Entscheidungsstichwort (Thema)
außerordentliche Kündigung. Betriebsratsanhörung. verfälschende Sachverhaltsdarstellung. Altenpflege
Leitsatz (amtlich)
Eine einseitig verfälschende Darstellung des Kündigungssachverhalts führt gemäß § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG zur Unwirksamkeit der Kündigung.
Das ist der Fall, wenn einer Altenpflegerin vorgeworfen wird, sie habe einem an hochgradiger Diabetes leidenden Patienten entgegen entsprechender genereller ärztlicher Anweisung nicht in hinreichendem Umfang Insulin verabreicht und dabei in der Anhörung des Betriebsrats u. a. mehrfach ausgeführt wird, dass es sich um einen arabischen Patienten gehandelt habe und die Klägerin vor einigen Monaten mitgeteilt habe, dass sie beabsichtige zum Judentum überzutreten, gleichzeitig aber für einen derartigen kausalen Zusammenhang jeglicher konkreter Sachvortrag der Arbeitgeberin fehlt.
Normenkette
BGB § 626; KSchG § 1; BetrVG § 102
Verfahrensgang
ArbG Bonn (Urteil vom 04.09.2008; Aktenzeichen 3 Ca 331/08) |
Tenor
1. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Bonn vom 04.09.2008 – 3 Ca 331/08 – wird zurückgewiesen.
2. Der Beklagte hat die Kosten der Berufung zu tragen.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin ist seit dem 01.10.2002 als Altenpflegerin bei dem Beklagten beschäftigt. Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung des Beklagten vom 01.02.2008. Diese Kündigung stützt der Beklagte ausweislich der im Kündigungsschreiben angegebenen Begründung darauf, dass die Klägerin einen Patienten wissentlich vorsätzlich unter Inkaufnahme irreparabler Schäden und der Möglichkeit des Versterbens geschädigt habe, indem sie von einer ärztlichen Anweisung zur Insulingabe eigenmächtig abgewichen sei. In der schriftlichen Anhörung des Betriebsrats vom 29.01.2008 hat der Verwaltungsdirektor des Beklagten zur Begründung der Kündigung u. a. Folgendes ausgeführt:
„In der Vergangenheit sind die Leistungen von Frau … zunehmend kritischer gesehen worden. So sah sich die Pflegedienstleitung nicht in der Lage, dem Wunsch von Frau … mit Schreiben vom 15.11.2005 eine Erhöhung der Stundenzahl von einer 50%-Stelle auf eine 75 % Stelle zu entsprechen.
Am 28.01.2007 wurde ein abmahnungsgleiches Gespräch zwischen der Pflegedienstleitung und Frau … geführt, weil durch Nichterreichbarkeit von Frau … eine sehr kritische Situation in der Versorgung der Patienten entstanden ist. (Kopie sh. Anlage).
Mit Schreiben vom 21.11.2007 teilte Frau … auf einem handschriftlichen Zettel mit, dass sie die Dienstplanung an mehreren Tagen nicht einhalten kann und im Übrigen freitags, samstags und montags ab 18.30 Uhr überhaupt nicht zur Verfügung stände.
Diese Arbeitsverweigerungen hat die Geschäftsleitung mit Schreiben vom 22.11.2007 zum Anlass genommen, Frau … um eine Stellungnahme zu bitten und im Fall des Verbleibs bei den schriftlich mitgeteilten Arbeitsverweigerungen die außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses angedroht (Zuschrift vom 22.11.2007 sh. Anlage).
Mit Schreiben vom 08.12.2007 ist der Stellungnahme von Frau … zu entnehmen, dass sie beabsichtigt, zum Judentum überzutreten und aus diesem Grunde an bestimmten Zeiten nicht und darüber hinaus nur eingeschränkt tätig sein kann.
Mit Schreiben vom 10.12.2007 antwortet die Geschäftsleitung auf die Anwürfe, die völlig unberechtigt sind.
Beide Schreiben werden als Anlage beigefügt.
Am 28.01.2008 wird die Geschäftsleitung damit konfrontiert, dass Frau … bei einem arabischen Patienten sich geweigert hat, trotz ärztlicher Anordnung, diesem an hochgradiger Diabetes leidenden Patienten Insulin zu verabreichen.
Entsprechend der labormäßigen und klinischen Kontrolluntersuchungen ist gleiches am 20.01.2008 erfolgt.
Dies hat den arabischen Patienten in Lebensgefahr gebracht.
Im Einzelnen wird mir mitgeteilt, dass der betreffende Patient infolge der fehlenden Insulingabe, als Ergebnis einer strikten Weigerung ärztlichen Anordnungen zu folgen (Anordnung des Assistenzarztes und Internisten, D. S.), somnolent und extrem schwitzend im Bett vorgefunden wurde.
Er schied in 2 Stunden 3 Liter Urin aus und bekam gegen 03:00 Uhr erheblichen Durchfall. Er hatte keine Kraft mehr, den Schleim aus der Trachealkanüle abzuhusten. Bei jeder Lagerung und bei der leichtesten Berührung bekam er Muskelspasmen, der Blutdruck sank dramatisch auf 80/40 mm/Hg, der Puls war erheblich abgesunken, gleichfalls bestand Untertemperatur. Auch die O-Sättigung war deutlich unterdurchschnittlich. Der herbeigerufene Dienstarzt leitete erste Maßnahmen ein, um das Leben des Patienten zu retten. Als Zeuge für diesen Vorgang stehen Herr L. G., Frau O. B. und Frau V. B. zur Verfügung.
Bei rechtlicher Bewertung komme ich zu dem Ergebnis, dass hier keine grobe Fahrlässigkeit, sondern sogar Vorsatz vorliegt. …”
Wegen des erstinstanzlichen streitigen und unstreitigen Vorbringens sowie der erstinstanzlich gestellten Anträge wird gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG auf den Tatbestand des angefochtenen Urt...