Ausbildung” dienen, in denen also Berufsausbildung tatsächlich erfolgt ist. Das Ende der Ausbildung wird danach grundsätzlich durch die Abschlußprüfung gesetzt. Dies gilt unabhängig davon, ob der Versicherte eine Schule, Fachschule oder Hochschule besucht hat. Derartige – ohne eigene Beitragsleistung zurückgelegte – (Ausbildungs-)Anrechnungszeiten dienen nicht der Vervollständigung der Versicherungsbiographie, sondern stellen eine Solidarleistung der Versichertengemeinschaft dar. Nach den Feststellungen des LSG hat der Kläger nach der Reifeprüfung ab dem 7. Juni 1958 an keinen lehrplanmäßigen Ausbildungsveranstaltungen der Schule mehr teilgenommen, also keine Ausbildung erhalten.
Die Zeit nach Ablegung der Reifeprüfung am 6. Juni 1958 und der Aufnahme einer Beschäftigung als Laborwerker im sog praktischen Jahr stellt jedoch eine „unvermeidbare Zwischenzeit” dar, die rechtlich der vorangegangenen Schulausbildung zuzuordnen ist. Nach der Rechtsprechung des BSG setzt die Anrechenbarkeit einer solchen Zeit voraus, daß es sich um Zwangspausen von längstens vier Monaten handelt, die sich daraus ergeben, daß die staatliche bzw gesellschaftliche Organisation von Ausbildungsgängen und -abschnitten einen zeitlich „nahtlosen” Übergang zwischen diesen von vornherein und für alle Ausbildungswilligen nicht zuläßt. Wird „Ausbildung” für eine Zwischenzeit organisationsbedingt typischerweise generell nicht angeboten, ist dies nicht den Ausbildungswilligen anzulasten. Zu berücksichtigen sind nicht sämtliche individuell „unverschuldet” im jeweiligen Lebensbereich des Ausbildungswilligen liegenden, sondern nur die generell unvermeidbaren Zwangspausen, die der Ausbildungsorganisation eigentümlich und für sie typisch sind und die im wesentlichen auf (abstrakten) ausbildungsorganisatorischen Maßnahmen der Ausbildungsträger beruhen.
Maßgebend ist, daß diese Zwischenzeit von zwei Ausbildungsabschnitten umgeben ist. Davon muß der erste Abschnitt einen Anrechnungszeittatbestand iS von § 58 Abs 1 Nr 4 SGB VI erfüllen; diesem muß ein weiterer vom Ausbildungsziel her gesehen notwendiger Ausbildungsabschnitt folgen; es genügt, daß dieser Abschnitt den Tatbestand irgendeiner rentenrechtlichen Zeit erfüllt; erforderlich ist aber, daß erst nach dessen Beendigung der Weg ins Berufsleben und damit die Aufnahme der angestrebten, regelmäßig in der gesetzlichen Rentenversicherung versicherungspflichtigen Berufstätigkeit eröffnet wird. Diese unvermeidbare Zwischenzeit ist letztlich Ausfluß der im Vordergrund stehenden ersten Anrechnungs-Ausbildungszeit, die das Ausbildungsziel und damit die Gesamtausbildung, auch die nicht schulische, maßgeblich prägt (BSG, Urteil vom 24. Oktober 1996, SozR 3-2600 § 58 Nr 8; Urteil vom 30. Juni 1997, 4 RA 73/96, jeweils mwN).
Eine unvermeidbare Zwischenzeit liegt immer dann vor, wenn nach Ablegung der Reifeprüfung und der (Erst-)Immatrikulation kein längerer Zeitraum als vier Monate liegt (BSG, Urteil vom 9. Februar 1984, BSGE 56, 148, 150 = SozR 2200 § 1259 Nr 81). Diese Voraussetzung ist vorliegend nicht erfüllt. Nach Bestehen der Reifeprüfung am 6. Juni 1958 und der (Nach-)Immatrikulation am 25. November 1958 liegt ein Zeitraum von mehr als vier Monaten. Eine solche längere Unterbrechung ist jedoch unschädlich, wenn der Ausbildungswillige durch staatliche (zB gesetzliche) Anordnungen („von hoher Hand”) an der Ausbildung gehindert worden ist. Dies ist für Unterbrechungen in der Ausbildung durch Kriegsdienst (BSG, Urteil vom 31. Mai 1979, SozR 2200 § 1259 Nr 39), aber auch für diejenigen Fälle anerkannt, in denen ein Abiturient zum gesetzlichen Wehr- oder Zivildienst herangezogen wird, bevor er ein Studium aufnehmen kann, wenn er nach Beendigung eines solchen Dienstes das Studium zum frühestmöglichen Zeitpunkt aufnimmt (BSG, Urteil vom 3. Juni 1981, SozR 2200 § 1259 Nr 51). Als unvermeidbare Zwischenzeit ist nicht der Dienst selbst, sondern die jeweils vier Monate nicht übersteigende Zeit zwischen Ablegung der Reifeprüfung und Aufnahme des Wehr- oder Zivildienstes und die entsprechende Zeit nach Beendigung des Dienstes bis zur Aufnahme des Studiums anzusehen. Kennzeichnend für diese Zwischenzeit ist, daß sie nicht nur kurz ist, sondern überdies häufig und in typischer Weise auftritt (BSG, Urteil vom 17. Dezember 1996, SozR 2200 § 1259 Nr 97).
Eine vergleichbare Situation war in der DDR durch die grundsätzlich zwingend vorgeschriebene Erfüllung des „praktischen Jahres” in der Zeit zwischen 1957 und 1963 gegeben. Sie ist mit den bislang anerkannten Fällen einer unvermeidbaren Zwischenzeit rentenversicherungsrechtlich gleich zu bewerten. Durch staatliche Reglementierung wurde den betroffenen Abiturienten eine „nahtlose” Aufnahme des Studiums unmöglich gemacht:
Gestützt auf Nr 28 des Beschlusses des Ministerrates der DDR vom 24. Januar 1957 (GBl I 97) haben der Minister für Arbeit und Berufsausbildung sowie der Staatssekretär für das Hochschulwesen der DDR die Anordnung über das praktische Jahr der Studienbewerber an Universitäten und Hochschulen vom 17. Oktober 1957 erlassen (GBl I 568). Der politisch-ideologische Zweck dieser Anordnung (nachfolgend AO 1957) kommt im Vorspann deutlich zum Ausdruck, wenn betont wird, daß „die Angehörigen der Intelligenz ihre Aufgaben beim Aufbau des Sozialismus in der DDR nur im engen Bündnis mit der Arbeiterklasse und der werktätigen Bauernschaft erfüllen können; dies gilt in besonderem Maße für die zukünftige junge sozialistische Intelligenz”. In Konsequenz dieser Prämisse legt § 1 Abs 1 der AO 1957 fest, daß für Abiturienten der Oberschule, die sich unmittelbar nach Ablegung der Reifeprüfung für ein Hochschulstudium bewerben, „schrittweise” ein praktisches Jahr eingeführt wird; das praktische Jahr ist in sozialistischen Produktionsbetrieben abzuleisten; es soll die zukünftigen Studenten stärker mit der Arbeiterklasse verbinden, sie zu hohem Verantwortungsbewußtsein gegenüber „unserem Arbeiter- und Bauern-Staat” erziehen und die Beziehungen zwischen den Hochschulen und den sozialistischen Betrieben enger gestalten.
Hierbei erfolgte eine Auswahl, bei der auch politische Kriterien bzw Vorgaben zu beachten waren. Zunächst schlug eine Auswahlkommission an der Oberschule die Absolventen für ein Hochschulstudium vor. Dabei war der Anteil der Kinder von Arbeitern, Genossenschaftsbauern und „werktätigen” Einzelbauern bei der Zulassung oder Vormerkung zum Studium entsprechend der „führenden Rolle der Arbeiterklasse beim sozialistischen Aufbau” zu bestimmen (Vorspann zur und § 6 der Anweisung Nr 17/58 des Ministeriums für Volksbildung und des Staatssekretariats für das Hoch- und Fachschulwesen vom 24. Februar 1958 über die Auswahl, Zulassung und Vormerkung der Studienbewerber zum Direktstudium an den Universitäten und Hochschulen, nachfolgend abgekürzt: Anweisung Nr 17/58). Danach wurde zunächst vom Prorektorat der Universität oder Hochschule iVm den Fachrichtungsleitern und den Vertretern der „gesellschaftlichen Organisationen” eine weitere Vorauswahl durchgeführt. Anschließend entschied über die Zulassung zum Studium und die Vormerkung zum praktischen Jahr eine Auswahlkommission der Universität oder Hochschule (§§ 14 ff der Anweisung Nr 17/58). „Entsprechend der führenden Rolle der Arbeiterklasse beim sozialistischen Aufbau” waren 60 % aller Studienplätze Arbeitern, Genossenschaftsbauern und „werktätigen” Einzelbauern zu sichern, dh die nicht genügend „klassennahen” Abiturienten hatten geringere Chancen. Im übrigen wurden die für das praktische Jahr vorgesehenen Studienbewerber für das Studium im darauffolgenden Studienjahr vorgemerkt. Nach § 1 Abs 3 AO 1957 war Voraussetzung für die – endgültige – Zulassung der in Abs 2 aaO genannten Studienbewerber zum Studium, daß sie während des praktischen Jahres durch gute Arbeitsdisziplin und gesellschaftliche Haltung bewiesen, daß sie „würdig” waren, ein Studium in „unserem Arbeiter- und Bauern-Staat” aufzunehmen.
Die AO 1957 bestimmte faktisch während der hier strittigen Zeit das Auswahl- und Zulassungsgeschehen in der DDR. Abgesehen von hier nicht relevanten Änderungen durch die Verordnung über Kommissionen für wissenschaftlich-technischen Nachwuchs vom 23. Juli 1959 (GBl I 633) ist die AO 1957 erst durch die Anordnung über das Aufnahmeverfahren zum Direkt-, Fern- und Abendstudium an den Universitäten, Hoch- und Fachschulen vom 20. Februar 1963 aufgehoben worden (GBl I 143). Die genannten Regelungen in § 1 AO 1957 machen deutlich, daß grundsätzlich jeder Abiturient, der nach Ablegung der Reifeprüfung unmittelbar ein Hochschulstudium aufnehmen wollte, gezwungen war, zunächst eine Beschäftigung im praktischen Jahr zu verrichten, wenn mit ihm nicht durch Einzelentscheidung anders verfahren wurde. Demgemäß hatte die Technische Hochschule D. dem Kläger mit Schreiben vom 2. August 1958 mitgeteilt, daß seine Bewerbung behandelt und beschlossen worden sei, ihn zur Immatrikulation im Studienjahr 1959/60 vorzumerken. Wörtlich heißt es dann: „Sie wollen sich zur Einweisung in das praktische Jahr an den für Ihren Wohnort zuständigen Rat des Kreises – Abt. Arbeit- und Berufsausbildung – wenden und uns auf beiliegendem Vordruck nach Antritt Ihrer Arbeit die Anschrift Ihrer Arbeitsstelle mitteilen. Ihre Vormerkung wird zur rechtskräftigen Zulassung, wenn Sie Ihr berufspraktisches Jahr in fachlicher und gesellschaftlicher Beziehung gut erfüllen und vom Betrieb eine positive Beurteilung erhalten.”
Von der gesetzlichen Pflicht, ein praktisches Jahr ableisten zu müssen, konnte der Einzelne entbunden werden. Das praktische Jahr wurde „schrittweise” eingeführt. Zu jener Zeit konnten nicht alle im „Plan” vorgesehenen Studienplätze mit Bewerbern besetzt werden. Soweit es freie Studienplätze gab, konnte die Hochschule bzw Universität, insoweit Bewerber auch ohne Ableistung des praktischen Jahres zulassen (vgl hierzu § 1 Abs 3 der Anweisung Nr 17/58). Allerdings ging man davon aus, daß die Zahl der Studienbewerber, die nicht sofort zum Studium zugelassen würden und vorab das praktische Jahr ableisten müßten, sich ständig erhöhen würde, so daß etwa im Jahr 1960 alle Studienbewerber zunächst das praktische Jahr ableisten müßten (Richtlinie des Ministeriums für Volksbildung zur Anordnung über das praktische Jahr der Studienbewerber an Universitäten und Hochschulen vom 19. Oktober 1957). So wurde im Fall des Klägers verfahren; wegen der noch freien Studienplätze an der Universität L. konnte er im November 1958 in der Fachrichtung Physik nachimmatrikuliert werden (Schreiben der Universität L. vom 27. Juni 1996 an das SG D.).
Aufgrund dieses durch das Hochschulrecht der DDR geprägten Sachverhaltes ist davon auszugehen, daß Studienbewerber während des hier relevanten Zeitraumes sich der Verpflichtung zur Ableistung eines praktischen Jahres – wenn keine Ausnahmetatbestände vorlagen – ebensowenig entziehen konnten, wie in den alten Bundesländern Abiturienten, die aufgrund ihrer gesetzlichen Dienstpflicht zum Wehr- oder Zivildienst einberufen wurden. Der Kläger war in der Zeit vom 1. September bis 24. November 1958 „von hoher Hand” gehindert worden, das Hochschulstudium „nahtlos” aufzunehmen. Deshalb ist es gerechtfertigt, die Zeit vom 7. Juni bis 31. August 1958 als eine unvermeidbare Zwischenzeit anzusehen, die rechtlich der vorangegangenen Zeit der Schulausbildung zuzurechnen ist. Die Beklagte hat diese Zeit bei der Feststellung des Wertes der drei Rechte auf Rente wegen BU wie auch auf Renten wegen EU zugrunde zu legen. Die Revision des Klägers mußte damit Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
NJ 2001, 279 |
NZS 2001, 268 |
SozR 3-2600 § 58, Nr. 14 |
AuS 2000, 60 |