BAG, Urteil v. 27.8.2020, 8 AZR 45/19
Leitsatz (amtlich)
1. Nach § 82 Satz 2 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung (a. F.) hat der öffentliche Arbeitgeber schwerbehinderte Bewerber/innen zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen. Eine Einladung ist nach § 82 Satz 3 SGB IX a. F. entbehrlich, wenn die fachliche Eignung offensichtlich fehlt.
2. Schwerbehinderte Bewerber sollen durch das in § 82 Satz 2 SGB IX a. F. genannte Vorstellungsgespräch die Möglichkeit erhalten, ihre Chancen im Auswahlverfahren zu verbessern. Sie sollen die Chance haben, den Arbeitgeber von ihrer fachlichen und persönlichen Eignung zu überzeugen.
3. Der Begriff "Vorstellungsgespräch" in § 82 Satz 2 SGB IX a. F. ist dahin auszulegen, dass er – auch bei mehrstufigen Auswahlprozessen – grundsätzlich alle Instrumente des Verfahrens der Personalauswahl unabhängig von ihrer Bezeichnung, der angewandten Methode und der konkreten Durchführungsform erfasst, die nach der eigenen Konzeption des Arbeitgebers erforderlich sind, um sich ein umfassendes Bild von der fachlichen und persönlichen Eignung des Bewerbers zu machen.
Sachverhalt
Der Kläger des Falles ist schwerbehindert. Er hatte sich im November 2016 bei einem Landesbetrieb auf eine Führungsposition als Fachbereichsleitung beworben. Das Auswahlverfahren bei der Besetzung der Führungsposition wurde, wie dort üblich, in einem mehrstufigen Auswahlverfahren durchgeführt. Es wird hierbei zunächst ein ca. einstündiges Auswahlgespräch geführt und im Anschluss daran werden die Bewerber, die im Rahmen des Gesprächs am meisten überzeugt hatten, zu einer ca. fünfstündigen Potenzialanalyse eingeladen. Im vorliegenden Auswahlverfahren wurde der Kläger zwar auch zum Auswahlgespräch geladen, eine Einladung zur Potenzialanalyse erfolgte jedoch nicht, sondern er erhielt eine Absage. Daraufhin verlangte der Kläger erfolglos Akteneinsicht sowie die Mitteilung der Ablehnungsgründe. Zur Erledigung des darauf folgenden einstweiligen Verfügungsverfahrens schlossen die Parteien einen gerichtlichen Vergleich, in dem sich das beklagte Land u. a. verpflichtete, dem Kläger unverzüglich Akteneinsicht zu gewähren und diesen zur Teilnahme an der Potenzialanalyse einzuladen.
Nach Durchführung der Potenzialanalyse erhielt der Kläger jedoch erneut eine Absage. Daraufhin erhob er Klage. Er macht hierbei Entschädigungsansprüche gem. § 15 Abs. 2 AGG geltend, da das beklagte Land ihn aufgrund seiner Behinderung benachteiligt habe, da es ihn nicht nach § 82 Satz 2 SGB IX a. F. zur Potenzialanalyse und damit nicht zu allen Teilen des Vorstellungsgesprächs eingeladen habe. Er vertrat hierbei die Auffassung, dass wenn sich der öffentliche Arbeitgeber für ein mehrstufiges Auswahlverfahren entscheide, er den schwerbehinderten Bewerber nach Sinn und Zweck der Vorschrift zu jeder Stufe einladen müsse; denn nur so könnten eventuelle behinderungsbedingte Nachteile ausgeglichen und Vorbehalte ausgeräumt werden. Die vorliegend nachträgliche Einladung zur Potenzialanalyse beseitige die Vermutungswirkung des Verstoßes gegen § 82 Satz 2 SGB IX a. F. nicht.
Dagegen brachte das beklagte Land u. a. vor, dass keine Benachteiligung des Klägers vorlag, da dieser bereits im Auswahlgespräch nicht überzeugt habe und deshalb nicht zur Potenzialanalyse eingeladen worden sei.
Die Entscheidung
Während die Klage in den Vorinstanzen abgewiesen wurde, hatte sie vor dem BAG Erfolg. Das Gericht urteilte, dass dem Kläger eine Entschädigung i. H. v. 7.674,00 EUR aufgrund der Benachteiligung wegen seiner Behinderung zusteht.
Es begründete dies damit, dass das beklagte Land den fachlich nicht offensichtlich ungeeigneten Kläger zu allen Teilen des Auswahlprozesses hätte einladen müssen, d. h. nicht nur zum Auswahlgespräch, sondern auch zu der anschließenden Potenzialanalyse.
Zum Begriff des "Vorstellungsgesprächs" i. S. v. § 82 Satz 2 SGB IX a. F. (= § 165 SBG IX n. F.) führte das BAG aus, dass dieses nicht eng im Sinne eines Gesprächs, in dem sich der Bewerber einmalig vorstellt, sondern weit auszulegen sei, somit auch bei mehrstufigen Auswahlprozessen grundsätzlich alle Instrumente der Personalauswahl umfasse. Dies gelte unabhängig von der jeweiligen Bezeichnung, der angewandten Methode und der konkreten Durchführungsform, die nach der Konzeption des Arbeitgebers erforderlich seien, um sich einen umfassenden Eindruck von der fachlichen und persönlichen Eignung der Bewerber zu verschaffen. Dies folge aus einer am Sinn und Zweck orientierten Auslegung des Begriffs "Vorstellungsgespräch"; denn durch dieses sollen schwerbehinderte Bewerber/innen ihre Chancen im Auswahlverfahren verbessern können, insbesondere sollen sie die Möglichkeit haben, den Arbeitgeber von ihrer Eignung zu überzeugen. Hierbei sei, so das BAG weiter, der Begriff der "Eignung" als umfassendes Qualifikationsmerkmal zu verstehen, das die ganze Persönlichkeit des Bewerbers über rein fachliche Gesichtspunkte hinaus erfasse. Hierzu gehörten u. a. die "charakterliche" oder die gesundheitliche Eignung sow...