Cesare Vannucchi, Dr. Marcel Holthusen
Rz. 280
Ob das Tatbestandsmerkmal der Negativprognose im Einzelfall erfüllt ist oder nicht, ist entscheidend davon abhängig, welche Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Störungen des Arbeitsverhältnisses gestellt werden. Trotz der herausragenden Bedeutung dieser Frage für die Anwendung des Prognoseprinzips im Kündigungsrecht wird diese Frage verhältnismäßig selten diskutiert.
Während die Literatur verbreitet davon ausgeht, nur eine "an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit" zukünftiger Störungen erfülle das Tatbestandsmerkmal der Negativprognose, lassen andere eine "hohe" oder gar eine "nicht geringe" Wahrscheinlichkeit genügen. Eine weitere Gruppe streitet – im Ergebnis zu Recht – für einen flexiblen Wahrscheinlichkeitsmaßstab.
Nicht überzeugend erscheint es bei näherer Betrachtung, Antworten auf die materiell-rechtliche Frage nach dem anzuwendenden Wahrscheinlichkeitsmaßstab in der prozessualen Vorschrift des § 286 Abs. 1 ZPO zu suchen. Richtig ist zwar, dass das Regelbeweismaß der vollen richterlichen Überzeugung im Hinblick auf die jeweils zu beweisende Tatsache einen Grad an Gewissheit verlangt, der Zweifeln schweigen gebietet (freilich ohne sie völlig auszuschließen). Nichts gesagt ist damit jedoch darüber, wovon der Richter i. S. d. § 286 Abs. 1 ZPO überzeugt sein muss, was – mit anderen Worten – Gegenstand seiner Überzeugungsbildung sein soll. Diese Frage lässt sich nur durch Auslegung der jeweils relevanten materiell-rechtlichen Norm beantworten. Im Rahmen arbeitgeberseitiger Kündigungen führt eine solche Auslegung zu dem Ergebnis, dass der erforderliche Grad der Wahrscheinlichkeit einer zukünftigen Störung stets im Wege einer normativ strukturierten Interessenabwägung im Einzelfall zu ermitteln ist. Als maßgebliche Abwägungsfaktoren kommen insoweit vor allem das Ausmaß potenzieller Beeinträchtigungen des Arbeitsverhältnisses, das Gewicht gegenwärtiger und vergangener Störungen, die Sphäre des Prognosebedarfs und das Verschulden einer Vertragspartei in Betracht.
Beispiele
Drohen bei einer Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers schwere Schäden für bedeutende Sachwerte oder gar für Leib und Leben von Personen, so sind an die anzustellende Prognose vergleichsweise geringe Anforderungen zu stellen. Dasselbe gilt – beim Zusammentreffen umso mehr – , wenn dem Arbeitnehmer bereits für die Vergangenheit schwere schuldhafte Verstöße gegen arbeitsvertragliche Pflichten nachgewiesen werden können. Im Einzelfall kann es so zur Erfüllung des Tatbestandsmerkmals der kündigungsrechtlichen Negativprognose bereits ausreichen, wenn eine nicht nur geringe Wahrscheinlichkeit für weitere Pflichtverletzungen des Arbeitnehmers streitet.
Auf der anderen Seite sind besonderes hohe Maßstäbe an den festzustellenden Wahrscheinlichkeitsgrad anzulegen, wenn der Prognosebedarf aus der Sphäre des Arbeitgebers stammt und/oder das Arbeitsverhältnis bislang gänzlich ohne Beeinträchtigungen verlief. Treffen derartige Faktoren – wie insbesondere bei der vorbeugenden betriebsbedingten Kündigung – zusammen, so erscheint es überzeugend, eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit für die zukünftige Entwicklung (den Entfall des Beschäftigungsbedarfs) zu fordern. Das BAG lässt es in solchen Fällen freilich genügen, dass bei Ablauf der Kündigungsfrist "mit einiger Sicherheit" der Eintritt des die Entlassung erforderlich machenden betrieblichen Grundes vorliegen wird. Was damit genau gemeint ist, bleibt weitgehend offen.
Rz. 281
Die so als erforderlich ermittelte (Mindest-)Wahrscheinlichkeit ist sodann Beweisgegenstand; von ihr muss der Richter (voll) überzeugt sein.