Entscheidungsstichwort (Thema)

Mitgliedstaaten. Verpflichtungen. Verstoß. Beibehaltung einer mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbaren nationalen Vorschrift. Rechtfertigung mit einer die Anwendung des Vertrages gewährleistenden Verwaltungspraxis. Unzulässigkeit. Handlungen der Organe. Richtlinien. Durchführung durch die Mitgliedstaaten. Richtlinie, die Ansprüche des einzelnen begründen soll. Umsetzung ohne Tätigwerden des Gesetzgebers. Vertragsverletzung. Gleichbehandlung von Männern und Frauen. Verbot der Nachtarbeit

 

Leitsatz (amtlich)

1 Die Unvereinbarkeit von nationalem Recht mit den Gemeinschaftsvorschriften lässt sich, auch soweit diese unmittelbar anwendbar sind, letztlich nur durch verbindliche nationale Bestimmungen ausräumen, die denselben rechtlichen Rang haben wie die zu ändernden Bestimmungen. Eine blosse Verwaltungspraxis, die die Verwaltung naturgemäß beliebig ändern kann und die nur unzureichend bekannt ist, kann nicht als rechtswirksame Erfüllung der Verpflichtungen aus dem Vertrag angesehen werden.

2 Die Bestimmungen einer Richtlinie müssen mit unbestreitbarer Verbindlichkeit und mit der Konkretheit, Bestimmtheit und Klarheit durchgeführt werden, die notwendig sind, um dem Erfordernis der Rechtssicherheit zu genügen, das – soweit die Richtlinie Ansprüche für einzelne begründen soll – verlangt, daß die Begünstigten in die Lage versetzt werden, von allen ihren Rechten Kenntnis zu erlangen.

Dies ist nicht der Fall, wenn sich die Normadressaten einer mit einer Richtlinienbestimmung unvereinbaren Rechtsvorschrift wegen der Aufrechterhaltung dieser Norm in einem Mitgliedstaat in einem Zustand der Ungewißheit über ihre rechtliche Situation befinden und ungerechtfertigten Strafverfolgungen ausgesetzt sind. Weder die Verpflichtung des nationalen Gerichts, die volle Wirksamkeit der fraglichen Richtlinienbestimmung durch Ausserachtlassung jeder entgegenstehenden nationalen Vorschrift zu gewährleisten, noch eine ministerielle Antwort auf eine parlamentarische Anfrage, in der auf diese Verpflichtung hingewiesen wird, kann nämlich die Änderung eines Gesetzestextes bewirken.

 

Beteiligte

Kommission der Europäischen Gemeinschaften

Französische Republik

 

Tenor

1. Die Französische Republik hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 5 Absatz 1 der Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen verstossen, daß sie in Artikel L 213-1 des Code du travail ein Nachtarbeitsverbot für Frauen im Gewerbe aufrechterhalten hat, während für Männer kein solches Verbot gilt.

2. Die Französische Republik trägt die Kosten des Verfahrens.

 

Gründe

1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 10. Juni 1996 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 169 EG-Vertrag Klage erhoben auf Feststellung, daß die Französische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 5 Absatz 1 der Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen (ABl. L 39, S. 40; im folgenden: Richtlinie) verstossen hat, daß sie in Artikel L 213-1 des Code du travail ein Nachtarbeitsverbot für Frauen im Gewerbe aufrechterhalten hat, während für Männer kein solches Verbot gilt.

2 Nach Artikel 5 der Richtlinie beinhaltet die Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung hinsichtlich der Arbeitsbedingungen, daß Männern und Frauen dieselben Bedingungen ohne Diskriminierung aufgrund des Geschlechts gewährt werden (Absatz 1). Zu diesem Zweck treffen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, daß die mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz unvereinbaren Vorschriften beseitigt werden (Absatz 2 Buchstabe a) oder, wenn der Schutzgedanke, aus dem heraus sie ursprünglich entstanden sind, nicht mehr begründet ist, revidiert werden (Absatz 2 Buchstabe c). Nach Artikel 2 Absatz 3 steht die Richtlinie jedoch nicht den Vorschriften zum Schutz der Frau, insbesondere bei Schwangerschaft und Mutterschaft, entgegen.

3 Nach Artikel 9 Absatz 1 der Richtlinie hatten die Mitgliedstaaten die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Kraft zu setzen, um der Richtlinie binnen 30 Monaten und, was Artikel 5 Absatz 2 Buchstabe c angeht, binnen vier Jahren nach Bekanntgabe der Richtlinie, also vor dem 14. Februar 1980, nachzukommen.

4 Der Gerichtshof hat im Urteil vom 25. Juli 1991 in der Rechtssache C-345/89 (Stöckel, Slg. 1991, I-4047) für Recht erkannt, daß Artikel 5 der Richtlinie hinreichend bestimmt ist, um die Mitgliedstaaten zu verpflichten, das Verbot der Nachtarbeit von Frauen – auch wenn davon Ausnahmen bestehen – nicht als gesetzlichen Grundsatz aufzustellen, wenn es k...

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