Entscheidungsstichwort (Thema)
Auslegung von Betriebsvereinbarungen. Verrechnung von Arbeitszeitkonten und das Betriebsrisiko. Keine Verschiebung des Betriebsrisikos auf den Arbeitnehmer durch Zugriff auf das Arbeitszeitkonto
Leitsatz (amtlich)
Ermächtigt eine Betriebsvereinbarung den Arbeitgeber einseitig dazu, ein bereits erarbeitetes Guthaben auf einem Arbeitszeitkonto zu verwenden, um dem Arbeitnehmer künftig weniger Schichten zuteilen zu müssen, verschiebt diese Regelung in unrechtmäßiger Art und Weise das Betriebsrisiko auf den Arbeitnehmer, wenn der Arbeitnehmer nicht frei darüber entscheiden kann, ob und wieviele Schichten ihm zugeteilt werden.
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Auslegung von Betriebsvereinbarungen richtet sich nach den Grundsätzen der Gesetzesauslegung. Dabei kommt es zunächst auf den objektiven Erklärungswert an, der nach dem Wortlaut sowie der Systematik und dem Gesamtzusammenhang der einzelnen Bestimmungen zu ermitteln ist. Ergänzend sind der wirkliche Wille der Betriebsparteien und der von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Regelung zu beachten.
2. Mit dem Betriebsrisiko werden Leistungsstörungen umschrieben, bei denen die Arbeitsleistung des arbeitsfähigen und arbeitswilligen Arbeitnehmers aus im Betrieb liegenden Gründen unterbleibt, das Vergütungsrisiko aber beim Arbeitgeber verbleibt. Denn dieser trägt die Verantwortung und damit die Folgen, die sich daraus ergeben, dass die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers und die Entgegennahme der Arbeitsleistung durch ihn aus Gründen unmöglich werden, die im betrieblichen Bereich liegen.
Normenkette
BetrVG § 77 Abs. 3; BGB § 615 S. 3, § 619; TV Feuerwehr- und Sanitätspersonal § 2 Fassung: 2012-05-01, § 4 Fassung: 2012-05-01
Verfahrensgang
ArbG Köln (Entscheidung vom 03.02.2022; Aktenzeichen 14 Ca 5006/21) |
Tenor
- Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Köln vom 03.02.2022 - 14 Ca 5006/21 - aufgehoben.
- Es wird festgestellt, dass das bei der Beklagten geführte Stundenkonto des Klägers, Stand 01.01.2023, ein Zeitguthaben von insgesamt 1.234,07 Stunden aufweist und eine Verrechnung von Zeitguthaben des Stundenkontos mit Zeiten des Zeitkontos/Sollkontos ohne die Zustimmung des Klägers ausgeschlossen ist.
- Im Übrigen wird die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen.
- Die Kosten der ersten Instanz trägt die Beklagte. Die Kosten des Berufungsverfahrens tragen der Kläger zu 16 % und die Beklagte zu 84 %.
- Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte berechtigt ist, die für den Kläger geführten Zeitkonten ohne dessen Zustimmung miteinander zu verrechnen.
Der Kläger ist bei der Beklagten seit dem 01.04.2015 in der Wachabteilung III als Leitstellendisponent bei der Flughafenfeuerwehr tätig.
Auf das Arbeitsverhältnis findet aufgrund arbeitsvertraglicher Bezugnahme ua. der "Tarifvertrag für das Feuerwehr- und Sanitätspersonal der Flughafen XXX GmbH vom 01.03.2012" (nachfolgend: "Tarifvertrag Feuerwehrpersonal") Anwendung.
§ 2 des Tarifvertrags Feuerwehrpersonal ("Arbeitszeit mit Opt-Out") lautet auszugsweise wie folgt:
"1) Die dienstliche Beanspruchung beträgt 240 Stunden im Monatsdurchschnitt. Der Alarm- und Einsatzdienst wird im 24-Stunden-Dienst geleistet. [...]
2) Nach einer Dienstschicht von 24 Stunden ist jeweils eine ununterbrochene Freizeit von 24 Stunden zu gewähren. Die planmäßige 24-Stunden-Schicht wird auf 8 Stunden Arbeit, 8 Stunden Arbeitsbereitschaft und 8 Stunden Ruhezeit an der Arbeitsstelle aufgeteilt. [...]
Protokollerklärunq zu Absatz 1 und 2: Die oberhalb der Arbeitszeit nach Absatz 1 liegenden Mehrschichten sind mit der Überstundenvergütung abzugelten. Die Überstundenvergütung beinhaltet das Tabellenentgelt und die Zulage nach § 8 Abs. 1 dieses Tarifvertrages. Eine Schicht entspricht 16 zu vergütenden Stunden."
§ 4 des Tarifvertrags Feuerwehrpersonal regelt unter der Überschrift "Zeitgutschrift für Leitstellendisponenten":
"Den Leitstellendisponenten wird pro geleisteter Nachtschicht (derzeit 21:00 Uhr bis 06:30 Uhr) eine Stunde auf dem Arbeitszeitkonto gutgeschrieben. Der entsprechende Betrag kann außerdem auf Verlangen der Beschäftigten ausgezahlt, oder aber in ein Lebensarbeitszeitkonto eingebracht werden."
Im Betrieb der Beklagten gilt des Weiteren eine "Betriebsvereinbarung 01/2013 über die Arbeitszeitgestaltung für das Feuerwehr- und Sanitätspersonal der Flughafen XXX GmbH" (nachfolgend: "BV Arbeitszeit"). Diese regelt auszugsweise:
"§ 4 Berechnung der Jahresarbeitszeit
Die Jahresarbeitszeit richtet sich nach dem jeweils gültigen Tarifvertrag (derzeit 120 Schichten abzgl. Wochenfeiertage, Vorfesttage, Rosenmontag und W-Tage). Jede geleistete Schicht schmälert das Jahressoll, das in einem Zeitkonto abgebildet wird.
[...]
Bei Ausscheiden eines Beschäftigten sind die Zeitkonten auszugleichen. Verbliebene Salden werden ausgezahlt, negative Salden werden vom Entgelt einbehalten.
Die Salden der Zeitkonten werden zum 31.12. automatisch ins Folgejahr übertragen [...]. [...]
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