Verfahrensgang
Hamburgisches OVG (Urteil vom 23.04.2020; Aktenzeichen 5 Bf 381/18) |
VG Hamburg (Urteil vom 07.09.2018; Aktenzeichen 20 K 2928/18) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Hamburg vom 23. April 2020 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass über den Antrag des Klägers auf Berücksichtigung seiner vor dem 1. Dezember 2002 liegenden Zeiten besonderer Auslandsverwendungen bis zum Doppelten als ruhegehaltfähige Dienstzeit unter Beachtung der Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichts zu entscheiden ist.
Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Tatbestand
Rz. 1
Der Kläger, ein Soldat im Ruhestand, beansprucht die Neufestsetzung seines Ruhegehalts unter doppelter Berücksichtigung seiner vor dem 1. Dezember 2002 liegenden Zeiten besonderer Auslandsverwendung.
Rz. 2
Der 1955 geborene Kläger stand bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand mit Ablauf des 31. März 2018 als Berufssoldat, zuletzt im Rang eines Oberfeldarztes, im Dienst der Beklagten. Im Zeitraum zwischen April 1996 und November 1999 absolvierte er zwei mindestens 30-tägige Auslandsverwendungen im Rahmen von IFOR- und KFOR-Einsätzen in Bosnien und Herzegowina und im Kosovo mit einer Gesamteinsatzzeit von 195 Tagen.
Rz. 3
Mit Bescheid vom 3. April 2018 setzte die Generalzolldirektion die Versorgungsbezüge des Klägers auf der Grundlage eines Ruhegehaltssatzes von 68,16 v.H. fest. Mit gesondertem Bescheid vom 5. April 2018 lehnte die Beklagte es ab, vor dem 1. Dezember 2002 geleistete Zeiten einer besonderen Auslandsverwendung als doppelt ruhegehaltfähig anzurechnen. Den dagegen erhobenen Widerspruch des Klägers wies sie zurück.
Rz. 4
Auf die dagegen gerichtete Klage hat das Verwaltungsgericht die Beklagte unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide verpflichtet, die Versorgungsbezüge des Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu festzusetzen. Zeiten einer besonderen Auslandsverwendung könnten bis zum Doppelten als ruhegehaltfähige Dienstzeit berücksichtigt werden, wenn sie insgesamt mindestens 180 Tage und jeweils ununterbrochen mindestens 30 Tage gedauert hätten. Die Auslandseinsätze des Klägers erfüllten diese Voraussetzungen. Sie seien bei der Festsetzung der Altersbezüge des Klägers zu berücksichtigen, obwohl sie vor dem 1. Dezember 2002 gelegen hätten.
Rz. 5
Das Oberverwaltungsgericht hat die dagegen gerichtete Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Der Kläger habe Anspruch auf Berücksichtigung der von ihm im Zeitraum vor Dezember 2002 absolvierten Zeiten von besonderen Auslandsverwendungen bis zum Doppelten als ruhegehaltfähige Dienstzeiten. Einer Doppelanrechnung der streitgegenständlichen Auslandseinsatzzeiten stehe nicht entgegen, dass sie sämtlich vor dem Inkrafttreten der einschlägigen soldatenversorgungsgesetzlichen Regelung über besondere Auslandsverwendungen am 1. Dezember 2002 lägen. Zudem habe die Beklagte das ihr bei der Doppelberechnung eingeräumte Rechtsfolgeermessen noch nicht fehlerfrei ausgeübt. Die von ihr bei der Ermessensausübung zugrunde gelegten Erlasse des Bundesministeriums der Verteidigung seien dazu nicht geeignet, weil sie die Berücksichtigung von vor dem 1. Dezember 2002 absolvierten besonderen Auslandsverwendungen bis zum Doppelten als ruhegehaltfähige Dienstzeiten generell ausschlössen.
Rz. 6
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts vom 23. April 2020 und des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 7. September 2018 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Rz. 7
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Rz. 8
Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht unterstützt die Revision der Beklagten.
Entscheidungsgründe
Rz. 9
Die zulässige Revision der Beklagten wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass über den Antrag des - nach dem 13. Dezember 2011 in den Ruhestand getretenen - Klägers auf Berücksichtigung seiner vor dem 1. Dezember 2002 liegenden Zeiten besonderer Auslandsverwendungen bis zum Doppelten als ruhegehaltfähige Dienstzeit nicht nach der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts, sondern nach der des Bundesverwaltungsgerichts zu entscheiden ist (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO). Die Beklagte hat das ihr im Rahmen dieser Entscheidung zustehende Ermessen bislang nicht fehlerfrei ausgeübt.
Rz. 10
1. Der streitgegenständliche Anspruch folgt aus der am 13. Dezember 2011 in Kraft getretenen Regelung des § 25 Abs. 2 Satz 3 SVG in der Fassung des Gesetzes zur Verbesserung der Versorgung bei besonderen Auslandsverwendungen (Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz) vom 5. Dezember 2011 (BGBl. I S. 2458 - SVG 2011). Die Vorschrift bestimmt, dass die Zeiten einer besonderen Auslandsverwendung nach § 63c Abs. 1 bis zum Doppelten als ruhegehaltfähige Dienstzeit berücksichtigt werden können, wenn sie insgesamt mindestens 180 Tage und jeweils ununterbrochen mindestens 30 Tage gedauert haben. Der erstmals durch Art. 2 Nr. 10 Einsatzversorgungsgesetz vom 21. Dezember 2004 (BGBl. I S. 3592) rückwirkend zum 1. Dezember 2002 in Kraft getretene § 63c Abs. 1 Satz 1 SVG (SVG 2004) definiert eine besondere Auslandsverwendung als eine Verwendung aufgrund eines Übereinkommens oder einer Vereinbarung mit einer über- oder zwischenstaatlichen Einrichtung oder mit einem auswärtigen Staat im Ausland oder außerhalb des deutschen Hoheitsgebietes auf Schiffen oder in Luftfahrzeugen, für die ein Beschluss der Bundesregierung vorliegt.
Rz. 11
a) Der Wortlaut der Vorschrift legt es nahe, dass besondere Auslandsverwendungen i.S.v. § 25 Abs. 2 Satz 3 SVG 2011 für Soldaten, die nach dem 13. Dezember 2011 in den Ruhestand getreten sind, auch für Zeiträume vor dem 1. Dezember 2002 berücksichtigt werden können. Denn die Regelung enthält - anders als die zeitgleich durch das Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz (Art. 6 Ziff. 3) für gesetzlich Rentenversicherte geschaffene Parallelregelung des § 76e Abs. 1 SGB VI 2011 - keine zeitliche Einschränkung dahingehend, dass bei der Bestimmung der ruhegehaltfähigen Dienstzeiten nur besondere Auslandsverwendungen ab dem 1. Dezember 2002 Berücksichtigung finden. Die von § 25 Abs. 2 Satz 3 SVG 2011 in Bezug genommene Regelung des § 63c Abs. 1 SVG 2004 ihrerseits beschränkt sich auf eine Definition des Tatbestands der besonderen Auslandsverwendung. Eine ausdrückliche zeitliche Einschränkung der Definition etwa dahingehend, dass besondere Auslandsverwendungen nur solche ab einem bestimmten Zeitpunkt sind, enthält auch diese Vorschrift nicht. Aus dem Wortlaut der Norm lassen sich also keine Anknüpfungspunkte für die von der Beklagten nach Maßgabe ihrer behördeninternen Verwaltungsvorschriften (Hinweise des Bundesministeriums der Verteidigung zum EinsatzVVerbG 2011 vom 8. März 2012 ≪PSZ III 3 - Az 20-01-01/45 -≫, vom 23. August 2012 ≪PSZ III 3 - Az 20-02-08/07 -≫ und vom 16. August 2013 ≪PSZ III 3 - Az 20-02-08/07 -≫) vorgenommene Auslegung entnehmen, dass eine Doppelanrechnung von im Auslandseinsatz absolvierten Zeiten besonderer Auslandsverwendungen erst ab dem 1. Dezember 2002 möglich ist. Die in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat von der Beklagten geäußerte Ansicht, man habe es als "Erlasshalter" für ausreichend gehalten, das - seitens des Bundesministeriums - "Gewollte" im Erlasswege, nämlich in den vorbezeichneten Anwendungshinweisen, zu regeln, ist insoweit unbehelflich.
Rz. 12
b) Die Entstehungsgeschichte von § 25 Abs. 2 Satz 3 SVG 2011 einerseits und § 63c Abs. 1 SVG 2004 andererseits ist für die Beantwortung der Frage nach der zeitlichen Reichweite der ruhegehaltrechtlich doppelt berücksichtigungsfähigen Zeiten besonderer Auslandsverwendungen unergiebig. Zu § 25 Abs. 2 Satz 3 SVG 2011 enthält sich die Begründung des Gesetzesentwurfs jeder Stellungnahme zur Frage, ob die doppelte Anrechnung von Zeiten besonderer Auslandsverwendungen auch auf solche Auslandseinsätze zu erstrecken ist, die Soldaten vor dem 1. Dezember 2002 absolviert haben (vgl. BT-Drs. 17/7143 S. 15). Auch aus der Vorgeschichte des Einsatz-Versorgungsverbesserungsgesetzes 2011 - dem Einsatzversorgungsgesetz 2004 - ergibt sich nichts für oder gegen eine doppelte Ruhegehaltsanrechnung für Zeiten besonderer Auslandsverwendungen vor dem 1. Dezember 2002 gemäß § 25 Abs. 2 Satz 3 SVG 2011 (vgl. BT-Drs. 15/3416 S. 24). Die Einzelbegründung des Gesetzgebers zu der Vorschrift, in der die "besondere Auslandsverwendung" legal definiert wird - § 63c Abs. 1 SVG 2004 -, verhält sich ebenfalls nicht zur Frage der zeitlichen Rückerstreckung von § 25 Abs. 2 Satz 3 SVG 2011 auf Sachverhalte vor dem 1. Dezember 2002 (vgl. BT-Drs. 15/3416, S. 18). Nichts anderes ergibt sich aus den Materialien zum Einsatz-Weiterverwendungsgesetz 2007, das ausschließlich Regelungen zugunsten besonderer Auslandsverwendungen "einsatzgeschädigter Soldaten" zum Gegenstand hat (vgl. BT-Drs. 16/6564 S. 15). Auch die weitere Rückerstreckung von Einsatzversorgungsleistungen für im Ausland verunfallte Soldaten auf die Zeit ab dem 1. November 1991 durch das Bundeswehr-Attraktivitätssteigerungsgesetz 2015 hat ausschließlich "schwer gesundheitlich geschädigte Personen" in den Blick genommen, die trotz zum Teil erheblicher Gefährdungslagen zum Beispiel im Bosnien- und Kosovoeinsatz bis dahin nicht dieselbe versorgungsrechtliche Absicherung wie ab dem 1. Dezember 2002 im Einsatz Geschädigte besaßen (BT-Drs. 18/3697 S. 63). Schließlich beschränken sich auch die in diesem Zusammenhang jüngsten gesetzlichen Änderungen durch das Bundeswehr-Einsatzbereitschaftsstärkungsgesetz 2019 - § 63c Abs. 1 SVG 2019 (BGBl. I S. 1147 ≪3054≫) - nach der Gesetzesbegründung allein auf die unfallrechtliche Einsatzversorgung; allgemeine Fragen der Ruhegehaltsberechnung haben sie nicht zum Gegenstand (vgl. BT-Drs. 19/9491 S. 139).
Rz. 13
c) In gesetzessystematischer Hinsicht ist zu differenzieren: Nach der gesetzlichen Systematik des Soldatenversorgungsgesetzes ist zu beachten, dass § 25 Abs. 2 Satz 3 SVG 2011 eine allein ruhegehaltbezogene Rechtsfrage in Anknüpfung an die "besondere Auslandsverwendung" beantwortet. Dagegen beinhalten die in §§ 63c bis 63g SVG 2004 (BGBl. I S. 3592) sowie in § 103 Abs. 1 und 2 SVG getroffenen Vorschriften das besondere Recht der Einsatzversorgung mit Regelungen zur Dienstunfallfürsorge und der Wiedereingliederung. Der Ruhegehaltsanspruch, den § 25 Abs. 2 Satz 3 SVG 2011 mit ausgestaltet, unterscheidet sich aber nach Funktion, Voraussetzungen und Rechtsfolge wesentlich vom Recht der Einsatzversorgung nach dem durch die Verweisung in Bezug genommenen § 63c SVG 2004.
Rz. 14
Das in die Vorschriften der §§ 63c bis 63g SVG im Jahre 2004 in das Soldatenversorgungsgesetz eingefügte Einsatzversorgungsrecht umfasst grundsätzlich alle Leistungen der Dienstunfallfürsorge, allerdings angepasst an die Erfordernisse besonderer Auslandsverwendungen. Dazu zählen nach § 63c Abs. 3 SVG 2004 insbesondere der Schadensausgleich in besonderen Fällen (§ 63b), das Unfallruhegehalt (§ 63d) und die einmalige Entschädigung (§ 63e). Der Schutzzweck des Einsatzversorgungsrechts liegt in der verbesserten Absicherung von Soldaten gegenüber den Folgen einer anlässlich einer besonderen Auslandsverwendung erlittenen gesundheitlichen Schädigung.
Rz. 15
Funktionell mit dem Einsatzversorgungsrecht verwandt ist das Recht der Einsatz-Weiterverwendung, das durch das Gesetz zur Regelung der Weiterverwendung nach Einsatzunfällen vom 12. Dezember 2007 zum 18. Dezember 2007 geschaffen worden ist (Einsatz-Weiterverwendungsgesetz - EinsatzWVG - BGBl. I S. 2861). Das Einsatz-Weiterverwendungsgesetz dient einer verbesserten Absicherung einsatzgeschädigter Soldaten dadurch, dass diesen insbesondere die Herstellung der Dienstfähigkeit für die Wiederaufnahme der bisherigen beruflichen Tätigkeit, für eine Weiterverwendung beim Bund oder für eine sonstige Eingliederung in das Arbeitsleben sowie die hierfür erforderliche berufliche Qualifizierung im Soldatenstatus ermöglicht werden. Es handelt sich mithin um ein besonderes Wiedereingliederungsrecht. Der Begriff der "Einsatzgeschädigten" (§ 1 EinsatzWVG) als zentrale persönliche Anspruchsvoraussetzung knüpft an einen Einsatzunfall i.S.v. § 63c Abs. 2 SVG 2004 an, der wiederum eine besondere Auslandsverwendung i.S.v. § 63c Abs. 1 SVG 2004 voraussetzt.
Rz. 16
Materiell handelt es sich sowohl bei dem Recht der Einsatzversorgung als auch bei demjenigen der Einsatz-Weiterverwendung um Unfallfürsorgerecht und damit um Soldatenversorgungsrecht in einem weiteren Sinne. Maßgeblich ist die Rechtslage im Zeitpunkt des Schadensereignisses, d.h. im Zeitpunkt des Einsatzunfalls. Beide Institute setzen einen Einsatzunfall voraus und unterscheiden sich damit schon in ihren tatbestandlichen Anspruchsvoraussetzungen vom Ruhegehaltsanspruch, für den es maßgeblich auf die Rechtslage im Zeitpunkt der Zurruhesetzung ankommt (Versorgungsfallprinzip). Die Verschiedenheit des Ruhegehaltsrechts einerseits und des Einsatzversorgungsrechts als besonderes Dienstunfallrecht andererseits legt es nicht nahe, die Rechtsvorschriften trotz unterschiedlichen zeitlichen Anknüpfungspunkts einheitlich auszulegen. Dies deutet eher darauf hin, dass die Verweisung in § 25 Abs. 2 Satz 3 SVG 2011 allein auf die Legaldefinition der besonderen Auslandsverwendung in § 63c Abs. 1 SVG 2004 gerichtet ist.
Rz. 17
d) Aus den verschiedenen maßgeblichen Zeitpunkten - d.h. dem Zeitpunkt des Schadensereignisses oder dem Zeitpunkt der Zurruhesetzung - folgt nach Sinn und Zweck der Regelungen, dass der Gesetzgeber im Einsatzversorgungsrecht, um (überhaupt) eine Rückerstreckung des zeitlichen Anwendungsbereichs zu bewirken, dies ausdrücklich regeln muss, während aufgrund des im Ruhegehaltsrecht geltenden Versorgungsfallprinzips eine Rückerstreckung des zeitlichen Anwendungsbereichs gleichsam von selbst eintritt mit der Folge, dass eine Bestimmung des zeitlichen Anwendungsbereichs nur erforderlich ist, wenn dieser entsprechend dem Gestaltungsanliegen des Gesetzgebers auf ein bestimmtes Datum in der Vergangenheit begrenzt werden soll. Dementsprechend ist aus der Gesetzesbegründung zur Übergangsregelung in § 103 Abs. 2 SVG 2015 (BGBl. I S. 796) zu ersehen, dass der Gesetzgeber sich bei der Schaffung der Vorschrift der allgemeinen Grundsätze zum maßgeblichen Zeitpunkt für die Normanwendung bewusst war und er mit der Rückerstreckung des zeitlichen Anwendungsbereichs auf den 1. November 1991 - anders als mit § 25 Abs. 2 Satz 3 SVG 2011 - ein konkretes Gestaltungsanliegen verfolgt hat.
Rz. 18
Für die Auslegung bedeutsam sind weiter Sinn und Zweck der in § 25 Abs. 2 Satz 3 SVG 2011 einerseits und § 76e SGB VI 2011 andererseits enthaltenen unterschiedlichen Voraussetzungen. Während § 25 Abs. 2 Satz 3 SVG 2011 die doppelte Ruhegehaltfähigkeit von Zeiten besonderer Auslandsverwendungen für Berufssoldaten mit Pensionsanspruch regelt, verbessert § 76e SGB VI 2011 spiegelbildlich die rentenrechtliche Absicherung der Zivilbediensteten sowie der Helfer des Technischen Hilfswerks und der Soldaten ohne Pensionsanspruch, also von Soldaten auf Zeit und von Soldaten, die aufgrund einer freiwilligen Verpflichtung eine Auslandsverwendung im Rahmen des Wehrdienstes leisten oder die im Rahmen ihrer Dienstleistungspflicht nach § 62 SG zu einer besonderen Auslandsverwendung herangezogen werden (insbesondere Reservisten).
Rz. 19
Nach § 76e Abs. 1 SGB VI 2011 werden für Zeiten einer besonderen Auslandsverwendung nach § 63c Abs. 1 SVG 2004 ab dem 13. Dezember 2011 Zuschläge an Entgeltpunkten zu den in diesem Monat erworbenen Pflichtbeiträgen gewährt, wenn während dieser Zeiten Pflichtbeitragszeiten vorliegen und nach dem 30. November 2002 insgesamt mindestens 180 Tage an Zeiten einer besonderen Auslandsverwendung vorliegen, die jeweils ununterbrochen mindestens 30 Tage gedauert haben. Wie insbesondere an der identisch formulierten tatbestandlichen Anknüpfung an § 63c Abs. 1 SVG 2004 und den gleichen sachlichen Anforderungen an die Dauer der Einsatzzeiten zu erkennen ist, handelt es sich bei § 76e Abs. 1 SGB VI 2011 um die funktionale Entsprechung zu § 25 Abs. 2 Satz 3 SVG 2011 im Recht der gesetzlichen Rentenversicherung. Auch die Begründung des Gesetzesentwurfs zum Einsatz-Versorgungsverbesserungsgesetz benennt die zu § 25 Abs. 2 Satz 3 SVG 2011 analoge Funktion der Vorschrift, die Belastungen durch besondere Auslandsverwendungen verstärkt anzuerkennen (vgl. BT-Drs. 17/7143 S. 21), und behandelt die beiden Vorschriften aufgrund dessen in einem inhaltlichen Zusammenhang (vgl. BT-Drs. 17/7143 S. 1).
Rz. 20
Die verbesserte rentenrechtliche Absicherung in Form von Zuschlägen an Entgeltpunkten nach § 76e Abs. 1 SGB VI 2011 gilt indes aufgrund ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung - und dem Wortlaut nach damit wiederum abweichend von § 25 Abs. 2 Satz 3 SVG 2011 - nur für Zeiten der besonderen Auslandsverwendung, für die bereits Pflichtbeitragszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung ab Dezember 2002 erworben wurden. Die Pflichtbeitragszeit muss aus der besonderen Verwendung im Ausland herrühren; sie bleibt dem ehemaligen Soldaten erhalten, wenn er nachversichert wird (vgl. Brall, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK SGB VI, 3. Aufl. 2021, § 76e Rn. 9; Gürtner, in: Kasseler Kommentar, SGB VI, Stand März 2018, § 76e Rn. 3). Denn nach § 185 Abs. 2 i.V.m. § 186a Abs. 1 und § 188 Abs. 1 SGB VI gelten auch Nachversicherungsbeiträge als rechtzeitig gezahlte Pflichtbeiträge. Außerdem unterscheiden sich beide Modelle darin, dass die doppelte Berücksichtigung der besonderen Auslandsverwendungen nach § 25 Abs. 2 Satz 3 SVG 2011 durch den Ruhegehaltshöchstsatz von 71,75 v.H. gedeckelt ist, während die Zuschläge für die Entgeltpunkte nach § 76e Abs. 1 SGB VI 2011 gemeinsam mit den Entgeltpunkten für die versicherte Beschäftigung die Entgeltpunkte überschreiten dürfen, die sich aus Beiträgen bis zur Beitragsbemessungsgrenze ergeben.
Rz. 21
Schließlich ist zu berücksichtigen, dass es sich bei § 25 Abs. 2 Satz 3 SVG 2011 nach der gesetzlichen Regelungstechnik in der Rechtsfolge um eine Vorschrift handelt, die die Entscheidung über eine doppelte ruhegehaltfähige Berücksichtigung der Zeiten besonderer Auslandsverwendung - grundsätzlich - ins pflichtgemäße Ermessen der Versorgungsbehörde legt ("können"). Dagegen handelt es sich bei der Entscheidung der gesetzlichen Rentenversicherung nach § 76e Abs. 1 SGB VI 2011 über die Zuschläge an Entgeltpunkten infolge Zeiten besonderer Auslandsverwendung um eine in der Rechtsfolge gesetzlich gebundene Entscheidung ("werden").
Rz. 22
e) Es ist Sache des Gesetzgebers, eine im Gesetzeswortlaut des § 25 Abs. 2 Satz 3 SVG 2011 Niederschlag findende Stichtagsregelung für das Einsetzen der Berücksichtigung von Zeiten besonderer Auslandsverwendungen bis zum Doppelten als ruhegehaltfähige Dienstzeit zu bestimmen. Daran fehlt es bisher. Im Wortlaut der Parallelregelung des § 76e Abs. 1 SGB VI 2011 ist dies gelungen. Im gewaltengeteilten Staat des Grundgesetzes ist es nicht Aufgabe der Gerichte, einer von Verwaltungsbehörden für zutreffend gehaltenen Gesetzesanwendung, die sich nach den anerkannten Auslegungsgrundsätzen dem Gesetz, insbesondere dem Gesetzeswortlaut, nicht mit der erforderlichen Deutlichkeit entnehmen lässt, Geltung zu verschaffen. Derartige Regelungsdefizite muss der Gesetzgeber selbst beheben (BVerwG, Urteil vom 13. Oktober 2020 - 2 C 11.20 - Buchholz 239.2 LBeamtVersorgR Nr. 5 Rn. 40).
Rz. 23
2. Die Beklagte hat aber das ihr durch § 25 Abs. 2 Satz 3 SVG eingeräumte Ermessen mit dem Bescheid vom 5. April 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids 9. Mai 2018 noch nicht fehlerfrei ausgeübt (§ 114 Satz 1 VwGO).
Rz. 24
Zwar hat die Beklagte ausgeführt, das Ermessen der Versorgungsbehörde sei zur Vermeidung einer Ungleichbehandlung im Rahmen der Doppelanrechnung durch die Erlasse des Bundesministeriums der Verteidigung vom 8. März 2012 (PSZ III 3 - Az 20-01-01/45 -), vom 23. August 2012 (PSZ III 3 - Az 20-02-08/07) und vom 16. August 2013 (PSZ III 3 - Az 20-02-08/07 -) dahingehend gebunden worden, dass nach dem 30. November 2002 erbrachte Zeiten besonderer Auslandsverwendung stets mit dem Doppelten der ruhegehaltsfähigen Dienstzeit zu berücksichtigen seien. Insoweit enthalten die genannten Erlasse zwar die Verwaltungspraxis leitende Ermessungserwägungen; diese beziehen sich jedoch nur auf Auslandsverwendungen nach dem darin bezeichneten Stichtag, nicht aber auf die hier streitigen Verwendungen, die vor diesem Stichtag liegen.
Rz. 25
Eine fehlerfreie Ermessensausübung steht damit noch aus. Bei der Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens wird die Beklagte in ihre Ermessenserwägungen insbesondere einstellen müssen, dass nach ihrer behördeninternen Erlasslage für von Soldaten nach dem 30. November 2002 absolvierte Zeiten besonderer Auslandsverwendungen nach § 25 Abs. 2 Satz 3 SVG 2011 stets das Doppelte dieser Zeit als ruhegehaltfähige Dienstzeit zu berücksichtigen sind. Abgestufte Regelungen sind danach ausgeschlossen (Ziff. 4 der Hinweise des Bundesministeriums der Verteidigung vom 23. August 2012 zum EinsatzVVerbG 2011 vom 8. März 2012 ≪PSZ III 3 - Az 20-01-01/45 -≫). Die Beklagte hat das ihr gesetzlich eingeräumte Einzelfallermessen damit durch Verwaltungsvorschrift dahingehend generalisiert, bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen von § 25 Abs. 2 Satz 3 SVG 2011 in der Rechtsfolge bei Zeiten besonderer Auslandsverwendungen stets das Doppelte dieser Zeit als ruhegehaltfähige Dienstzeit zu berücksichtigen. Nach dieser - allerdings abänderbaren - Ermessenspraxis hat sie sich auch bei der Bewertung von Zeiten besonderer Auslandsverwendungen vor dem 1. Dezember 2002 zu richten.
Rz. 26
Die Beklagte hat folglich das ihr in § 25 Abs. 2 Satz 3 SVG 2011 eingeräumte Ermessen nicht dem Zweck der Ermächtigung entsprechend ausgeübt (vgl. § 40 VwVfG und § 114 Satz 1 VwGO) und ist daher zu verpflichten, über den Antrag des Klägers eine neue, fehlerfreie Ermessensentscheidung unter Beachtung der dargelegten Rechtsauffassung des Bundesverwaltungsgerichts zu treffen.
Rz. 27
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Fundstellen
Dokument-Index HI15070290 |