1.1.1 Kollektiver Tatbestand
Grundsätzlich unterliegen nur kollektive Regelungen dem Mitbestimmungsrecht des § 87 Abs. 1 BetrVG. Der Betriebsrat soll bei § 87 BetrVG nur dann in Einzelfällen mitbestimmen können, wenn dies ausdrücklich so vorgesehen ist (siehe Nr. 5 – Urlaub für einen einzelnen Arbeitnehmer – und Nr. 9 – Vergabe einer Werkswohnung).
Deshalb muss bei jeder Angelegenheit zunächst entschieden werden, ob ein kollektiver Tatbestand oder eine individuelle Maßnahme betroffen ist. Kollektive Regelungen beziehen sich auf einen ganzen Betrieb, eine bestimmte Abteilung oder eine relevante Gruppe von Arbeitnehmern, z. B. die Reparaturhandwerker, sind also unabhängig von Personen. Geht es allerdings um Maßnahmen, die nur eine Person betreffen, die sich auf dessen besondere Situation und dessen Wünsche beziehen, so handelt es sich um einen individuellen Tatbestand.
Keine Rolle spielt dabei, ob es um eine auf Dauer vorgesehene oder eine einmalige Maßnahme geht.
1.1.2 Vorrang von Gesetz und Tarifvertrag
Soweit eine gesetzliche oder tarifvertragliche Regelung bestimmte Arbeitsbedingungen abschließend regelt, geht diese Norm als höherrangige Rechtsquelle vor und steht einem Mitbestimmungsrecht entgegen (vgl. § 87 Abs. 1 Eingangssatz). Auch Gesetze, die nur den Parteien eines Tarifvertrags Abweichungen gestatten (tarifdispositives Recht), sind geeignet, das Mitbestimmungsrecht gem. § 87 Abs. 1 BetrVG auszuschließen.
Gesetzliche Regelungen, die ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats ausschließen, sind Gesetze im materiellen Sinne. Dazu gehören Rechtsverordnungen oder Unfallverhütungsvorschriften sowie gesetzesvertretendes Richterrecht.
Nach einer Befragung der Mitarbeiter möchte der Betriebsrat erreichen, dass Zwölf-Stunden-Schichten eingeführt werden. Eine entsprechende Betriebsvereinbarung wäre unwirksam, da die Höchstgrenze des § 3 Arbeitszeitgesetz von 10 Stunden täglich überschritten ist.
Weitere Anwendungsfälle:
- Zugangskontrollen zu Atomkraftwerken
- Sicherheitsüberprüfungen
- Auflagen der öffentlichen Hand als Zuwendungsgeber für private Forschungseinrichtungen bezüglich der Vergütung der Arbeitnehmer
Auch tarifvertraglichen Regelungen, die abschließend sind, kommt eine Sperrwirkung zu. Anders ist die Rechtslage, wenn Tarifverträge den Partnern einer Betriebsvereinbarung i. R. d. Tarifautonomie Regelungskompetenz, also nicht etwa zusätzliche Mitbestimmungsrechte, übertragen. Dann ist der Tarifvertrag nicht abschließend, und die Mitbestimmung aus § 87 BetrVG ist gegeben.
Das Vergütungssystem des TVöD stellt eine abschließende Regelung dar.
Soweit jedoch über den tariflichen Anspruch hinaus über- oder außertarifliche Zulagen an eine Mehrheit von Beschäftigten gezahlt werden sollen, ist dies nur unter Mitbestimmung des Betriebsrats möglich.
Der Tarifvorbehalt des § 87 Abs. 1 BetrVG setzt die Tarifbindung des Arbeitgebers, aber nicht die des Arbeitnehmers voraus (§ 3 Abs. 2 TVG).
In mitbestimmungspflichtigen Angelegenheiten des § 87 Abs. 1 BetrVG gilt bei Tarifbindung des Arbeitgebers der Tarifvorrang des § 77 Abs. 3 BetrVG bei bloßer Tarifüblichkeit bzw. Nachwirkung eines Tarifvertrags nicht (näher unten 1.2.9.1).
Für § 77 Abs. 3 BetrVG würde die Üblichkeit tarifvertraglicher Regelungen ausreichen. Nach § 87 Abs. 1 BetrVG hingegen muss eine gültige und für die Firma/Einrichtung anwendbare (nicht nur nachwirkende, § 4 Abs. 5 TVG) Tarifbestimmung vorhanden sein, um eine Betriebsvereinbarung als unzulässig erscheinen zu lassen.
Tarifverträge schließen die Mitbestimmungsrechte aber nur "soweit" aus, wie ihr jeweiliger Inhalt reicht. Es muss daher jeweils geklärt werden, ob eine Ergänzung (i. d. R. durch Betriebsvereinbarung) noch in Betracht kommt. Enthält der Tarifvertrag eine abschließende Regelung, besteht kein Mitbestimmungsrecht in der bereits durch höherrangiges Recht geregelten Frage.
Verlangt der Betriebsrat bei den Verhandlungen um ein flexibles Arbeitszeitmodell eine besondere "Flexibilitätszulage", so ist dies kaum zulässig, da das System der Zulagen und Zuschläge des TVöD abschließend ist.
1.1.3 Gleichberechtigte Mitbestimmung
§ 87 BetrVG gewährt dem Betriebsrat gleichberechtigte Teilhabe. Der Arbeitgeber kann nur mit Zustimmung des Betriebsrats wirksam handeln und entscheiden. Er ist auf die Zustimmung des Betriebsrats angewiesen. Er kann auch nicht wirksam durch Individualregelungen das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats unterlaufen.
Ohne Zustimmung des Betriebsrats darf die Maßnahme nicht durchgeführt, z. B. die Software nicht eingeführt werden (§ 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG).
Einseitige Maßnahmen des Arbeitgebers unter Verletzung des Mitbestimmungsrechts des Betriebsrats sind, soweit sie die Rechtsstellung des Arbeitnehmers verschlechtern, unwirksam (Theorie der Wirksamkeitsvoraussetzung).