Entscheidungsstichwort (Thema)
Kürzung oder Entziehung einer Entschädigungsrente. Entlastungsbeweis. Anhörung durch Bundesversicherungsamt
Leitsatz (amtlich)
- Eine Kürzung des Wertes oder die Entziehung des Rechts auf Entschädigungsrente setzt notwendig voraus, dass ein konkreter, sachlich und zeitlich eingegrenzter Lebenssachverhalt im Grade des Vollbeweises nachgewiesen ist, aus dem sich ein konkreter Verletzungserfolg und die ihn bewirkende oder zu ihm beitragende Verletzungshandlung des NS-Opfers ergibt. Der Sachverhalt muss so konkret erfasst sein, dass dem Beschuldigten ein Entlastungsbeweis der Art nach möglich ist (Fortsetzung von ua BSG vom 24.03.1998 – B 4 RA 78/96 R = SozR 3-8850 § 5 Nr 3).
- Zur Pflicht des Bundesversicherungsamtes, das NS-Opfer vor dem Eingriff selbst anzuhören.
Normenkette
EntschRG § 5 Abs. 1, § 6 Abs. 3; SGB X § 24 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 29. November 2000 und die Anträge der Beigeladenen werden zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten. Im Übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Streitig ist, ob die beklagte Bundesrepublik Deutschland durch das Bundesversicherungsamt (BVA) befugt war, das der Klägerin seit Mai 1992 gegen die zu 2) beigeladene Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) als Entschädigungsträger zustehende Recht auf Entschädigungsrente auf Vorschlag der zu 1) beigeladenen Kommission nach § 5 des Entschädigungsrentengesetzes (ERG), das als Art 1 des Gesetzes über die Entschädigung für Opfer des Nationalsozialismus im Beitrittsgebiet vom 22. April 1992 (BGBl I 906) ergangen ist, ab März 1998 auf 700 DM zu kürzen.
Die 1911 geborene Klägerin war vor 1933 Mitglied des Kommunistischen Jugendverbandes und nahm mit Beginn der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft an der “illegalen Parteiarbeit der KPD” teil. 1935 wurde sie verhaftet, nach fünfmonatiger Untersuchungshaft wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt, die sie bis zum 18. Oktober 1936 verbüßte. Nach Kriegsende wurde sie Mitglied der KPD und später der SED. Zunächst war sie bis November 1952 als Sachbearbeiterin beim Rat der Stadt L.… beschäftigt, sodann als technische und politische Mitarbeiterin in der SED-Kreisleitung L.…. Vom 1. Februar 1956 bis zum 30. November 1966 war sie als hauptamtliche Mitarbeiterin beim Ministerium für Staatssicherheit (MfS) zuletzt mit dem Dienstgrad eines Oberfeldwebels beschäftigt. Sie wurde vom 1. Februar 1956 bis zum 14. Juli 1963 als operative Mitarbeiterin (Ermittlerin) im Referat II der Abteilung VIII der Bezirksverwaltung der Staatssicherheit in L.… eingesetzt. Vom 15. Juli 1963 bis zum Ausscheiden aus dem MfS am 30. November 1966 arbeitete sie in der Abteilung Kader und Schulung.
Als Ermittlerin führte sie nach sechs dienstlichen Beurteilungen, die zwischen dem 15. Januar 1957 und dem 16. März 1965 erstellt worden waren, die ihr aufgetragenen Ermittlungen “mit durchschnittlichen Arbeitsergebnissen” selbstständig durch. Danach verrichtete die Klägerin Folgendes: Sie verfügte über ein durchschnittliches Netz von Geheimen Informatoren (GI), deren regelmäßige Anleitung sie übernahm. Sie bearbeitete zunächst einen Stadtbezirk von L.… sowie einen Teil des Landkreises. Nach ihrer Beförderung im Oktober 1958 bearbeitete sie als Ermittlerin selbstständig den Stadtbezirk L.… und steuerte sechs GI; eine konspirative Wohnung oder Geheime Hauptinformatoren unterstanden ihr nicht. Nach Einschätzung ihrer Vorgesetzten zeigte die Klägerin in der Werbung von informellen Mitarbeitern (IM) Schwächen; in dieser Hinsicht habe sie nicht schwerpunktmäßig gearbeitet; insoweit bedurfte sie der ständigen Anleitung. Auch 1960 bearbeitete sie weiterhin einen Stadtbezirk L.… selbstständig; alle dort anfallenden Ermittlungen wurden zu 75 vH durch das bestehende inoffizielle Netz erledigt; wegen ihres angegriffenen Gesundheitszustandes (verminderte Sehkraft) konnten an die Klägerin jedoch keine höheren Anforderungen gestellt werden. Im April 1961 wurde die Klägerin von der Zusammenarbeit mit IM wegen ihres Gesundheitszustandes und ungenügender Qualifikation entbunden. Sie musste jetzt eilige Ermittlungen sowie solche durchführen, die nicht durch IM erledigt werden konnten. Wegen des stark angegriffenen Gesundheitszustandes war kein voller Arbeitseinsatz gegeben, stärkerer Belastung konnte sie nicht unterzogen werden. Die Klägerin war dann noch einige Monate als Kommandierte der Abteilung III in der Ermittlergruppe der Abteilung Kader und Schulung eingesetzt. Dabei wurde sie dahingehend beurteilt, sie besitze die Qualifikation, Kaderermittlungen selbstständig durchzuführen, wobei jedoch quantitätsmäßige Schwierigkeiten zu berücksichtigen seien. Die Klägerin verfüge über ein durchschnittliches ideologisches Wissen und reiche parteipolitische Erfahrungen, was sie befähige, die Ermittlungsergebnisse richtig einzuschätzen und schriftlich darzulegen. Seit Juli 1963 war die Klägerin in der Abteilung Kader und Schulung als Ermittlerin in der Werbegruppe eingesetzt und bearbeitete Ermittlungsaufträge für andere Bezirksverwaltungen, einschließlich des MfS B.…. Sie sei – so eine Beurteilung – in der Lage gewesen, die ihr übertragenen Kaderermittlungen gründlich durchzuführen. Für ihre Arbeitsergebnisse ist sie zwischen 1961 und 1966 mit zwei Bronzemedaillen und zwei Silbermedaillen ausgezeichnet worden, ferner 1958 mit der “Medaille für Kämpfer gegen den Faschismus”.
Auf der Grundlage der “Anordnung über Ehrenpensionen für Kämpfer gegen den Faschismus und für Verfolgte des Faschismus sowie für deren Hinterbliebene” vom 20. September 1976 (Vertrauliche Dienstsache – VD 26/19/76) war ihr eine Ehrenpension zuerkannt worden. Ab 1. Mai 1992 stand ihr stattdessen ein Recht auf Entschädigungsrente gegen die BfA nach § 2 ERG in Höhe von 1.400 DM monatlich zu.
Die beigeladene Kommission schlug nach Anhörung der Klägerin der Beklagten mit Beschluss vom 16. Dezember 1997 unter Hinweis auf § 5 Abs 1 ERG vor, den Wert des Rechtes der Klägerin auf Entschädigungsrente gegen die BfA um die Hälfte auf 700 DM zu kürzen. Die Klägerin habe durch ihre Ermittlertätigkeit gegen die Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit verstoßen. Als Beobachtungs- und Ermittlungsorgan im MfS sei das Aufgabengebiet der Abteilung III gerade darauf gerichtet gewesen, Verdachtsgründe gegen Regimekritiker und Regimegegner sowie Ausreise- und Fluchtwillige zu “erarbeiten”, die dann Grundlage für weitere Verfolgungsmaßnahmen durch das MfS gewesen seien. Sie habe durch ihre durchschnittlichen und brauchbaren Ermittlungsergebnisse einen mitursächlichen Beitrag zur Verletzung der Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit durch andere geleistet. Dies sei jedenfalls durch Hilfstatsachen erwiesen und rechtfertige, da eine besonders schwer wiegende Verletzung der vorgenannten Grundsätze der Klägerin nicht nachgewiesen werden könne, eine Kürzung der Entschädigungsrente.
Das BVA kürzte mit Bescheid vom 11. Februar 1998 den Wert des Rechts der Klägerin auf Entschädigungsrente von monatlich 1.400 DM mit sofortiger Wirkung auf monatlich 700 DM. Die Beklagte wies zur Begründung auf die in der Richtlinie 1/58 “für die Arbeit mit inoffiziellen Mitarbeitern im Gebiet der DDR” vom 1. Oktober 1958 (geheime Verschlusssache, GVS 1336/58) enthaltenen Grundsätze und Aufgabenbereiche der Arbeit der inoffiziellen Mitarbeiter hin und schloss sich insgesamt der Würdigung an, welche die Kommission über die Ermittlungstätigkeit der Klägerin für die Zeit von 1956 bis 1963 verlautbart hatte.
Das Sozialgericht (SG) Leipzig hat die Klage durch Urteil vom 25. Februar 2000 abgewiesen. Das Sächsische Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Klägerin das Urteil des SG und den Bescheid der Beklagten vom 11. Februar 1998 durch Urteil vom 29. November 2000 aufgehoben. Es hat ausgeführt: Der angefochtene Bescheid sei nicht wegen einer Verletzung von Verfahrensvorschriften rechtswidrig. Die Anhörung iS des § 24 Abs 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) sei erfolgt. Jedoch sei die Voraussetzung des § 5 Abs 1 ERG für den Eingriff nicht erfüllt, dass die Klägerin gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen habe. Ein erheblicher Verstoß der Klägerin gegen die Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit sei nicht belegt. Denn ein “Verstoß” gegen die genannten Grundsätze liege nicht vor. Dies setze nach der st Rspr des Bundessozialgerichts (BSG) ein konkretes, räumlich und zeitlich eingegrenztes Verhalten voraus, das einem Beweis zugänglich sei. Der Betroffene müsse dadurch gegen die Inhalte der genannten Grundsätze verstoßen haben oder Verstößen anderer gegen sie, obgleich ihm möglich und zumutbar, nicht entgegengetreten sein. Es genüge insoweit eine Mitwirkung an den Verstößen anderer Gewaltinhaber, die nicht auf strafrechtliche Teilnahmeformen begrenzt sei. Das bloße “Vorschubleisten”, die bloß allgemeine Förderung des Unrechts- und Gewaltregimes der SED genüge dafür indessen nicht. Auch bei einem herausgehobenen Funktionärsamt in der SED oder im Staat, welches die Klägerin nicht innegehabt habe, genüge dies allein nicht; vielmehr müsse der Betroffene die ihm übertragene oder überlassene Macht zur Einleitung, Förderung oder Durchsetzung von Verletzungen der durch die genannten Grundsätze geschützten Rechtsgüter ausgeübt haben. Dies könne allerdings auch dadurch geschehen, dass die ihm verliehene Macht solche Verstöße gerade zum Inhalt gehabt habe, also es gewissermaßen zur Amtsausübung gehört habe, gegen die genannten Grundsätze zu verstoßen. Das werde ggf durch den Inhalt der jeweiligen Amtsgeschäfte hilfstatsächlich indiziert.
Das BVA und die Kommission hätten jedoch allein an das Vorhandensein einer Dienststellung und eines näher bestimmten Aufgabenfeldes der Klägerin angeknüpft. Nachgewiesen sei allein, dass die Klägerin dem SED-Staat verpflichtet und für das MfS in ihrem Zuständigkeitsfeld gegen die Bevölkerung konspirativ tätig gewesen war. In diesem Tätigkeitsfeld habe sie das Unrechts- und Gewaltsystem der SED nachhaltig gefördert. Insoweit sei sie zweifellos im Machtapparat des SED-Staates integriert gewesen. Sie habe sich auch mit den Machtstrukturen dieses Staates identifiziert.
All dies genüge aber nicht, um iS des § 5 Abs 1 ERG auf einen Verstoß gegen die genannten Grundsätze konkret zu schließen. Die genannten Dienststellungen und das dargelegte jeweilige dienstliche Aufgabenfeld machten nur deutlich, welchen Verpflichtungen die Klägerin im Unrechts- und Gewaltsystem der SED allgemein nachzugehen gehabt hatte. Weder aus den jeweiligen Dienststellungen noch aus den verschiedenen Aufgabenfeldern ergebe sich, dass diese für sich genommen bereits über das bloße “Vorschubleisten” hinausgehende Handlungen oder pflichtwidrige Unterlassungen begangen habe. Ebenso wenig sei nachgewiesen, dass die Klägerin dazu beigetragen habe, dass andere Machtinhaber solche Verstöße begangen hätten. Für das Vorliegen eines konkreten, räumlich und zeitlich eingegrenzten Verhaltens, das einem Beweis zugänglich sei, finde sich außer den in den Akten enthaltenen dienstlichen Beurteilungen nicht ein einziger konkreter Anhalt. Ebenso wenig sei ersichtlich, welche Anhaltspunkte für das Vorliegen eines in diesem Sinne konkreten Verhaltens, etwa in Form von konkreten Befehlen, Anleitungen oder eigenen Auswertungen, auf Seiten der Klägerin in Betracht kommen könnten. Ein konkreter Unrechtserfolg sei nicht festgestellt.
Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 5 Abs 1 ERG. Die tatsächlichen Feststellungen des LSG deckten sich mit denen der Beklagten im angefochtenen Bescheid. Das LSG habe jedoch Anforderungen an den Nachweis eines Grundsatzverstoßes gestellt, die nicht in Einklang mit § 5 Abs 1 ERG und der hierzu ergangenen Rechtsprechung des BSG stünden. Das BSG habe am 30. Januar 1997 entschieden, für einen Verstoß genüge die Mitwirkung an den Verstößen anderer Gewaltinhaber, die nicht auf die strafrechtlichen Teilnahmeformen begrenzt sei; es dürfe aber vor dem Hintergrund der wirklichen Verhältnisse in der DDR nicht ausgeschlossen gewesen sein, dass das Verhalten zu dem Unrechtserfolg beigetragen habe. Es reiche zwar aus, sei aber nicht notwendig, dass der Berechtigte die Verletzung der Grundsätze selbst (mit-)beschlossen oder sie (“eigenhändig”) bewirkt habe; ebenso sei ausreichend, wenn er durch Rat oder Tat die Verletzung der Grundsätze durch andere (zB durch Organisations- oder Schulungsmaßnahmen) oder in anderer Weise im Rahmen der ihm eingeräumten Gewalt gefördert habe. Aus der (Hilfs-)Tatsache, dass jemand ein Amt nicht nur ganz kurzzeitig innegehabt habe, könne auf die Haupttatsache geschlossen werden, er habe die mit dem Amt verbundenen Aufgaben wahrgenommen, falls keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, es könne sich im Einzelfall ausnahmsweise anders verhalten haben, zB bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit. Erforderlich sei, dass der Betroffene die übertragene oder überlassene Macht zur Einleitung, Förderung oder Durchsetzung von Verletzungen der durch die genannten Grundsätze geschützten Rechtsgüter ausgeübt habe. Dies könne auch dadurch geschehen sein, dass die ihm verliehene Macht solche Verstöße gerade zum Inhalt hatte, es also gewissermaßen zu seiner Amtsausübung gehörte, gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit zu verstoßen. Dies werde durch den Inhalt der jeweiligen Amtsgeschäfte hilfstatsächlich indiziert.
Auf dieser Grundlage sei es nach Auffassung der Beklagten eine zulässige Beweiswürdigung, einen Grundsatzverstoß auch dadurch nachzuweisen, dass aus einer nicht nur kurzzeitigen Tätigkeit, die notwendigerweise Verstöße gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit mit sich gebracht habe, auf den Grundsatzverstoß selbst geschlossen werde. Unstreitig sei, dass Unterlagen über die Beteiligung der Klägerin an einzelnen, namentlich bekannten Operativvorgängen, aus denen sich Details über das Vorgehen der Klägerin im jeweiligen Einzelfall entnehmen ließen, nicht vorlägen. Deshalb sei der Nachweis des Grundsatzverstoßes aus der nach Zeitpunkt, Dauer, Ort und Inhalt bewiesenen Hilfstatsache der Dienststellung der Klägerin einschließlich der damit verbundenen Aufgaben, die sie wahrgenommen habe, erfolgt. Diese Amtsgeschäfte hätten Verstöße gegen die Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit gerade zum Inhalt gehabt. Das LSG habe sich auch ungenügend mit der Richtlinie 1/58 befasst, weil sich daraus ergebe, dass die der Klägerin verliehene Macht Grundsatzverstöße gerade zum Inhalt gehabt habe. Wenn konkrete Einzeltaten, die einen Grundsatzverstoß beinhalten, nicht nachweisbar seien, komme der hilfstatsächliche Nachweis zum Tragen. Das BSG beziehe das Erfordernis eines konkreten, räumlich und zeitlich eingegrenzten Verhaltens, das einem Beweis zugänglich sei, nur auf den Normalfall, dass den Betroffenen bestimmte, abgrenzbare Handlungen oder pflichtwidrige Unterlassungen direkt zum Vorwurf gemacht würden. Wenn der Betroffene die mit dem Amt verbundenen Aufgaben wahrgenommen habe, welche auf Grundsatzverstöße ausgerichtet gewesen seien, bedürfe es gerade keiner zusätzlichen Belege dafür, dass ein konkretes menschenrechts- oder rechtsstaatswidriges Verhalten im Einzelfall vorliege. Da der Inhalt der Amtsgeschäfte der Klägerin Verstöße gegen die Grundsätze wesensnotwendig mit umfasst habe, gelte der Grundsatzverstoß als erwiesen, ohne dass es auf zusätzliche Anhaltspunkte für einen “konkreten” Grundsatzverstoß im Einzelfall ankäme. Die Klägerin sei auch durch ihre Ermittlungstätigkeit – entgegen dem LSG – über das bloße “Vorschubleisten” hinausgegangen.
Die Beklagte beantragt schriftlich sinngemäß,
das Urteil des Sächsischen LSG vom 29. November 2000 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Leipzig vom 25. Februar 2000 zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das Urteil für zutreffend. Es stehe in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BSG. Dabei gehe es hier nicht um die Beteiligung der Klägerin an einem Normativunrecht, wie in den Fällen, in denen das BSG bisher über den Entzug der Entschädigungsrente zu entscheiden gehabt habe, sondern um den Vorwurf der Beteiligung an einem von der DDR als Staat zu vertretenen Verwaltungsunrecht in Gestalt eines allgemeinen Systemunrechts. Eine dem allgemeinen Systemunrecht zuzurechnende Maßnahme dürfe nicht als Verstoß gegen die Grundsätze qualifiziert werden. Der konkrete Unrechtsgehalt eines Verhaltens könne sich erst aus den konkreten Lebensumständen ergeben. Eine das Maß des Üblichen nicht übersteigende Beteiligung an einem allgemeinen Systemunrecht könne nicht als Verletzung der Grundsätze gewertet werden, es sei denn, es läge ein Tatbeitrag in der Weise des “sich besonders Hervortuns” vor.
Die Beigeladenen beantragen schriftlich sinngemäß,
das Urteil des Sächsischen LSG vom 29. November 2000 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Leipzig vom 25. Februar 2000 zurückzuweisen.
Sie halten die Rechtsauffassung der Beklagten für zutreffend.
Der damalige Berichterstatter im 4. Senat des BSG hat unter dem 27. August 2001 bei den Beteiligten angefragt, ob es sich um eine derjenigen Fallgestaltungen handele, die den bereits entschiedenen Streitsachen B 4 RA 2/01 R bzw B 4 RA 4/01 R zu Grunde gelegen hätten; es werde diesbezüglich um Stellungnahme bis längstens zum 17. September 2001 gebeten. Die Beklagte hat daraufhin mitgeteilt, soweit die gerichtliche Frage darauf gerichtet sein sollte, ob die Beklagte selbst der Klägerin vor Erlass des Entziehungsaktes Gelegenheit gegeben habe, sich zu den entscheidungserheblichen Tatsachen zu äußern, nehme sie zu dieser Frage nicht Stellung. Auch in diesem Verfahren würde es sich insofern um eine unzulässige Tatsachenermittlung durch das Gericht handeln. Insofern werde bereits jetzt beantragt,
den Rechtsstreit zur weiteren Sachverhaltsermittlung an das LSG zurückzuverweisen.
Außerdem hat die Beklagte die Berufsrichter des Senats wegen Befangenheit abgelehnt. Die Klägerin hatte hierzu erklärt, sie schließe sich dem Antrag nicht an, sondern rüge selbst die fehlende Anhörung durch die Beklagte vor Erlass des streitbefangenen Bescheides. Der Senat hat die Ablehnungsgesuche der Beklagten durch Beschluss vom 10. Juni 2002 als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die zulässige Revision der Beklagten und die sich in diesem Umfang haltenden Anträge der Beigeladenen sind unbegründet, weil das LSG richtig entschieden hat, das Urteil des SG und die Kürzung des Wertes des Rechts der Klägerin auf Zahlung von Entschädigungsrente von 1.400 DM auf 700 DM ab März 1998 aufzuheben. Denn die Voraussetzungen für diesen Rechtseingriff lagen nicht vor.
1. Allerdings sind die Ausführungen des LSG, der angefochtene Bescheid sei nicht wegen eines Anhörungsfehlers rechtswidrig, auf Grund der tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts rechtlich nicht nachvollziehbar. Das LSG hat nicht festgestellt, dass das BVA selbst vor dem Eingriffsakt die durch § 6 Abs 3 ERG iVm § 24 Abs 1 SGB X gebotenen Handlungen gegenüber der Klägerin selbst vorgenommen hat. Ebenso wenig hat das LSG Tatsachen festgestellt, aus denen sich ergeben könnte, dass ein ggf wegen unterbliebener Anhörung entstandener Aufhebungsanspruch aus § 42 Satz 1 und 2 SGB X auf Grund einer wirksamen Nachholung der Anhörung vor Erhebung der Klage am 23. Februar 1998 untergegangen war. Die §§ 41 Abs 2 SGB X und 114 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), jeweils in der seit dem 1. Januar 2001 gültigen Fassung, sind in Fällen der vorliegenden Art nicht anwendbar. Der Versuch des damaligen Berichterstatters des erkennenden Senats, seiner Pflicht zur effektiven Rechtsschutzgewährung einschließlich der Vermeidung untunlicher Zurückverweisungen dadurch Rechnung zu tragen, dass er im Rahmen seiner Kompetenzen die insoweit vom LSG nicht getroffenen Feststellungen durch Befragung der Beteiligten “unstreitig” stellt, ist gescheitert. Eine Aufhebung des Urteils des LSG und eine Zurückverweisung des Rechtsstreits an dieses Gericht nach § 170 Abs 2 SGG kommt jedoch zur Klärung dieses verwaltungsverfahrensrechtlichen Aufhebungsanspruchs nicht in Betracht, weil sich das Urteil des Berufungsgerichts jedenfalls aus Gründen des materiellen Entschädigungsrechts als richtig erwiesen hat, sodass die Revision der Beklagten und die Anträge der Beigeladenen zurückzuweisen sind (§ 170 Abs 1 Satz 2 SGG).
2. Das LSG hat richtig erkannt, dass die Rentenkürzung vom 11. Februar 1998 ohne gesetzliche Ermächtigung ausgesprochen worden ist. Die Voraussetzungen der Eingriffsermächtigung des § 5 Abs 1 ERG liegen nicht vor. An die tatsächlichen Feststellungen des LSG ist der Senat gebunden (§§ 163, 164 Abs 2 Satz 3 SGG). Die Beklagte hat keine zulässigen Verfahrensrügen erhoben, sondern mitgeteilt, die tatsächlichen Feststellungen des LSG deckten sich mit denen der Beklagten im streitgegenständlichen Bescheid vom 11. Februar 1998. Soweit sie in der Revisionsbegründung eine Beweiswürdigung vorträgt, die zu einem Vortrag von Tatsachen führt, welche das LSG nicht festgestellt hat, darf das Revisionsgericht diesen neuen Sachvortrag nicht berücksichtigen. Die Rügen der Revision, das LSG habe die rechtlichen Voraussetzungen eines Verstoßes gegen die Grundsätze der Menschlichkeit und der Rechtsstaatlichkeit iS von § 5 Abs 1 ERG unzutreffend interpretiert und die Vorschrift gerade durch die Aufstellung von zu engen Nachweisanforderungen falsch angewandt, sind unbegründet. Das LSG hat die Vorschrift richtig ausgelegt und den festgestellten Sachverhalt zutreffend zugeordnet (subsumiert).
Gemäß § 5 Abs 1 ERG sind Entschädigungsrenten zu kürzen, wenn der Berechtigte gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder der Rechtsstaatlichkeit verstoßen hat (der Missbrauchstatbestand kommt hier offensichtlich nicht in Betracht). Nach ständiger Rechtsprechung des BSG (zuletzt zusammengefasst in BSG SozR 3-8850 § 5 Nr 3 S 65)
“erfordert die Anwendung dieser Ermächtigungsnorm den Nachweis (mindestens) einer konkreten Handlung, durch die in Ausübung staatlicher oder staatlich verliehener Macht unmittelbar oder mittelbar in den Kerngehalt eines die Menschenwürde schützenden Menschenrechts eingegriffen wird oder durch die elementare Rechtsstaatsprinzipien verletzt worden sind. Der Eingriffstatbestand setzt somit einen konkreten, sachlich und zeitlich eingegrenzten und dem Beweis zugänglichen Lebenssachverhalt voraus, dem die zum Verstoß führende Handlung, die ggf darauf basierende unmittelbare Verletzungshandlung und der Verletzungserfolg zu entnehmen ist. Ein derartiger Sachverhalt gibt, was keiner weiteren Darlegung bedarf, dem Betroffenen die Gelegenheit zur Erwiderung und ggf Widerlegung”.
Das ist das rechtsstaatlich notwendige Konkretisierungselement eines derartigen Verstoßes. Die Beklagte selbst räumt ein, dass sie den Nachweis mindestens einer konkreten Handlung der Klägerin, durch die sie in Ausübung der MfS-Macht unmittelbar oder mittelbar einen Grundsatzverstoß begangen haben könnte, nicht benennen kann. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG gibt es keinen Hinweis auf einen solchen konkreten Verstoß. Deshalb war der Rechtseingriff durch § 5 Abs 1 ERG nicht gedeckt.
3. Zu Unrecht wirft die Beklagte dem Berufungsgericht vor, es habe die Rechtsprechung des BSG zur hilfstatsächlich indizierenden Wirkung der tatsächlichen Wahrnehmung von Amtsgeschäften verkannt. Diese waren ihrem Inhalt nach auf die Zurechnung von konkreten Verstößen gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder der Rechtsstaatlichkeit ausgerichtet. Die Beklagte hat diese Ausführungen des BSG aus dem hier maßgeblichen Zusammenhang gerissen, den das LSG beachtet hat.
a) Im Falle der Aberkennung eines Rechts auf Entschädigungsrente bei einem früheren Mitglied des Staatsrats der DDR (BSG SozR 3-8850 § 5 Nr 1 S 18) ging es um die Frage, ob es für die Erfüllung des Tatbestandes des § 5 Abs 1 ERG ausreiche, dass das frühere NS-Opfer in der DDR ein herausgehobenes Funktionärsamt in der SED, in deren Staat oder in einer von ihr gelenkten gesellschaftlichen Organisation gehabt hatte. Dies hat das BSG mit dem Hinweis verneint, dass der Betroffene die ihm übertragene oder überlassene Macht zur Einleitung, Förderung oder Durchsetzung von Verletzungen der durch die genannten Grundsätze geschützten Rechtsgüter ausgeübt haben müsse. In diesem Zusammenhang hat der Senat klargestellt, dass die Einleitung, Förderung oder Durchsetzung von Verletzungen bei Inhabern eines solchen herausgehobenen Funktionärsamtes durch den Inhalt der jeweiligen Amtsgeschäfte hilfstatsächlich indiziert werde, wenn die ihm verliehene Macht solche Verstöße gerade zum Inhalt gehabt habe, also es gewissermaßen zu seiner Amtsausübung gehört habe, gegen diese Grundsätze zu verstoßen. Die Klägerin hat als Feldwebel und Oberfeldwebel des MfS kein herausgehobenes Funktionärsamt in der SED, in deren Staat oder in einer von ihr gelenkten gesellschaftlichen Organisation gehabt, sondern vielmehr eine völlig untergeordnete Position.
b) Im Zusammenhang mit der Problematik der Mitwirkung an den Verstößen anderer Gewaltinhaber (BSG SozR 3-8850 § 5 Nr 1) hat das BSG klargestellt, dass zum einen Verstöße als konkrete, räumlich und zeitlich eingegrenzte Verhaltensweisen, die einem Beweis zugänglich sind, vorliegen müssen, und dass zum anderen die Mitwirkung an gegebenen Verstößen durch andere Gewaltinhaber nicht auf die strafrechtlichen Teilnahmeformen begrenzt ist. In diesem Zusammenhang hat es bestätigt, dass der ursächliche Beitrag vor dem Hintergrund der wirklichen Verhältnisse in der DDR nicht ausgeschlossen gewesen sein darf. Es ist also nicht notwendig, dass der Berechtigte den Grundsatzverstoß eigenhändig bewirkt; es reicht, wenn er einen derartig konkret festgestellten Grundsatzverstoß anderer durch Rat oder Tat oder durch Organisations- oder Schulungsmaßnahmen oder in anderer Weise im Rahmen der ihm eingeräumten Gewalt gefördert hat (dazu gleich lautend auch BSG SozR 3-8850 § 5 Nr 2 S 37 f).
c) Im gleichen Sinne hat das BSG auch in dem Fall der Aberkennung eines Rechts auf Entschädigungsrente gegenüber einem Mitglied des Politbüros der SED entschieden (BSG SozR 3-8850 § 5 Nr 2 S 42). Es hat dort bekräftigt, dass aus der “exponierten Stellung” des damaligen Klägers im SED-Staat nicht rechtmäßig auf konkrete Verstöße geschlossen werden dürfe. Es hat darauf hingewiesen, dass die Sitzungen des Politbüros und die darin zum Grenzregime gefassten Beschlüsse konkrete, abgrenzbare, beweisbare und bewiesene Vorgänge der Zeitgeschichte sind. Im Blick auf das von dem damaligen Kläger unterbreitete Vorbringen, es sei nicht konkret festgestellt worden, dass und wie er an diesen Beschlüssen vom 6. Juli 1971 und vom 23. Januar 1973 sowie an dem Beschluss des Nationalen Verteidigungsrates der DDR in dessen 62. Sitzung am 21. November 1980 mitgewirkt habe, hat das BSG darauf hingewiesen, aus der Hilfstatsache, dass jemand ein Amt nicht nur ganz kurzzeitig innegehabt habe, könne auf die Haupttatsache geschlossen werden, er habe die mit dem Amt verbundenen Aufgaben wahrgenommen, falls – wie hier – keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, es könne sich im Einzelfall ausnahmsweise anders verhalten haben. “So hält sich auch die Folgerung, der Kläger habe im Politbüro und im NVR die Beschlüsse zum Grenzregime mitgefasst, in den Grenzen und deswegen vom Revisionsgericht nicht zu beanstandender freier Beweiswürdigung durch das LSG.”
An keiner Stelle hat das BSG die von der Beklagten genannte Auffassung vertreten, ein konkreter Grundsatzverstoß könne abstrakt aus dem Inhalt von Amtsgeschäften über eine längere Zeit hinweg hergeleitet werden.
d) Allerdings ist auf das Vorbringen der Beklagten beiläufig darauf hinzuweisen, dass Grenzfälle denkbar sind, in denen die Ausübung übertragener oder überlassener “SED-Gewalt” durch einen bestimmten Amtsträger ausnahmsweise den Schluss darauf zulassen kann, dieser habe faktisch notwendig durch die Wahrnehmung der ihm konkret zugewiesenen Aufgaben zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort gegenüber bestimmten, nicht notwendig namentlich bekannten Personen einen bestimmten Verstoß begangen. Stets muss das Ereignis, das als “Verstoß” iS von § 5 Abs 1 ERG qualifiziert wird, so genau bestimmt sein, dass ein “Entlastungsbeweis” des angeschuldigten NS-Opfers nicht von vornherein ausgeschlossen ist. Nach den Feststellungen des LSG ergibt sich im Falle der Klägerin jedoch kein Hinweis hierfür.
4. Da die Beklagte der Klägerin ohne gesetzliche Ermächtigung den Wert ihres Rechts auf Entschädigungsrente halbiert hat, hätte bereits das SG den Eingriff aufheben müssen (§ 54 Abs 2 Satz 1 SGG), sodass das LSG der Berufung der Klägerin zu Recht stattgegeben hat.
5. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 Abs 1 und Abs 4 SGG.
Fundstellen
NJ 2003, 447 |
SozR 3-8850 § 5, Nr. 7 |