Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtsschutzinteresse des Betriebsrats für einen Unterlassungsantrag nach § 23 Abs. 3 BetrVG. Unterlassungsanspruch bei grober Pflichtverletzung durch den Arbeitgeber. Duldung von Überstunden durch den Arbeitgeber. Reichweite des Mitbestimmungsrechts des Betriebsrats aus § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG
Leitsatz (amtlich)
1. Die Beteuerung des Arbeitgebers, dass er die Betriebsvereinbarung "anerkenne und einhalte" lässt das Rechtsschutzinteresse des Betriebsrats für einen Antrag nach § 23 Absatz 3 BetrVG nicht entfallen, § 256 Absatz 1 ZPO.
2. Der Unterlassungsanspruch nach § 23 Absatz 3 BetrVG setzt einen groben Verstoß gegen die Verpflichtungen des Arbeitgebers aus diesem Gesetz voraus. Hierunter fallen auch grobe Verletzungen von Pflichten, die sich aus einer Betriebsvereinbarung ergeben.
3. Auf eine Duldung von Überstunden seitens des Arbeitgebers kann nur unter Berücksichtigung aller Einzelfallumstände geschlossen werden. Einzelne oder besonderen einmaligen Umständen geschuldete Überschreitungen der betriebsüblichen Arbeitszeit sprechen für sich gesehen nicht dafür, dass der Arbeitgeber diese hinnimmt. Die positive Kenntnis des Arbeitgebers von Überstundenleistungen durch Arbeitnehmer ohne Ergreifen von Gegenmaßnahmen deutet regelmäßig auf deren Duldung hin.
4. Diese Voraussetzungen waren hier erfüllt: Mehrere (5) Arbeitnehmer wiesen über einen Zeitraum von sechs Monaten ein das in der Betriebsvereinbarung vorgesehene (Höchst-) Maß von 40 Überstunden deutlich übersteigendes Maß an Mehrarbeit auf. Diese Situation verschlimmerte sich während des Laufs des vorliegenden Beschlussverfahrens noch. Dass ihm der Stand der Gleitzeitkonten bekannt war, bestreitet der Arbeitgeber nicht. Die vom Arbeitgeber ergriffenen Maßnahmen (Schulungen der Mitarbeiter über die Inhalte der Betriebsvereinbarung) hatten nicht den gewünschten Erfolg.
Leitsatz (redaktionell)
Überschreitungen der betriebsüblichen Arbeitszeit, die nicht vergütet werden oder die der Arbeitgeber nicht belegt oder ignoriert oder trotz entsprechender Möglichkeit nicht zur Kenntnis nimmt, unterfallen dem Mitbestimmungsrecht des § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG.
Normenkette
BetrVG § 23 Abs. 3; ZPO § 256 Abs. 1; BetrVG § 87 Abs. 1 Nr. 3
Verfahrensgang
ArbG Offenbach am Main (Entscheidung vom 16.05.2022; Aktenzeichen 9 BV 6/21) |
Tenor
Die Beschwerde der Beteiligten zu 2 gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Offenbach am Main vom 16. Mai 2022 - 9 BV 6/27 - wird zurückgewiesen.
Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten über einen Antrag des Betriebsrats nach § 23 Abs. 3 BetrVG wegen wiederholter Verstöße des Arbeitgebers gegen die Betriebsvereinbarung „Flexibilisierung Arbeitszeit“ vom 29. September/1. Oktober 2020.
Antragsteller ist der im Betrieb des Arbeitgebers (Beteiligte zu 2) gebildete Betriebsrat. Die Betriebspartner vereinbarten am 29. September/1. Oktober 2020 die Betriebsvereinbarung „Flexibilisierung Arbeitszeit“; insoweit wird auf Bl. 8-11 der Akte Bezug genommen.
Mit seinem am 16. Juli 2021 beim Arbeitsgericht eingegangenen Anwaltsschriftsatz hat der Betriebsrat die Unterlassung von Verstößen gegen diese Betriebsvereinbarung seitens des Arbeitgebers geltend gemacht.
Wegen der Einzelheiten des erstinstanzlichen Vorbringens der Beteiligten und der gestellten Anträge wird auf die Ausführungen des Arbeitsgerichts im Beschluss unter I. (Bl. 240-246 der Akte) Bezug genommen.
Das Arbeitsgericht hat den Anträgen des Betriebsrats stattgegeben. Wegen der Begründung wird auf die Ausführungen im Beschluss unter II. (Bl. 246-248 der Akte) verwiesen.
Dieser Beschluss wurde dem Verfahrensbevollmächtigten des Arbeitgebers am 13. Juni 2022 zugestellt, der dagegen am 28. Juni 2022 Beschwerde eingelegt und diese nach Verlängerung der Beschwerdebegründungsfrist bis 15. September 2022 am 15. September 2022 begründet hat.
Der Arbeitgeber rügt, das Arbeitsgericht habe verkannt, dass kein ordnungsgemäßer Beschluss des Betriebsrats zur Beauftragung eines Rechtsanwalts vorliege. Die Beschlussfassung in der Betriebsratssitzung vom 2. Februar 2022 sei bereits deshalb unwirksam, weil die Geschäftsordnung des Betriebsrats nicht den Anforderungen der Durchführung einer Betriebsratssitzung als Video-/Telefonkonferenz entspreche. Der Betriebsratsbeschluss vom 21. Juni 2021 sei unwirksam, weil in der Ladung der betreffende Tagesordnungspunkt nicht ordnungsgemäß angegeben sei. Auch in der Betriebsratssitzung vom 16. Mai 2022 sei kein wirksamer Beschluss zur Einleitung bzw. Genehmigung des vorliegenden Verfahrens gefasst worden; insoweit werde die Rechtzeitigkeit der Ladung mit Nichtwissen bestritten und gerügt, dass ein Verhinderungsfall bezüglich eines Betriebsratsmitglieds vorgelegen habe. Ferner bestehe kein Rechtsschutzbedürfnis für die Anträge des Betriebsrats, weil der Arbeitgeber die Regelungen der Betriebsvereinbarung anerkenne und einhalte, zwischen den Betriebspartnern Einvernehmen bestehe, dass die Regelungen der Betriebsvereinbaru...