Entscheidungsstichwort (Thema)
Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Gleichbehandlung. Soziale Sicherheit. Nationale Regelung, durch die inländischen und ausländischen Personenstandsurkunden unterschiedliche Beweiskraft beigemessen wird
Beteiligte
Landesversicherungsanstalt Württemberg |
Tenor
In Verfahren über sozialrechtliche Leistungsansprüche eines Wanderarbeitnehmers aus der Gemeinschaft sind die nationalen Sozialversicherungsträger und Gerichte eines Mitgliedstaats verpflichtet, von den zuständigen Behörden der anderen Mitgliedstaaten ausgestellte Urkunden und ähnliche Schriftstücke über den Personenstand zu beachten, sofern deren Richtigkeit nicht durch konkrete, auf den jeweiligen Einzelfall bezogene Anhaltspunkte ernstlich in Frage gestellt ist.
Tatbestand
In der Rechtssache C-336/94
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag vom Sozialgericht Hamburg in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit
Eftalia Dafeki
gegen
Landesversicherungsanstalt Württemberg
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Artikel 48 und 51 EG-Vertrag im Hinblick auf deutsche Vorschriften, durch die Personenstandsurkunden unterschiedliche Beweiskraft beigemessen wird, je nachdem ob es sich um deutsche oder ausländische Urkunden handelt,
erläßt
DER GERICHTSHOF
unter Mitwirkung des Präsidenten der Vierten und der Sechsten Kammer H. Ragnemalm in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten sowie der Richter G. F. Mancini, J. C. Moitinho de Almeida, J. L. Murray, D. A. O. Edward, J.-P. Puissochet, G. Hirsch, P. Jann (Berichterstatter) und L. Sevón,
Generalanwalt: A. La Pergola
Kanzler: H. A. Rühl, Hauptverwaltungsrat
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
- • von Frau Dafeki, vertreten durch Rechtsanwalt Johann S. Politis, Athen,
- • der deutschen Regierung, vertreten durch Ministerialrat Ernst Röder und Oberregierungsrat Bernd Kloke, beide Bundesministerium für Wirtschaft, als Bevollmächtigte,
- • der griechischen Regierung, vertreten durch Panagiotis Kamarineas, Rechtsberater des Staates, Kyriaki Grigoriou, Prozeßvertreterin des Juristischen Dienstes des Staates, und Ioanna Galani-Maragkoudaki, Sonderrechtsberaterin zweiter Klasse der Sonderabteilung des Außenministeriums für Fragen des Gemeinschaftsrechts, als Bevollmächtigte,
- • der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Rechtsberater Jörn Sack als Bevollmächtigten,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen von Frau Dafeki, vertreten durch Rechtsanwalt Johann S. Politis, der Landesversicherungsanstalt Württemberg, vertreten durch Regierungsdirektor Eberhard Graner, der deutschen Regierung, vertreten durch Regierungsrätin zur Anstellung Sabine Maaß, Bundesministerium für Wirtschaft, als Bevollmächtigte, der griechischen Regierung, vertreten durch Fokion Georgakopoulos, beigeordneter Rechtsberater im Juristischen Dienst des Staates, als Bevollmächtigten und durch Ioanna Galani-Maragkoudaki, und der Kommission, vertreten durch Jörn Sack, in der Sitzung vom 22. Oktober 1996,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 3. Dezember 1996,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
1. Das Sozialgericht Hamburg hat mit Beschluß vom 12. September 1994, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Dezember 1994, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der Artikel 48 und 51 EG-Vertrag im Hinblick auf deutsche Vorschriften, durch die Personenstandsurkunden unterschiedliche Beweiskraft beigemessen wird, je nachdem ob es sich um deutsche oder ausländische Urkunden handelt, zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2. Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen Frau Dafeki (im folgenden: Klägerin) und der Landesversicherungsanstalt Württemberg, einem deutschen Rentenversicherungsträger (im folgenden: LVA).
3. Die Klägerin wurde in Griechenland geboren und besitzt die griechische Staatsangehörigkeit. Sie arbeitet seit Mai 1966 in Deutschland. In ihren Personenstandsurkunden war als Geburtsdatum der 3. Dezember 1933 angegeben. Mit Urteil des Monomeles Protodikeio Trikala, einem erstinstanzlichen, mit einem Einzelrichter besetzten Gericht, vom 4. April 1986 wurde dieses Datum gemäß dem Verfahren berichtigt, das bei Verlust der Archive und der Personenstandsbücher anzuwenden ist. Als Geburtsdatum der Klägerin ist nunmehr im Personenstandsbuch und in ihren Personenstandsurkunden der 20. Februar 1929 angegeben. Ihr wurde daher eine neue Geburtsurkunde ausgestellt.
4. Am 19. Dezember 1988 beantragte die Klägerin bei der LVA das für Frauen ab Vollendung des 60. Lebensjahres vorgesehene vorgezogene Altersruhegeld. Zu diesem Zweck legte sie zunächst die von den zuständigen griechischen Behörden ausgestellte neue Geburtsurkunde und sodann auf Verlangen der LVA das Berichtigungsurteil vor. Obwohl sie die übrigen Anspruchsvoraussetzungen erfüllte, lehnte die LVA den Antrag ab, wobei sie sich auf das Geburtsdatum vor der Berichtigung stützte. Nach erfolglosem Widerspruch erhob die Klägerin ...