Entscheidungsstichwort (Thema)
ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: ARBEITSGERICHT LOERRACH – DEUTSCHLAND. Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer: Anerkennung einer Arbeitsunfähigkeit. Gemeinschaftsregelung – Sachlicher Geltungsbereich – Vorgesehene und ausgeschlossene Leistungen – Unterscheidungskriterien – Leistungen, die der Arbeitgeber im Rahmen der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall an den Arbeitnehmer zahlt – Einbeziehung – Umstand, daß die Leistungen finanziell zu Lasten des Arbeitgebers gehen – Unbeachtlich (Verordnung Nr. 1408/71 des Rates, Artikel 4 Absatz 1). Krankenversicherung – Arbeitnehmer, der sich in einem anderen Mitgliedstaat als dem zuständigen Staat aufhält – Arbeitsunfähigkeit – Feststellung durch den Träger des Aufenthaltsorts – Anerkennungspflicht – Grenzen – Untersuchung des Arbeitnehmers durch einen vom zuständigen Träger ausgewählten Arzt (Verordnung Nr. 574/72 des Rates, Artikel 18 Absätze 1 bis 5)
Leitsatz (amtlich)
1. Die Unterscheidung zwischen vom Geltungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 ausgeschlossenen Leistungen und Leistungen, die unter diese Verordnung fallen, richtet sich im wesentlichen nach den grundlegenden Merkmalen jeder einzelnen Leistung, insbesondere ihrer Zielsetzung und den Voraussetzungen für ihre Gewährung, nicht dagegen danach, ob sie nach den nationalen Rechtsvorschriften als eine Leistung der sozialen Sicherheit angesehen wird.
Die vom Arbeitgeber im Rahmen der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall erbrachten Leistungen, bei deren Gewährung die Zahlung der nach dem nationalen Recht der sozialen Sicherheit vorgesehenen Tagegelder bis zur Dauer von sechs Wochen ruht, stellen Leistungen bei Krankheit im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 dar. Der Umstand, daß diese Leistungen finanziell zu Lasten des Arbeitgebers gehen, kann ihre Einbeziehung in den Geltungsbereich dieser Verordnung nicht hindern, da die Qualifizierung einer Leistung als unter diese Verordnung fallende Leistung der sozialen Sicherheit nicht von der Art ihrer Finanzierung abhängt.
2. Artikel 18 Absätze 1 bis 4 der Verordnung Nr. 574/72 ist dahin auszulegen, daß der zuständige Träger, auch wenn es sich dabei um den Arbeitgeber und nicht um einen Träger der sozialen Sicherheit handelt, in tatsächlicher und in rechtlicher Hinsicht an die vom Träger des Wohn- oder Aufenthaltsorts getroffenen ärztlichen Feststellungen über den Eintritt und die Dauer der Arbeitsunfähigkeit gebunden ist, sofern er die betroffene Person nicht durch einen Arzt seiner Wahl untersuchen lässt, wozu ihn Artikel 18 Absatz 5 ermächtigt.
Die praktischen Schwierigkeiten, die von einem Arbeitgeber geltend gemacht werden, der nicht in der Lage gewesen sein will, von der in Artikel 18 Absatz 5 vorgesehenen Befugnis sachgerecht Gebrauch zu machen, können die Auslegung einer Vorschrift dieser Verordnung, wie sie sich aus ihrem Wortlaut und ihrer Zielsetzung ergibt, nicht in Frage stellen.
Normenkette
EWGV 1408/71 Art. 4 Abs. 1; EWGV 574/72 Art. 18 Abs. 1, 5
Beteiligte
Alberto Paletta und andere |
Nachgehend
Tenor
Artikel 18 Absätze 1 bis 4 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, ist dahin auszulegen, daß der zuständige Träger, auch wenn es sich dabei um den Arbeitgeber und nicht um einen Träger der sozialen Sicherheit handelt, in tatsächlicher und in rechtlicher Hinsicht an die vom Träger des Wohn- oder Aufenthaltsorts getroffenen ärztlichen Feststellungen über den Eintritt und die Dauer der Arbeitsunfähigkeit gebunden ist, sofern er die betroffene Person nicht durch einen Arzt seiner Wahl untersuchen lässt, wozu ihn Artikel 18 Absatz 5 ermächtigt.
Gründe
1 Das Arbeitsgericht Lörrach hat mit Beschluß vom 31. Januar 1990, beim Gerichtshof eingegangen am 21. Februar 1990, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag mehrere Fragen nach der Auslegung des Artikels 18 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (ABl. L 74, S. 1), zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit des V. P., seiner Ehefrau R. sowie ihrer beiden Kinder C. und A., die alle italienische Staatsangehörige sind (im folgenden: Kläger), gegen ihren Arbeitgeber, die in der Bundesrepublik Deutschland niedergelassene B. AG (im folgenden: Beklagte) über die Weigerung der Beklagten, gemäß dem Lohnfortzahlungsgesetz vom 27. Juli 1969 (BGBl I., S. 946, im folgenden: LFZG) den Lohn der Kläger fortzuzahlen.
3 Nach dem LFZG hat der Arbeitgeber einem Arbeitnehmer, der nach Beginn der Beschäftigung durch Arbeitsunfähigkeit ohne eigenes Verschulden an seiner Arbeitsleistung geh...