Rz. 26
Eine Krankheit i. S. d. Unfallversicherungsrechts liegt vor, wenn sich ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand klinisch manifestiert und zu körperlichen, geistigen oder seelischen Funktionsstörungen führt (BSG, Urteile v. 11.1.1989, 8 RKnU 1/88, und v. 29.11.1973, 8/7 RU 24/71; Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, Kap. 2.2.1, S. 67). Regelwidrig ist ein Gesundheitszustand, der vom "Leitbild des gesunden Menschen" abweicht (BSG, Urteil v. 29.11.1973, 8/7 RU 24/71). Dabei ist unerheblich, ob der Versicherte behandlungsbedürftig oder arbeitsunfähig oder seine Erwerbsfähigkeit gemindert ist. Sind bereits berufliche Schadstoffe in seinen Körper eingedrungen, kann eine Krankheit aber (noch) nicht diagnostiziert werden und liegen (noch) keine Funktionseinbußen vor, so ist der Versicherte (noch) nicht erkrankt (BSG, Urteile v. 10.5.1968, 5 RKnU 13/67, und v. 11.1.1989, 8 RKnU 1/88; aber: BSG, Urteil v. 20.3.1981, 8/8a RU 104/79). Gleichwohl kann er Anspruch auf vorbeugende Maßnahmen oder auf Übergangsleistungen haben, wenn die konkret-individuelle Gefahr besteht, dass eine Berufskrankheit entsteht, sich verschlimmert oder wiederauflebt (vgl. § 3 Abs. 1 Satz 1 BKV und BSG, a. a. O., sowie Urteil v. 22.8.1975, 5 RKnU 5/74).
Rz. 27
Fehlt im Tatbestand der Berufskrankheit eine Leidensbezeichnung, so spielt es keine Rolle, welche Krankheitsbilder dem Verordnungsgeber bekannt waren, als er die Berufskrankheit einführte. Offene Tatbestände sind deshalb flexibler und ermöglichen es bei bestimmten Listenstoffen, neue wissenschaftliche Erkenntnisse und damit die gesamte Bandbreite der Erkrankungen einzubeziehen, ohne an das anpassungsträge Novellierungsverfahren des Verordnungsgebers gebunden zu sein (BSG, Urteil v. 12.4.2005, B 2 U 6/04 R).
Rz. 28
Ansonsten bezeichnet der Verordnungsgeber die Listenerkrankung durch ihre medizinischen Namen, das Krankheitsbild, Krankheitsanzeichen oder Zielorgane. Um die Listenerkrankung zu verstehen und zu interpretieren, kann auf die Merkblätter zurückgegriffen werden, die das Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherheit zu jeder Berufskrankheit herausgibt. Sie sind rechtlich unverbindlich (BSG, Urteile v. 23.9.1997, 2 RU 10/96; v. 22.8.2000, B 2 U 34/99 R; v. 2.5.2001, B 2 U 16/00 R, und v. 12.4.2005, B 2 U 6/04 R). Denn sie wenden sich in erster Linie an Ärzte und sollen ihnen erleichtern, Berufskrankheiten zu erkennen und zu bewerten (BSG, Beschluss v. 11.8.1998, B 2 U 261/97 B; Brandenburg, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VII, 3. Aufl., § 9 Rz. 48). Gleichwohl enthalten sie wertvolle Informationen über die medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse, die zur Aufnahme der Erkrankung in die Berufskrankheitenliste geführt haben (Brandenburg, a. a. O., Rz. 100). Maßgebend ist aber immer der aktuelle Stand der medizinischen Wissenschaft (BSG, Urteil v. 2.5.2001, B 2 U 16/00 R), der ggf. mithilfe eines Sachverständigen ermittelt werden muss.
Rz. 29
Die listenmäßige Erkrankung muss mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bewiesen sein (vgl. BSG, Urteile v. 20.1.1987, 2 RU 27/86, und v. 22.6.1988, 9/9a RVg 3/87; Bereiter-Hahn/Mehrtens, § 9 SGB VII Rz. 3). Verdachtsdiagnosen genügen nicht.