Rz. 7
Keine Wahlmöglichkeit, tätig zu werden oder untätig zu bleiben, hat die Behörde auch in den Fällen, in denen das Offizialprinzip durch die Dispositionsmaxime ersetzt ist. Den sichtbaren Ausdruck dafür bildet das Antragsrecht. Anträge bedürfen grundsätzlich keiner bestimmten Form. Sie müssen lediglich in erkennbarer Weise zum Ausdruck bringen, dass von einem Antragsrecht Gebrauch gemacht werden soll. Als Antrag ist mithin jede Erklärung anzusehen, durch die jemand gegenüber der zuständigen Stelle das Begehren zum Ausdruck bringt, Sozialleistungen ganz allgemein oder eine bestimmte Sozialleistung zu erhalten (BSG, Urteil v. 24.8.1955, 9 RV 352/55, ZfS 1955 S. 255; BSG, Urteil v. 26.1.2000, B 13 RJ 37/98 R, SozR 3-5910 § 91a Nr. 7). Der materiell-rechtliche Antrag auf Gewährung einer antragsabhängigen Leistung enthält zugleich den Antrag auf Durchführung des erforderlichen Verwaltungsverfahrens (BSG, Urteil v. 28.10.2009, B 14 AS 56/08 R, SozR 4-4200 § 37 Nr. 1).
Über gestellte Anträge muss die Behörde sachlich entscheiden, und zwar regelmäßig durch Erlass eines Verwaltungsaktes im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens.
In der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung, der Pflegeversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung werden die Leistungen auf Antrag festgestellt, soweit sich aus den Vorschriften für die einzelnen Versicherungszweige nichts Abweichendes ergibt (§ 19 Satz 1 SGB IV).
Rz. 8
Dabei kann das Antragsrecht so ausgestaltet sein, dass die Behörde auf den Antrag hin ein Verwaltungsverfahren unbedingt durchführen muss (Satz 2 Nr. 1, 2. Alternative). Die Rechtsvorschrift – darunter sind Gesetze, Rechtsverordnungen, Satzungen, satzungsgleiche Vorschriften, normative Verträge und Verwaltungsvereinbarungen, nicht hingegen behördeninterne Verwaltungsvorschriften zu verstehen – kann das Vorliegen eines Antrags aber auch zur unerlässlichen Verfahrensvoraussetzung (vgl. Satz 2 Nr. 2) mit der Folge machen, dass ein ohne Vorliegen eines wirksamen Antrags eingeleitetes Verwaltungsverfahren an einem schwerwiegenden Verfahrensmangel leidet. Ob eine Behörde auf Antrag tätig werden muss (§ 18 Satz 2 Nr. 1, 2. Alternative) oder nur auf Antrag tätig werden darf (§ 18 Nr. 2), ergibt sich durch Auslegung der jeweiligen Rechtsvorschrift. Ein Verbot der Verfahrenseinleitung enthält z. B. § 109 Satz 1 SGB VII. Danach darf der Unfallversicherungsträger Feststellungen nach § 108 Abs. 1 SGB VII gegen einen feststellungsberechtigten Dritten nur treffen, wenn dieser statt des Berechtigten handelt und die Durchführung des Verwaltungsverfahrens ausdrücklich beantragt oder sich in ein Widerspruchs- oder Gerichtsverfahren anstelle des Versicherten einschaltet (BSG, Urteil v. 31.1.2012, B 2 U 12/11 R, SozR 4-2700 § 112 Nr. 1).
Rz. 9
Der Antrag, der nach § 41 Abs. 1 Nr. 1 nachgeholt werden kann, braucht im Sozialrecht nicht förmlich gestellt zu werden. Es genügt, wenn der Antragsteller vor einer zur Entgegennahme von Leistungsanträgen zuständigen Stelle seinen Willen zum Ausdruck bringt, Sozialleistungen zu begehren (vgl. BSG, Urteil v. 15.4.1958, 10 RV 393/56, BSGE 7 S. 118; BSG, Urteil v. 28.10.2009, B 14 AS 56/08 R, SozR 4-4200 § 37 Nr. 1; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil v. 26.5.2010, L 8 LW 6/09). Dabei sind mündliche Erklärungen nicht wörtlich, sondern so auszulegen, wie sie dem wirklichen, eventuell aus Fragen und Antworten zu erkennenden Willen entsprechen (BVerwG, Urteil v. 30.10.2013, 2 C 23/12, BVerwGE 148 S. 217). Eine § 64 VwVfG vergleichbare Vorschrift, wonach der Antrag in einem förmlichen Verwaltungsverfahren schriftlich oder zur Niederschrift bei der Behörde zu stellen ist, kennt das SGB nicht. Insoweit gilt der in § 9 aufgestellte Grundsatz auch für das Antragsverfahren. Mündliche Antragstellung ist möglich; doch empfiehlt sich, um Missverständnisse auszuschließen, regelmäßig die Schriftform (vgl. auch § 60 Abs. 2 SGB I) oder die mündliche Erklärung zur Niederschrift der Behörde. Die bloße Vorsprache bei einer Behörde stellt grundsätzlich noch keinen Antrag dar, ebenso wenig die bloße Ausgabe eines Antragsformulars. Die Erklärungen des Antragstellers sind einseitige, empfangsbedürftige öffentlich-rechtliche Willenserklärungen, auf die, soweit sich aus sozialrechtlichen Bestimmungen nichts anderes ergibt, die Regelungen des BGB entsprechend Anwendung finden. Ob ihre Anfechtung unter den Voraussetzungen der §§ 119 ff. BGB analog zulässig ist, ist umstritten (vgl. bejahend Mutschler, in: KassKomm. SGB X, § 18 Rz. 8; verneinend Vogelsang, in: Hauck/Noftz, SGB X, § 18 Rz. 28, der jedoch Widerruf, Rücknahme und Änderung als gegeben ansieht). Nach § 16 Abs. 1 SGB I sind Anträge auf Sozialleistungen beim zuständigen Sozialleistungsträger zu stellen (vgl. insoweit §§ 18 bis 29 SGB I). Zur Antragstellung bei einem unzuständigen Leistungsträger vgl. § 16 Abs. 2 SGB I. Eine Annahmepflicht für Anträge begründet § 20 Abs. 3 (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 18.9.2008, L 9 B 38/08 AS).
Rz. 10
Die Zurücknahme eines A...