Entscheidungsstichwort (Thema)
ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: BUNDESVERWALTUNGSGERICHT – DEUTSCHLAND. VERORDNUNG (EWG) NR. 1612/68 – ARTIKEL 12 – BEGRIFF DES KINDES. 1. Gerichtshof ° Organisation ° Besetzung der Kammern ° Artikel 165 Absatz 2 des Vertrages, der die Bildung von Spruchkörpern mit drei oder fünf Richtern ermöglicht ° Bestimmung, die eine Organisation des Gerichtshofes nicht ausschließt, nach der Kammern mit einer höheren Zahl von Richtern besetzt werden (EG-Vertrag, Artikel 165 Absatz 2). 2. Freizuegigkeit ° Arbeitnehmer ° Gleichbehandlung ° Zugang der Kinder eines Arbeitnehmers zum Unterricht ° Kind ° Begriff ° Ausschluß der Kinder, die 21 Jahre oder älter sind und denen ihre Eltern keinen Unterhalt mehr gewähren ° Unzulässigkeit (Verordnung des Rates Nr. 1612/68, Artikel 12)
Leitsatz (amtlich)
1. Artikel 165 Absatz 2 des Vertrages, der die Bildung von Kammern ermöglicht, um bestimmte Kategorien von Rechtssachen als Spruchkörper mit drei oder fünf Richtern zu entscheiden, verbietet es nicht, daß die drei oder fünf Richter, die eine bestimmte Rechtssache zu entscheiden haben, aus Gründen der gerichtlichen Organisation des Gerichtshofes zu einem Spruchkörper gehören, der mit einer höheren Zahl von Richtern besetzt ist.
2. Der Begriff des Kindes in Artikel 12 der Verordnung Nr. 1612/68, der die Zulassung der Kinder von Wanderarbeitnehmern zum Unterricht betrifft, ist nicht durch eine Altersgrenze oder das Erfordernis einer Unterhaltsgewährung einzuschränken, wie dies bei den in Artikel 10 Absatz 1 und Artikel 11 dieser Verordnung normierten Rechten der Fall ist, so daß hierunter auch ein Kind fallen kann, das 21 Jahre oder älter ist und dem von seinen Eltern kein Unterhalt mehr gewährt wird.
Eine Auslegung dieser Bestimmung, die bewirken würde, daß Studenten, deren Studium sich in einem fortgeschrittenen Stadium befindet, von den im Aufnahmemitgliedstaat gewährten finanziellen Hilfen ausgeschlossen werden, wenn sie das 21. Lebensjahr erreichen oder ihnen von ihren Eltern kein Unterhalt mehr gewährt wird, würde nämlich sowohl gegen den Buchstaben als auch gegen den Geist dieser Bestimmung verstossen, die einen Grundsatz der Gleichbehandlung aufstellt, der sich auf jede Form von Unterricht erstreckt.
Normenkette
EGVtr Art. 165 Abs. 2 (jetzt Art. 221 EG); EWGV 1612/68 Art. 12
Beteiligte
Landesamt für Ausbildungsförderung Nordrhein-Westfalen |
Tenor
Der Begriff des Kindes in Artikel 12 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft ist nicht durch eine Altersgrenze oder das Erfordernis einer Unterhaltsgewährung einzuschränken, wie dies bei den in Artikel 10 Absatz 1 und Artikel 11 dieser Verordnung normierten Rechten der Fall ist.
Gründe
1 Das Bundesverwaltungsgericht hat mit Beschluß vom 20. Oktober 1993, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Januar 1994, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung von Artikel 12 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2; im folgenden: Verordnung) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2 Diese Frage stellt sich im Rahmen eines Revisionsverfahrens zwischen dem Landesamt für Ausbildungsförderung Nordrhein-Westfalen (im folgenden: Landesamt) und Herrn Lubor Gaal unter Beteiligung des Oberbundesanwalts beim Bundesverwaltungsgericht.
3 Herr Gaal, der 1967 geboren wurde und die belgische Staatsangehörigkeit besitzt, wohnt seit 1969 in Deutschland. Er bezieht ° wegen des Todes seines Vaters ° lediglich eine Halbwaisenrente und erhält keinen Unterhalt von seiner Mutter. Nachdem er 1986 in Deutschland die Hochschulreife erworben hatte, nahm er dort das Studium der Biologie auf. Um im Jahr 1989/90 seine Universitätsausbildung im Vereinigten Königreich fortsetzen zu können, beantragte er Ausbildungsförderung.
4 Dieser Antrag wurde vom Landesamt mit Bescheid vom 30. Juni 1989 abgelehnt, weil Herr Gaal das 21. Lebensjahr bereits vollendet habe und keine Unterhaltsleistungen von seinen Eltern erhalte.
5 Das Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) bestimmt in § 5 Absatz 2, daß Auszubildenden, die ihren ständigen Wohnsitz im Inland haben, Ausbildungsförderung für den Besuch einer im Ausland gelegenen Ausbildungsstätte geleistet wird. Nach § 8 Absatz 1 BAföG wird diese Ausbildungsförderung u. a. „Auszubildenden [geleistet], denen nach dem Aufenthaltsgesetz/EWG als Kindern Freizuegigkeit gewährt wird oder die danach als Kinder verbleibeberechtigt sind”.
6 Der Aufenthalt von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft ist im Aufenthaltsgesetz/EWG (AufenthG/EWG) geregelt, das in § 1 Absatz 2 als Familienangehörige definiert „1. de[n] Ehegatte[n] und die Verwandten in absteigender Linie, die noch nicht 21 Jahre alt sind, 2. die Verwandten in aufsteigender und in absteigender Linie der in Absatz 1 genannten Personen oder ihrer Ehegatten, denen diese Personen oder ihre Ehegatten U...