Cesare Vannucchi, Dr. Marcel Holthusen
1.5.1 Relative und absolute Sozialwidrigkeit
Rz. 265
Die ordentliche Kündigung des Arbeitgebers ist nach § 1 Abs. 1 KSchG rechtsunwirksam, wenn sie sozial ungerechtfertigt ist. Sie ist nach § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG sozialwidrig, wenn sie nicht durch Gründe, die in der Person oder in dem Verhalten des Arbeitnehmers liegen, oder durch dringende betriebliche Erfordernisse bedingt ist. Die Gründe müssen eine konkrete Störung des Arbeitsverhältnisses bewirken und so schwer wiegen, dass es dem Arbeitgeber nicht zuzumuten ist, das Arbeitsverhältnis über den Ablauf der Kündigungsfrist hinaus fortzusetzen.
Rz. 266
Die betriebsbedingte Kündigung ist auch dann sozial ungerechtfertigt, wenn zwar die Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG erfüllt sind, aber der Arbeitgeber bei der Sozialauswahl des Arbeitnehmers die in § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG genannten Kriterien nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt hat.
Rz. 267
Nach § 1 Abs. 2 Satz 2 KSchG ist die Kündigung sozialwidrig, wenn sie gegen eine Auswahlrichtlinie verstößt, die der Arbeitgeber mit dem Betriebsrat oder dem Personalrat geschlossen hatte, eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit besteht und die Arbeitnehmervertretung deshalb ordnungsgemäß Widerspruch bzw. Einwendungen gegen die Kündigung erhoben hat.
Rz. 268
Während bei der Prüfung nach § 1 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 KSchG stets eine Interessenabwägung vorzunehmen ist, bei der die Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind, entfällt dies bei § 1 Abs. 2 Satz 2 KSchG. Im ersten Fall spricht man von relativer, im 2. Fall von absoluter Sozialwidrigkeit.
Rz. 269
Der Begriff der Sozialwidrigkeit wird konkretisiert durch die Diskriminierungsverbote des AGG – einschließlich der ebenfalls im AGG vorgesehenen Rechtfertigungen für unterschiedliche Behandlungen. Diese Bestimmungen sind daher bei der Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe des Kündigungsschutzgesetzes zu beachten.
1.5.2 Einteilung/Numerus clausus der Kündigungsgründe
Rz. 270
Nach § 1 Abs. 2 Satz 1 ist die Kündigung sozialwidrig, wenn sie nicht durch personen-, verhaltens- oder betriebsbedingte Gründe gerechtfertigt ist. Die Ursache der Störung muss also im Arbeitsverhältnis selbst liegen. Umstände, die nur die Privatsphäre des Arbeitgebers beeinträchtigen, scheiden als Kündigungsgründe aus, ebenso allgemeine wirtschaftliche oder politische Gründe. Die Störung muss zu einer Beeinträchtigung der unternehmerischen Interessen führen, etwa durch
- eine Verletzung der Hauptleistungspflicht durch Schlechtleistung oder Nichtleistung (z. B. beim Zuspätkommen),
- eine Störung des Betriebsablaufs,
- eine Vertrauensverletzung,
- wirtschaftliche Beeinträchtigungen.
Infographic
Rz. 271
Dass die Kündigung ohne hinreichenden Anlass "sozialwidrig" ist, macht deutlich, dass der Arbeitgeber akzeptieren muss, was gemeinhin noch als sozial adäquat angesehen wird.
Beispiel
Führt der Arbeitnehmer zu Beginn seiner Arbeitszeit mit seinen Kollegen kurze Begrüßungsgespräche, bei denen über private Themen gesprochen wird, geht dadurch zwar Arbeitszeit verloren. Aber diese geringfügige Störung des Arbeitsverhältnisses wird sozial akzeptiert, sodass sie nicht für eine Kündigung ausreicht.
Rz. 272
Die Kündigungsgründe sind streng voneinander zu unterscheiden, da die verhaltensbedingte Kündigung grds. erst nach einer Abmahnung, die betriebsbedingte Kündigung erst nach einer Sozialauswahl erfolgen darf.
1.5.3 Doppeltatbestände und Mischtatbestände
Rz. 273
Von einem Doppeltatbestand spricht man, wenn der Arbeitgeber 2 (oder mehr) Sachverhalte schildert, die verschiedene Kündigungsgründe ausfüllen.
Beispiel
Der Arbeitgeber kündigt, weil der Arbeitnehmer häufig zu spät zur Arbeit gekommen ist (verhaltensbedingte Kündigung) und weil er hohe krankheitsbedingte Fehlzeiten hat (personenbedingte Kündigung).
Rz. 274
Hier ist für jeden Sachverhalt zu prüfen, ob er geeignet ist, die Kündigung zu rechtfertigen.
Einige Stimmen in der Literatur halten die Kündigung nur dann für gerechtfertigt, wenn zumindest ein Ereignis für sich allein die Kündigung rechtfertigt.
Nach Ansicht des BAG "ist im Wege einer einheitlichen Betrachtungsweise zu prüfen, ob die einzelnen Kündigungsgründe in ihrer Gesamtheit Umstände darstellen, die bei verständiger Würdigung in Abwägung der Interessen der Vertragsparteien und des Betriebs die Kündigung als billigenswert und angemessen erscheinen lassen".
Dem stimmen einige Autoren zu, sofern nur solche Ereignisse addiert werden, die in der Sphäre des Arbeitnehmers liegen. Demnach können verhaltens- und personenbedingte Kündigungsgründe in der Gesamtschau addiert werden, nicht jedoch betriebsbedingte Kündigungsgründe. Zu achten sei ferner darauf, dass die einzelnen Kündigungsgründe nicht an qualitativen Mängeln leiden dürfen (z. B. fehlende Abmahnung), sondern lediglich – für sich betrachtet – keine hinreichende Störung des Arbeitsverhältnisses bewirken.
Rz. 275
Von einem Mischtatbestand spric...