Entscheidungsstichwort (Thema)
Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit. Richtlinie 79/7/EWG. Weigerung, einer Transsexuellen, die sich einer operativen Geschlechtsumwandlung vom Mann zur Frau unterzogen hat, mit dem 60. Lebensjahr eine Ruhestandsrente zu gewähren
Beteiligte
Secretary of State for Work and Pensions |
Tenor
1. Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit ist dahin auszulegen, dass er Rechtsvorschriften entgegensteht, die einer Person, die sich gemäß den Voraussetzungen des nationalen Rechts einer Geschlechtsumwandlung vom Mann zur Frau unterzogen hat, die Gewährung einer Ruhestandsrente versagen, weil sie noch nicht das 65. Lebensjahr erreicht hat, während diese Person mit 60 Jahren Anspruch auf eine solche Rente gehabt hätte, wenn sie nach dem nationalen Recht als Frau anzusehen gewesen wäre.
2. Es besteht kein Anlass, die zeitlichen Wirkungen des vorliegenden Urteils zu begrenzen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Artikel 234 EG, eingereicht vom Social Security Commissioner (Vereinigtes Königreich) mit Entscheidung vom 14. September 2004, beim Gerichtshof eingegangen am 4. Oktober 2004, in dem Verfahren
Sarah Margaret Richards
gegen
Secretary of State for Work and Pensions
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. Jann sowie der Richter K. Schiemann, der Richterin N. Colneric, des Richters J. N. Cunha Rodrigues (Berichterstatter) und des Richters E. Juhász,
Generalanwalt: F. G. Jacobs,
Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 20. Oktober 2005
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Frau Richards, vertreten durch J. Sawyer und T. Eicke, Barristers,
- der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch R. Caudwell als Bevollmächtigte im Beistand von T. Ward, Barrister,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch D. Martin und N. Yerrell als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. Dezember 2005
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Artikel 4 und 7 der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit (ABl. 1979, L 6, S. 24).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Richards, die sich einer operativen Geschlechtsumwandlung unterzogen hat, und dem Secretary of State for Work and Pensions (im Folgenden: Secretary of State) wegen dessen Weigerung, ihr ab ihrem 60. Geburtstag eine Ruhestandsrente zu gewähren.
Rechtlicher Rahmen
Gemeinschaftsrecht
3 Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 lautet:
„Der Grundsatz der Gleichbehandlung beinhaltet den Fortfall jeglicher unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, insbesondere unter Bezugnahme auf den Ehe- oder Familienstand, und zwar im Besonderen betreffend:
- den Anwendungsbereich der Systeme und die Bedingungen für den Zugang zu den Systemen,
- die Beitragspflicht und die Berechnung der Beiträge,
- die Berechnung der Leistungen, einschließlich der Zuschläge für den Ehegatten und für unterhaltsberechtigte Personen, sowie die Bedingungen betreffend die Geltungsdauer und die Aufrechterhaltung des Anspruchs auf die Leistungen.”
4 Nach ihrem Artikel 7 Absatz 1 steht die Richtlinie nicht der Befugnis der Mitgliedstaaten entgegen, Folgendes von ihrem Anwendungsbereich auszuschließen:
„a) die Festsetzung des Rentenalters für die Gewährung der Altersrente oder Ruhestandsrente und etwaige Auswirkungen daraus auf andere Leistungen;
…”
Nationales Recht
5 Section 29 (1) und (3) des Births and Deaths Registration Act 1953 untersagt jede Änderung des Geburtsregisters, außer im Fall eines Schreibfehlers oder faktischen Irrtums.
6 Nach Section 44 des Social Security Contributions and Benefits Act 1992 kann eine Person eine Ruhestandsrente der Kategorie A („normale” Ruhestandsrente) verlangen, wenn sie das Rentenalter erreicht hat und verschiedene Beitragsvoraussetzungen erfüllt.
7 Nach Schedule 4 Part I Paragraph 1 des Pensions Act 1995 erreicht ein Mann das Rentenalter mit 65 Jahren und eine vor dem 6. April 1950 geborene Frau mit 60 Jahren.
8 Am 1. Juli 2004 wurde der Gender Recognition Act (Gesetz über die Anerkennung der Geschlechtszugehörigkeit) 2004 (im Folgenden: Gesetz von 2004) erlassen, der am 4. April 2005 in Kraft getreten ist.
9 Nach diesem Gesetz können Personen, die sich bereits einer Geschlechtsumwandlung unterzogen haben oder sich einer solchen Operation unterziehen wollen, eine Bescheinigung über die Anerkennung der Geschlechtszugehörigkeit („gender recognition certificate”) beantragen, a...