Rz. 21
Die Verpflichtung zur Anhörung folgt aus § 24 (vgl. Komm. dort). Die Pflicht zur Anhörung ergibt sich insbesondere bei Rücknahme- und Entziehungsbescheiden und in Rechte eingreifenden VA (belastende VA, die in Rechte eingreifen, also eine bereits vorhandene Rechtsposition entziehen oder einschränken). Die Anhörung soll grundsätzlich vor dem Erlass des VA stattfinden, um Überraschungsentscheidungen zu vermeiden und dem Betroffenen die Möglichkeit der Stellungnahme (rechtliches Gehör) zu verschaffen. Sie hat sowohl gegenüber dem Adressaten des VA als auch gegenüber betroffenen Beteiligten (§ 12 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2) zu erfolgen. Die Anhörung wird im Regelfall durch die den VA erlassende Ausgangsbehörde veranlasst, sie kann aber auch durch die Widerspruchsbehörde nachgeholt werden. Auch ein Vorbringen im Rahmen des Widerspruchsverfahrens kann daher als ausreichende Anhörung durch die Widerspruchsbehörde im Widerspruchsbescheid berücksichtigt werden (vgl. BSG, Urteil v. 14.7.1994, 7 RAr 104/93). Die bloße Widerspruchseinlegung als solche heilt den Anhörungsmangel jedoch noch nicht (str., wie hier Waschull, in: LPK-SGB X, § 41 Rz. 16; BSG, Urteil v. 13.12.2001, B 13 RJ 67/99 R = BSGE 89 S. 111). Eine Anhörung wird nicht dadurch nachgeholt, dass der Betroffene oder sein Vertreter Akteneinsicht erhält (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 29.11.2005, L 22 KN 25/03). Erforderlich ist vielmehr, dass die Nachholung dieselbe rechtliche Qualität hat wie die nach § 24 Abs. 1 gebotene Handlung. Es kommt mithin darauf an, dass die Behörde dem Bürger hinreichende Gelegenheit gibt, sich zu den maßgeblichen Tatsachen zu äußern. Räumt sie dabei eine zu kurze Frist zur Rückäußerung ein, ist die Anhörung unwirksam und der Mangel nicht geheilt. Auch reicht die bloße Bekanntgabe der behördlichen Entscheidung allein nicht aus, um eine Heilung zu bewirken. Eine wirksame Heilung liegt vielmehr erst dann vor, wenn der Bescheid selbst alle wesentlichen Tatsachen enthält (Sächs. LSG, Urteil v. 27.2.2014, L 3 AS 579/11 unter Berufung auf BSG, Urteil v. 17.7.1994, 7 RAr 104/93). Solange die Anhörung nicht nachgeholt wird, kann sich der Betroffene auf die formelle Rechtswidrigkeit des Bescheides berufen, wird diese aber formell ordnungsgemäß etwa im Widerspruchsverfahren nachgeholt, ist der Bescheid so anzusehen, als ob er von Anfang an mangelfrei gewesen wäre (LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 23.2.2016, L 4 AS 33/16 B ER).
Rz. 22
Für eine nachgeholte Anhörung ist immer erforderlich, dass der Betroffene über die nach Auffassung der Behörde maßgebliche Sach- und Rechtslage für den Bescheid unterrichtet ist und dazu Stellung nehmen kann. Wird die Anhörung im Widerspruchsverfahren nachgeholt, genügt insoweit die Möglichkeit, aufgrund des Bescheides Stellung zu nehmen, wenn dem Betroffenen durch die Verwaltung alle maßgeblichen Tatsachen unterbreitet wurden (so für das Widerspruchsverfahren auch noch BSG, Urteil v. 6.4.2006, B 7a AL 64/05 R m. w. N.) und er sich hierzu sachgerecht äußern konnte. Es bedarf dann keiner weiteren Verfahrenshandlung durch die Behörde (BSG, Urteil v. 14.7.1994, 7 RAr 104/93 = SozR 3-4100 § 117 Nr. 11). Wird die Anhörung aber erst im Gerichtsverfahren nachgeholt, dann muss die Anhörung im Rahmen eines "mehr oder minder förmlichen Verwaltungsverfahren(s)" geschehen, ggf. unter Aussetzung des Gerichtsverfahrens nach § 114 Abs. 2 Satz 2 SGG (BSG, Urteil v. 4.6.2006, B 7a AL 64/05 R; Urteil v. 9.11.2010, B 4 AS 37/09; vgl. zu Anforderungen an ein "mehr oder minder förmliches Verwaltungsverfahren" auch LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 21.6.2012, L 7 AS 4111/11). Dabei muss gewährleistet sein, dass die Verwaltung selbst dem Betroffenen die Möglichkeit gibt, sich zu der bereits vorliegenden Entscheidung zu äußern, um dann zumindest formlos darüber zu befinden, ob sie bei ihrer Entscheidung verbleibt. Dies ist – im Unterschied zum Widerspruchsverfahren, in dem noch ein Widerspruchsbescheid folgt – nicht gewährleistet, wenn lediglich das Gericht den Betroffenen im Rahmen des Klageverfahrens diese Möglichkeit eröffnet (BSG, a. a. O.). Die Formulierung, es müsse ein "mehr oder minder förmliches Verwaltungsverfahren" durchgeführt werden, erscheint kritikwürdig wegen ihrer Unschärfe. Dieses vom BSG geforderte Verhalten der Behörde gewinnt aber dadurch etwas an Konturen, dass zwei Forderungen aufgestellt werden, nämlich zum einen eine eigenständige Tätigkeit der Behörde, die ihrerseits auf den Betroffenen zugehen muss, indem sie ihn ggf. anschreibt, und zum anderen eine nachfolgende behördliche Mitteilung, die erkennen lässt, dass ein etwaiges Vorbringen auch abgewogen und berücksichtigt worden ist (vgl. hierzu auch Sächs. LSG, Urteil v. 4.5.2017, L 3 AL 39/14). Daher ist die Entscheidung des BSG insgesamt zu begrüßen, denn sie wirkt dem Trend entgegen, die Anhörung ihrer Bedeutung vollständig zu berauben und vergessen zu lassen, dass es sich hierbei um ein wichtiges Verfahrensrecht handelt, wobei durch eine hiermit verbundene wü...