Rz. 4
Bei der Abgrenzung der Sittenwidrigkeit zur Sozialwidrigkeit nach § 1 KSchG gilt im Grundsatz, dass nicht jede Kündigung, die im Fall der Anwendbarkeit des KSchG i. S. d. § 1 KSchG als sozial ungerechtfertigt beurteilt werden müsste, deshalb schon sittenwidrig ist. Das trifft selbst für eine willkürliche, d. h. für eine ohne erkennbaren sinnvollen Grund ausgesprochene Kündigung zu. Auch eine Kündigung, die "offensichtlich willkürlich oder aus nichtigen Gründen unter Missbrauch der Machtstellung des Arbeitgebers" ausgesprochen wird, ist nur sozialwidrig i. S. d. § 1 KSchG, nicht aber sittenwidrig. Denn eine Kündigung ist – auch bei Zugrundelegung eines objektiven Beurteilungsmaßstabs – dann nicht sittenwidrig, wenn sie ohne Rücksicht auf die Nachweisbarkeit auf einen nicht nur vorgeschobenen Grund gestützt wird, der an sich geeignet ist, eine ordentliche oder außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen. Eine Kündigung ist erst recht dann nicht sittenwidrig, wenn der Sachverhalt sie in einem Kündigungsschutzprozess mit großer Wahrscheinlichkeit als sozial gerechtfertigt erscheinen ließe.
Rz. 5
§ 612a BGB regelt einen Sonderfall der Sittenwidrigkeit und nimmt nach Ansicht des BAG die Fälle auf, die vor seiner Einführung unter dem Gesichtspunkt der Sittenwidrigkeit (§ 138 BGB) oder von Treu und Glauben (§ 242 BGB) geprüft wurden. Damit ist jede gegen das Maßregelungsverbot des § 612a BGB verstoßende Kündigung – worauf es praktisch freilich nicht mehr ankommt – auch sittenwidrig; andererseits kann aber eine Kündigung auch dann sittenwidrig sein, wenn sie nicht gegen die besonderen Voraussetzungen des § 612a BGB verstößt. Das BAG hat klargestellt, dass § 612a BGB nur für Arbeitsverhältnisse gilt. Das Maßregelungsverbot ist demgegenüber z. B. nicht auf die Beendigungserklärung des Auftraggebers gegenüber einer arbeitnehmerähnlichen Person anwendbar; eine maßregelnde Beendigung des Rechtsverhältnisses einer arbeitnehmerähnlichen Person ist allein an § 138 BGB zu messen. Dass eine Kündigung nicht nach § 138 BGB als sittenwidrig zu qualifizieren ist, schließt ebenfalls nicht aus, dass sie wegen Verstoßes gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB) unwirksam ist.
Im Verhältnis zu einer Benachteiligung i. S. d. AGG wurde in der obergerichtlichen Rechtsprechung vertreten, dass eine unzulässige Benachteiligung aufgrund einer Behinderung des Arbeitnehmers nicht zur Unwirksamkeit einer Kündigung nach § 134 BGB i. V. m. § 7 AGG bzw. §§ 138, 242 BGB führe, sondern lediglich einen Entschädigungsanspruch nach § 15 Abs. 2 AGG begründen könne. Dies ist durch die Rechtsprechung des BAG überholt: Eine ordentliche Kündigung, die einen Arbeitnehmer, auf den der allgemeine Kündigungsschutz keine Anwendung findet, aus einem der in § 1 AGG genannten Gründe diskriminiert, ist nach § 134 BGB i. V. m. § 7 Abs. 1, §§ 1, 3 AGG unwirksam; dem steht § 2 Abs. 4 AGG nicht entgegen, wobei es keinen Unterschied macht, ob es sich um eine Kündigung während der Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG oder einen Kleinbetrieb handelt.