Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialpolitik. Rechtsangleichung. Wahrung der Ansprüche der Arbeitnehmer. Übergang eines Unternehmens in freiwilliger Liquidation
Normenkette
Richtlinie 77/187/EWG Art. 1 Abs. 1, Art. 4 Abs. 1
Beteiligte
Automotive Industries Holding Company SA |
Tenor
1.
Artikel 1 Absatz 1 der Richtlinie 77/187/EWG des Rates vom 14. Februar 1977 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen ist dahin auszulegen, daß diese Richtlinie auf den Fall anwendbar ist, daß eine Gesellschaft in freiwilliger Liquidation ihre Aktiva ganz oder teilweise auf eine andere Gesellschaft überträgt, die sodann dem Arbeitnehmer Weisungen erteilt, deren Ausführung die Gesellschaft in Liquidation anordnet.
2.
Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie verwehrt es einem zum Zeitpunkt des Unternehmensübergangs beim Veräußerer beschäftigten Arbeitnehmer nicht, sich dem Übergang seines Arbeitsvertrags oder Arbeitsverhältnisses auf den Erwerber zu widersetzen, sofern diese Entscheidung von ihm frei getroffen wird. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu klären, ob der vom Erwerber angebotene Arbeitsvertrag eine wesentliche Änderung der Arbeitsbedingungen zum Nachteil des Arbeitnehmers zur Folge hat. Für diesen Fall müssen die Mitgliedstaaten nach Artikel 4 Absatz 2 der Richtlinie vorsehen, daß die Beendigung durch den Arbeitgeber erfolgt ist.
Gründe
1.
Die Cour du travail Brüssel hat mit Urteil vom 11. Dezember 1996, beim Gerichtshof eingegangen am 17. Dezember 1996, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der Richtlinie 77/187/EWG des Rates vom 14. Februar 1977 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen (ABl. L 61, S. 26; im folgenden: Richtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2.
Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen dem Handelsvertreter Wilfried Sanders und der Europièces SA in Liquidation über die Zahlung einer Kündigungsabfindung und weiterer Entschädigungen.
Das Gemeinschaftsrecht
3.
Die Richtlinie ist gemäß ihrem Artikel 1 Absatz 1 anwendbar auf den Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen auf einen anderen Inhaber durch vertragliche Übertragung oder durch Verschmelzung.
4.
Nach ihrem Artikel 3 Absatz 1 Unterabsatz 1 gehen die Rechte und Pflichten des Veräußerers aus einem zum Zeitpunkt des Übergangs bestehenden Arbeitsvertrag oder Arbeitsverhältnis aufgrund des Übergangs auf den Erwerber über.
5.
Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie bestimmt, daß der Übergang eines Unternehmens, Betriebes oder Betriebsteils als solcher für den Veräußerer oder den Erwerber keinen Grund zur Kündigung darstellt. Diese Bestimmung steht jedoch etwaigen Kündigungen aus wirtschaftlichen, technischen oder organisatorischen Gründen, die Änderungen im Bereich der Beschäftigung mit sich bringen, nicht entgegen.
6.
Artikel 4 Absatz 2 der Richtlinie bestimmt darüber hinaus, daß, wenn es zu einer Beendigung des Arbeitsvertrags oder Arbeitsverhältnisses kommt, weil der Übergang im Sinne des Artikels 1 Absatz 1 eine wesentliche Änderung der Arbeitsbedingungen zum Nachteil des Arbeitnehmers zur Folge hat, davon auszugehen ist, daß die Beendigung des Arbeitsvertrags oder Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber erfolgt ist.
7.
Während des Verfahrens vor dem Gerichtshof ist die Richtlinie durch die Richtlinie 98/50/EG des Rates vom 29. Juni 1998 (ABl. L 201, S. 88) ersetzt worden.
Das nationale Recht
8.
Die Bestimmungen der Richtlinie sind im belgischen Recht umgesetzt worden durch Kapitel 2 des mit Königlicher Verordnung vom 25. Juli 1985 (Moniteur belgevom 9. August 1985, S. 11527) für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrags Nr. 32bis vom 7. Juni 1985 über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Wechsel des Arbeitgebers aufgrund des vertraglichen Übergangs von Unternehmen und zur Regelung der Ansprüche der Arbeitnehmer, die bei der Übernahme der Aktiva nach einem Konkurs oder gerichtlichen Vergleich durch Vermögensübertragung übernommen werden; dieser Tarifvertrag wurde u. a. durch den mit Königlicher Verordnung vom 6. März 1990 (Moniteur belge vom 21. März 1990, S. 5114) für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag Nr. 32quater vom 19. Dezember 1989 geändert.
9.
Das dritte Kapitel des Tarifvertrags Nr. 32bis regelt die Ansprüche der Arbeitnehmer, die bei einem Wechsel des Arbeitgebers aufgrund der Übernahme der Aktiva nach einem Konkurs oder Vergleich durch Vermögensübertragung übernommen werden. Unter anderem hängt danach die Anwendung des Tarifvertrags davon ab, daß die Übernahme innerhalb von sechs Monaten nach Eröffnung des Konkurs- oder Vergleichsverfahrens erfolgt; andernfalls gilt der Tarifvertrag für das Personal nicht.
Das Ausgangsverfahren
10.
Herr Sanders war seit dem 15. Februar 1974 bei der Europièces SA als Hande...