Entscheidungsstichwort (Thema)
Vermittlung von Arbeitnehmern. Ausschluß von Privatunternehmen hinsichtlich der Vermittlungstätigkeit. Ausübung hoheitlicher Befugnisse. Auslegung der Artikel 48, 49, 55, 56, 59, 60, 62, 66, 86 und 90 EG-Vertrag
Normenkette
EGV Art. 48-49, 55-56, 59-60, 62, 66, 86, 90
Beteiligte
Tenor
Staatliche Arbeitsvermittlungsstellen unterliegen dem Verbot des Artikels 86 EG-Vertrag, soweit die Anwendung dieser Vorschrift nicht die Erfüllung der ihnen übertragenen besonderen Aufgabe verhindert. Ein Mitgliedstaat, der jede Tätigkeit der Vermittlung und Einschaltung von Mittelspersonen bei Stellengesuchen und -angeboten untersagt, wenn sie nicht durch diese Stellen erfolgt, verstößt gegen Artikel 90 Absatz 1 EG-Vertrag, wenn er eine Lage schafft, in der die staatlichen Vermittlungsstellen zwangsläufig gegen Artikel 86 des Vertrages verstoßen müssen. Dies gilt insbesondere, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind:
- Die staatlichen Vermittlungsstellen sind offenkundig nicht in der Lage, für alle Arten von Tätigkeiten die auf dem Arbeitsmarkt bestehende Nachfrage zu befriedigen;
- die tatsächliche Ausübung der Vermittlungstätigkeiten wird privaten Unternehmen durch die Beibehaltung von Gesetzesbestimmungen unmöglich gemacht, die diese Tätigkeiten bei strafrechtlichen oder Verwaltungssanktionen verbieten;
- die betreffenden Vermittlungstätigkeiten können sich auf Angehörige oder das Gebiet anderer Mitgliedstaaten erstrecken.
Gründe
1.
Die Corte d'appello Mailand hat mit Beschluß vom 30. Januar 1996, beim Gerichtshof eingegangen am 23. Februar 1996, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag drei Fragen nach der Auslegung der Artikel 48, 49, 55, 56, 59, 60, 62, 66, 86 und 90 EG-Vertrag zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2.
Diese Fragen stellen sich im Zusammenhang mit einer Beschwerde gemäß Artikel 2330 Absatz 4 des italienischen Codice civile (Bürgerliches Gesetzbuch) gegen die Ablehnung eines Antrags der Gesellschaft Job Centre coop. arl (im folgenden: JCC) auf Genehmigung ihrer Gründungsurkunde durch das Tribunale civile e penale Mailand.
3.
JCC ist eine in der Gründung befindliche Genossenschaft mit beschränkter Haftung, deren Sitz sich in Mailand befindet. Nach ihrer Satzung besteht ihre Tätigkeit insbesondere darin, Stellengesuche und -angebote zu vermitteln und Dritten vorübergehend Arbeitsleistungen zu beschaffen. Ihr Zweck ist es, Arbeitnehmern und Unternehmen – und zwar Mitgliedern wie Nichtmitgliedern – zu ermöglichen, derartige Dienste auf dem italienischen Arbeitsmarkt und dem Arbeitsmarkt der Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen.
4.
In Italien gilt für den Arbeitsmarkt das System der obligatorischen Vermittlung, das von Arbeitsämtern verwaltet wird. Dieses System ist im Gesetz Nr. 264 vom 29. April 1949 geregelt. Artikel 11 Absatz 1 dieses Gesetzes verbietet jede Vermittlung von Stellenangeboten und -gesuchen, selbst wenn diese Vermittlung unentgeltlich erfolgt. Jede gegen diese Vorschriften verstoßende Arbeitsvermittlung und die Einstellung von Arbeitnehmern ohne Einschaltung des Arbeitsamtes werden gemäß dem Gesetz Nr. 264 mit strafrechtlichen oder Verwaltungssanktionen geahndet. Außerdem können Arbeitsverträge, die unter Verstoß gegen diese Vorschriften geschlossen worden sind, auf Beschwerde des Arbeitsamtes und auf Antrag der Staatsanwaltschaft gerichtlich für ungültig erklärt werden; diese Beschwerde muß innerhalb eines Jahres von der Einstellung eines Arbeitnehmers an eingereicht werden.
5.
Artikel 1 Absatz 1 des Gesetzes Nr. 1369 vom 23. Oktober 1960 verbietet die Vermittlung und die Einschaltung von Mittelspersonen bei Arbeitsverhältnissen. Ein Verstoß gegen diese Vorschriften wird mit den in Artikel 2 dieses Gesetzes vorgesehenen strafrechtlichen Sanktionen geahndet, während gemäß Artikel 1 letzter Absatz Arbeitnehmer, die unter Verstoß gegen Artikel 1 Absatz 1 beschäftigt werden, rechtlich in jeder Hinsicht als von dem Unternehmer angestellt gelten, der ihre Leistungen tatsächlich genutzt hat.
6.
Am 28. Januar 1994 hatte der Präsident von JCC in Gründung beim Tribunale civile e penale Mailand beantragt, die Gründungsurkunde der Gesellschaft gemäß Artikel 2330 Absatz 3 des Codice civile zu genehmigen. Mit Beschluß vom 31. März 1994 hatte dieses Gericht das Genehmigungsverfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof zwei Fragen nach der Auslegung verschiedener Artikel des EG-Vertrags, die seiner Ansicht nach für die Entscheidung über die Genehmigung der Gründungsurkunde von JCC relevant waren, zur Vorabentscheidung vorgelegt.
7.
Der Gerichtshof hat mit Urteil vom 19. Oktober 1995 in der Rechtssache C-111/94 (Job Centre, Slg. 1995, I-3361) festgestellt, daß er für die Beantwortung der ihm vom Tribunale civile e penale Mailand vorgelegten Fragen nicht zuständig ist, weil dieses Gericht, wenn es in einem Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit über einen Antrag auf Genehmigung der Gründungsurkunde einer Gesellschaft zum Zweck ihrer Eintragung in das Register entscheidet, eine Tätigkeit...