Entscheidungsstichwort (Thema)
Kündigung/Krankheit/Prognose/Fehlzeitenprognose/Prognoseänderung/Prognosekorrektur/Fehldiagnose
Leitsatz (amtlich)
1. Gegenstand der „negativen Zukunftsprognose” bei der Kündigung wegen langanhaltender Krankheit ist nicht die künftige objektive Entwicklung des Krankheitsbildes (Krankheitsprognose), sondern die Dauer der zu erwartenden Fehlzeiten (Fehlzeitenprognose). Da letztere von der konkreten Diagnosestellung, dem Behandlungsplan und dem Akt der „Krankschreibung” abhängt, ist auch bei einer Fehlbeurteilung durch den behandelnden Arzt für die Zukunftsprognose nicht darauf abzustellen, ob der erkrankte Arbeitnehmer bei fachgerechter Behandlung alsbald arbeitsfähig geworden wäre. Vielmehr ist entscheidend, ob der behandelnde Arzt eine Fortdauer der Arbeitsunfähigkeit attestiert hätte. Auch die auf einer Fehldiagnose beruhende Arbeitsunfähigkeit kann danach zur sozialen Rechtfertigung der krankheitsbedingten Kündigung genügen.
2. In einem solchen Fall steht dem Arbeitnehmer jedoch ein Anspruch auf Wiedereinstellung zu, wenn im Zuge des Kündigungsschutzprozesses durch Einholung eines Sachverständigengutachtens die auf den Feststellungen des behandelnden Arztes beruhende Fehlzeitenprognose entkräftet wird. Anders als beim Wiedereinstellungsanspruch des Arbeitnehmers bei nachträglicher Prognoseänderung aufgrund einer vor Ablauf der Kündigungsfrist durchgeführten Therapiemaßnahme (vgl. BAG, Urteil vom 17.06.1999 – 2 AZR 639/98 –) bedarf es in solchen Fällen keiner positiven Gesundheitsprognose, vielmehr ist die Erschütterung der Negativprognose ausreichend.
Normenkette
KSchG § 1
Verfahrensgang
ArbG Herne (Urteil vom 15.09.1998; Aktenzeichen 3 Ca 635/97) |
Nachgehend
Tenor
Unter Zurückweisung der Berufung im übrigen wird auf die Berufung des Klägers das Urteil des Arbeitsgerichts Herne vom 15.09.1998 – 3 Ca 635/97 – teilweise abgeändert:
Die Beklagte wird verurteilt, das Vertragsangebot des Klägers, gerichtet auf Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses über den 30.04.1997 hinaus, anzunehmen.
Die Kosten des ersten Rechtszuges trägt der Kläger allein, von den Kosten des zweiten Rechtszuges tragen beide Parteien je die Hälfte.
Der Streitwert für den Berufungsrechtszug wird auf 16.000,– DM festgesetzt.
Tatbestand
Mit seiner Klage wendet sich der am 13.03.1964 geborene, verheiratete und einem Kind zum Unterhalt verpflichtete Kläger, welcher seit dem Jahre 1985 in der Fleischwarenfabrik der Beklagten als Betriebswerker – zuletzt im Bereich der Schweinegrobzerlegung – gegen ein durchschnittliches Bruttomonatsentgelt von 4.000,– DM beschäftigt ist, gegen die Beendigung seines Arbeitsverhältnisses durch ordentliche personenbedingte Kündigung vom 28.01.1997 zum 30.04.1997. Diese Kündigung stützt die Beklagte – wie aus dem Kündigungsschreiben Bl. 9 d.A. ersichtlich – auf den Umstand, daß der Kläger seit dem 14.03.1996 durchgehend arbeitsunfähig erkrankt war und nach Auffassung der Beklagten mit einer Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit auf unabsehbare Dauer nicht gerechnet werden konnte. Inwiefern diese Prognose in Anbetracht der Tatsache, daß der Kläger durchgehend ab dem 05.03.1997 wieder arbeitsfähig ist, berechtigt war, ist unter den Parteien streitig.
Vor Ausspruch der Kündigung hatte die Beklagte den bei ihr gebildeten Betriebsrat mit schriftlicher Kündigungsvoranzeige vom 24.01.1997 (Bl. 20, 21 d.A.) angesprochen und neben der Mitteilung von Fehlzeiten und Entgeltfortzahlungskosten dem Betriebsrat als Kündigungsgrund folgendes mitgeteilt:
„Auf unsere unsere Nachfrage am 24.01.1997, wann er wieder arbeitsfähig sein würde, hat uns Herr Y keine Antwort gegeben. Er sagte nur, er hätte Schmerzen und müsse zum Doktor. Wir müssen nun davon ausgehen, daß Herr Y auch in Zukunft auf unabsehbare Zeit arbeitsunfähig krank sein wird. Aus diesem Grund wollen wir das Arbeitsverhältnis mit ihm kündigen.”
Der Betriebsrat widersprach unter dem 28.01.1997 der beabsichtigten Kündigung und bat, das Ende der Erkrankung abzuwarten. Hierauf sprach die Beklagte die angegriffene Kündigung aus.
Der Kläger hat im ersten Rechtszuge die ordnungsgemäße Betriebsratsanhörung und die von der Beklagten behauptete negative Gesundheitsprognose bestritten. Schon der Umstand, daß er alsbald nach Ausspruch der Kündigung im Anschluß an eine (erneute) Untersuchung des Medizinischen Dienstes der Krankenkasse mit Wirkung ab dem 05.03.1997 nicht mehr arbeitsunfähig krank geschrieben worden sei, sondern die Arbeit ab diesem Tage wieder aufgenommen habe, stehe der Einschätzung entgegen, im Kündigungszeitpunkt sei eine Genesung „vollständig ungewiß” gewesen. Als weiteres Indiz gegen die behauptete negative Zukunftsprognose sei auch der weitere Geschehensablauf während des Kündigungsschutzverfahrens zu berücksichtigen. Unstreitig hat der Kläger, nachdem er zunächst vom 05.03.1997 bis zum Ablauf der Kündigungsfrist (30.04.1997) vertragsge...