BAG, Urteil v. 29.6.2017, 2 AZR 302/16
Eine Kündigung wegen sexueller Belästigung setzt keine sexuelle Motivation des Handelnden voraus. Es ist ausreichend, wenn hierdurch die Würde des Betroffenen verletzt wurde.
Sachverhalt
Der Kläger war Arbeiter bei der Beklagten, die ein Stahlwerk betreibt. In dem Betrieb gibt es seit dem Jahre 2005 eine Betriebsvereinbarung "Respektvolle Zusammenarbeit", in der auch angemessene Maßnahmen bei Verstößen gegen die Grundsätze der BV geregelt sind, wie z. B. Verwarnung, Umsetzung und Kündigung.
Im Oktober 2014 arbeitete der Kläger mit 2 im Betrieb eingesetzten Leiharbeitnehmern zusammen. 2 Tage später meldete einer dieser Leiharbeitnehmer, dass der Kläger ihm von hinten schmerzhaft in den Genitalbereich gegriffen und anschließend die Bemerkung gemacht habe, er habe dicke Eier. Der Kläger jedoch bestritt ein Fehlverhalten. Er habe den Leiharbeitnehmer lediglich unabsichtlich am Hinterteil berührt. Die Beklagte, die der Ansicht war, es handele sich um ein schweres Fehlverhalten, kündigte das Arbeitsverhältnis fristlos und vorsorglich ordentlich.
Die Entscheidung
Die Kündigungsschutzklage hatte vor dem BAG keinen Erfolg. Allerdings wurde die Sache an das LAG zurückverwiesen, da noch nicht abschließend beurteilt werden konnte, ob die fristlose Kündigung der Beklagten das Arbeitsverhältnis wirksam beendet hatte.
Das BAG entschied, dass aufgrund der bisherigen Feststellungen nicht davon ausgegangen werden könne, dass es für eine fristlose Kündigung an einem wichtigen Grund i. S. v. § 626 Abs. 1 BGB fehle; denn mit dem dargestellten Verhalten hatte der Kläger während der Arbeit erheblich gegen die ihm gegenüber der Beklagten obliegende Rücksichtnahmepflicht auf deren Interessen gem. § 241 Abs. 2 BGB verstoßen.
Darüber hinaus erfüllte das Verhalten des Klägers den Tatbestand der sexuellen Belästigung i. S. v. § 3 Abs. 4 AGG; und auch dieser Verstoß gegen das AGG stelle, so das Gericht, gem. § 7 Abs. 3 AGG eine vertragliche Pflichtverletzung dar, die an sich als wichtiger Grund geeignet sei. Sowohl der zielgerichtete Griff des Klägers in die Genitalien des Mitarbeiters der Fremdfirma als auch die anschließende entwürdigende Bemerkung sexuellen Inhalts stellen eine sexuelle Belästigung i. S. d. § 3 Abs. 4 AGG dar. Dabei komme es nach Auffassung des Gerichts bei der Frage, ob eine Handlung sexuell bestimmt sei, nicht nur allein auf das subjektiv erstrebte Ziel des Handelnden an; auch eine sexuelle Motivation des Handelnden sei nicht erforderlich. Maßgeblich sei, ob das Verhalten die Würde des Betroffenen verletze. Dies war vorliegend der Fall. Es dürfte hier, so das Gericht, auch nicht nach den bisherigen Feststellungen davon ausgegangen werden, die Kündigung sei unverhältnismäßig, da eine Abmahnung als milderes Mittel ausreichend gewesen wäre. Es bedarf hierzu jedoch noch weiterer Feststellungen und einer Interessenabwägung durch das LAG.