LAG Hamm, Urteil vom 30.3.2023, 18 Sa 1048/22
1. Auch die Vorlage irreführender ärztlicher Bescheinigungen kann eine Verletzung der Rücksichtnahmepflicht darstellen, die den Arbeitnehmer trifft. Dies gilt insbesondere für Nachweise im Sinne des § 20a Abs. 2 Satz 1 IfSG (a. F.).
2. Die Vorlage einer aus dem Internet heruntergeladenen formularmäßigen ärztlichen "vorläufigen Impfunfähigkeitsbescheinigung", die ohne ärztliche Untersuchung erstellt wurde und den falschen Eindruck erweckt, auf den individuellen Verhältnissen des Arbeitnehmers zu beruhen, kann eine Kündigung rechtfertigen (im Streitfall verneint, da Abmahnung erforderlich).
Sachverhalt
Die Beklagte betreibt ein Pflegeheim, in welchem die nicht gegen das Coronavirus SARS-Cov-2 geimpfte Klägerin als Pflegeassistentin beschäftigt war. Gemäß § 20a Abs. 2 Satz 1 IfSG war die Klägerin verpflichtet gewesen, einen Impfnachweis, einen Genesenennachweis, ein ärztliches Zeugnis über die Schwangerschaft oder ein ärztliches Zeugnis darüber, dass sie aufgrund einer medizinischen Kontraindikation nicht gegen das Coronavirus SARS-Cov-2 geimpft werden könne, bis zum 15.3.2022 vorzulegen.
Die Klägerin erhielt über eine Webseite u. a. eine Bescheinigung über die vorläufige Impfunfähigkeit sowie ein Anschreiben zur Vorlage beim Arbeitgeber, nachdem sie die dort formularmäßig gestellte Frage verneinte, ob sie ausschließen könne, gegen einen der Bestandteile der Inhalts- oder Hilfsstoffe des ausgewählten Impfstoffes allergisch zu sein. Beide Dokumente waren von Dr. E. unter deren Postadresse in G ausgestellt und konnten von der Klägerin aus dem Internet heruntergeladen und ausgedruckt werden.Das Anschreiben zur Vorlage beim Arbeitgeber hatte folgenden Wortlaut:
„Vorläufige Impfunfähigkeitsbescheinigung gem. § 20 IfSG Ihre Mitarbeiterin F. befindet sich im Prozess der Entscheidungsfindung bezüglich ihrer Impffähigkeit im Impfstoffen gegen COVID-19. Im Rahmen der Selbstfürsorge hat sich F. an mich gewandt, da alle Hersteller von Impfstoffen eine Impfung ausschließen, wenn eine Allergie gegen einen der Wirk- und Hilfsstoffe vorliegt. F. kann für sich eine Allergie gegen Inhaltsstoffe der Impfsera noch nicht ausschließen. Für den Zeitraum bis zu einer Abklärung beim Facharzt für Allergologie (eine Überweisung wurde ausgehändigt) erhält sie von mir eine vorrübergehende Impfunfähigkeitsbescheinigung. Diese ist befristet auf maximal 6 Monate, in dieser Zeit sollte eine Abklärung möglich sein. …
Dr. med. E.”
Die Beklagte kündigte daraufhin das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin fristlos, welche Klage erhob.
Die Entscheidung
Die Klage hatte Erfolg.
Das Gericht begründete dies damit, dass der gem. § 626 Abs. 1 BGB erforderliche wichtige Grund nicht vorlag; zwar könne zugunsten der Beklagten angenommen werden, dass das Verhalten der Klägerin einen Kündigungsgrund "an sich" darstelle, jedoch fiel die notwendige Interessenabwägung zugunsten der Klägerin aus.
Das LAG führte aus, dass ein Kündigungsgrund "an sich" darin liegen könne, dass der Arbeitnehmer unrichtige ärztliche Bescheinigungen vorlegt. Vorliegend könne zugunsten der Beklagten angenommen werden, dass auch die Vorlage irreführender ärztlicher Bescheinigungen eine Verletzung der Rücksichtnahmepflicht darstelle, insbesondere bei Vorlage eines Nachweises nach § 20a Abs. 2 Satz 1 IfSG; denn Betreiber von Einrichtungen im Sinne des § 20a Abs. 1 IfSG seien verständlicherweise daran interessiert, den Betrieb der Einrichtung gesetzeskonform unter weitgehendem Ausschluss von gesundheitlichen Risiken für die betreuten Personen zu führen. Durch die Vorlage irreführender Bescheinigungen werde dieses Ziel jedoch nicht unerheblich erschwert.
Vorliegend könne der Klägerin jedoch nicht der Vorwurf gemacht werden, eine "gefälschte" Bescheinigung vorgelegt zu haben, da das Anschreiben an den Arbeitgeber nicht manipulativ hergestellt oder von der Klägerin inhaltlich verändert worden war und auch der Inhalt des Schreibens keine unrichtigen Angaben über den Gesundheitszustand der Klägerin enthielt.
Allerdings sei nach Auffassung des Gerichts die Bescheinigung inhaltlich irreführend, da sie den Eindruck erweckte, es habe einen persönlichen Kontakt zwischen der Klägerin und der ausstellenden Ärztin bestanden und die ärztliche Stellungnahme beruhe auf den individuellen Besonderheiten der Klägerin, was insbesondere durch die Formulierung "begutachtete Person" verstärkt werde.
Trotzdem war die fristlose Kündigung rechtsunwirksam, weil die notwendige Interessenabwägung zugunsten der Klägerin ausfiel; denn es sei für die Beklagte zumutbar gewesen, das Arbeitsverhältnis weiter fortzusetzen. Und da die Verletzung der Rücksichtnahmepflicht auf steuerbarem Verhalten der Klägerin beruhte, wäre zur Vermeidung künftiger Vertragsstörungen der Ausspruch einer Abmahnung ausreichend gewesen.