Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialpolitik. Richtlinie 2003/88/EG. Arbeitszeitverkürzung (‚Kurzarbeit’). Kürzung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub nach Maßgabe der Arbeitszeitverkürzung. Finanzielle Vergütung
Beteiligte
Tenor
Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung sind dahin auszulegen, dass sie nationalen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten – wie etwa einem von einem Unternehmen und seinem Betriebsrat vereinbarten Sozialplan –, nach denen der Anspruch eines Kurzarbeiters auf bezahlten Jahresurlaub pro rata temporis berechnet wird, nicht entgegenstehen.
Tatbestand
In den verbundenen Rechtssachen
betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Arbeitsgericht Passau (Deutschland) mit Entscheidung vom 13. April 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 16. Mai 2011, in den Verfahren
Alexander Heimann (C-229/11),
Konstantin Toltschin (C-230/11)
gegen
Kaiser GmbH
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Richters M. Ilešič in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Fünften Kammer sowie der Richter E. Levits (Berichterstatter) und M. Safjan,
Generalanwältin: V. Trstenjak,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn Heimann, vertreten durch Rechtsanwalt R. Zuleger,
- von Herrn Toltschin, vertreten durch Rechtsanwalt R. Zuleger,
- der Kaiser GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt C. Olschar,
- der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze, N. Graf Vitzthum und K. Petersen als Bevollmächtigte,
- der polnischen Regierung, vertreten durch M. Szpunar als Bevollmächtigten,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. van Beek und V. Kreuschitz als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. L 299, S. 9, im Folgenden: Richtlinie).
Rz. 2
Sie ergehen im Rahmen zweier Rechtsstreitigkeiten zwischen Herrn Heimann und Herrn Toltschin auf der einen und ihrem ehemaligen Arbeitgeber, der Kaiser GmbH (im Folgenden: Kaiser), auf der anderen Seite über den Anspruch der Betroffenen auf eine finanzielle Vergütung für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub aus den Jahren 2009 und 2010.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 31 der Charta bestimmt:
„Gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen
(1) Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen.
(2) Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit, auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten sowie auf bezahlten Jahresurlaub.”
Rz. 4
In Art. 1 („Gegenstand und Anwendungsbereich”) der Richtlinie 2003/88 heißt es:
„(1) Diese Richtlinie enthält Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung.
(2) Gegenstand dieser Richtlinie sind
- … der Mindestjahresurlaub …
…”
Rz. 5
Art. 7 („Jahresurlaub”) dieser Richtlinie lautet:
„(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind.
(2) Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.”
Rz. 6
Nach Art. 17 der Richtlinie 2003/88 können die Mitgliedstaaten von bestimmten Vorschriften dieser Richtlinie abweichen. Eine Abweichung von Art. 7 der Richtlinie ist nicht zulässig.
Deutsches Recht
Rz. 7
Das Bundesurlaubsgesetz vom 8. Januar 1963 (BGBl. I S. 2) in seiner geänderten Fassung vom 7. Mai 2002 (BGBl. I S. 1529, im Folgenden: BUrlG) sieht in seinen §§ 1 und 3 einen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub von mindestens 24 Tagen vor.
Rz. 8
§ 7 Abs. 4 BUrlG bestimmt:
„Kann der Urlaub wegen Beendigung des Arbeitsverhältnisses ganz oder teilweise nicht mehr gewährt werden, so ist er abzugelten.”
Rz. 9
Nach § 11 Abs. 1 Satz 3 BUrlG bleiben Verdienstkürzungen, die im Berechnungszeitraum infolge von Kurzarbeit, Arbeitsausfällen oder unverschuldeter Arbeitsversäumnis eintreten, für die Berechnung des Urlaubsentgelts außer Betracht.
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Rz. 10
Die Herren Heimann und Toltschin waren seit 2003 bzw. 1998 bei Kaiser beschäftigt, einem Unternehmen der Automobilzulieferindustrie ...