Cesare Vannucchi, Dr. Marcel Holthusen
Rz. 385
Das objektive Verhalten muss nicht nur rechtswidrig, sondern auch verschuldet sein. Schuldloses Verhalten rechtfertigt i. d. R. eine verhaltensbedingte Kündigung nicht.
Rz. 386
Der mögliche Verschuldensmaßstab ergibt sich aus § 276 BGB. Hiernach kommen sowohl Fahrlässigkeit als auch Vorsatz in Betracht.
Rz. 387
Vorsatz ist das Wissen und Wollen des rechtswidrigen Erfolgs. Der Arbeitnehmer muss den rechtswidrigen Erfolg vorausgesehen und in seinen Willen aufgenommen haben. Dabei sind sowohl die Beweggründe als auch die Frage, ob der Erfolg gewünscht oder beabsichtigt war, unerheblich, da der Vorsatz sich i. d. R. nur auf die pflichtwidrige Handlung, nicht aber auf ihren Erfolg beziehen muss.
Rz. 388
Nach § 276 Satz 2 BGB handelt fahrlässig, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt. Der Begriff der Fahrlässigkeit setzt damit Vorhersehbarkeit und Vermeidbarkeit voraus. Innerhalb der Fahrlässigkeit werden noch unterschiedliche Verschuldensgrade unterschieden. Zum einen gibt es den Verschuldensgrad der groben Fahrlässigkeit, bei der die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt wurde (§ 277 BGB), d. h., es wurden schon einfachste naheliegende Überlegungen nicht angestellt und das nicht beachtet, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen: "Das darf nicht passieren". Bei der groben Fahrlässigkeit sind mithin auch subjektive in der Individualität des Arbeitnehmers liegende Umstände zu berücksichtigen. Zum anderen gibt es den Maßstab der einfachen Fahrlässigkeit. Bei der einfachen Fahrlässigkeit wird nur ein objektiv-abstrakter Sorgfaltsmaßstab angewandt. Einfache Fahrlässigkeit ist danach gegeben, wenn die besonderen Merkmale der groben Fahrlässigkeit nicht erfüllt sind: "Das kann passieren".
Rz. 389
Der Grad des Verschuldens ist für die Frage der Verhältnismäßigkeitsprüfung und die Interessenabwägung bedeutungsvoll. Unter Umständen kann auch ein fahrlässiges Versagen kündigungsrelevant sein, wenn ein Arbeitnehmer mit besonderer Verantwortung einen besonders schweren Schaden herbeigeführt hat.
Beispiel
Eine Verwaltungsangestellte bewilligte in ca. 30 Einzelfällen ohne Befugnis nach der verwaltungsinternen Regelung an einen Sozialhilfeempfänger, der gefälschte Unterlagen vorgelegt hat, insgesamt 20.000 EUR.
Rz. 390
Es gibt Ausnahmen vom Verschuldensgrundsatz. In Extremfällen kann bei Sachverhalten mit besonderen Umständen eine schwere Vertragspflichtverletzung die verhaltensbedingte Kündigung auch ohne nachgewiesenen Schuldvorwurf rechtfertigen. Das Verschulden stellt zwar im Regelfall das taugliche Abgrenzungskriterium zwischen verhaltensbedingter und personenbedingter Kündigung dar, dies gilt jedoch nicht ausnahmslos.
Beispiel
Das Fehlen der fachlichen Eignung als personenbedingter Kündigungsgrund kann dann (verhaltensbedingt) vorwerfbar sein, wenn sich der Arbeitnehmer die erforderliche fachliche Eignung trotz Möglichkeit nicht verschafft oder durch Fortbildungsmaßnahmen nicht aufrechterhält.
Rz. 391
Das erforderliche Verschulden fehlt dann, wenn der Arbeitnehmer sich in einem unverschuldeten Irrtum über die Rechtmäßigkeit seines Verhaltens befindet. Der sog. Verbotsirrtum muss unvermeidbar sein. Schuldlos ist mithin ein Irrtum nur, wenn der Arbeitnehmer trotz sorgfältiger Erkundigung und Prüfung der Rechtslage überzeugt sein durfte, sein Verhalten sei nicht pflichtwidrig. Dabei reicht die bloße Rechtsüberzeugung nicht aus. Vielmehr muss diese Rechtsansicht auf einer bestimmten Gesetzeslage bzw. der bisherigen Rechtsprechung oder bei einer zweifelhaften Rechtsfrage auf einer Rechtsauskunft einer geeigneten neutralen Stelle – z. B. auf der Auskunft eines Rechtsanwalts oder des Rechtssekretärs einer Gewerkschaft – beruhen. Der Arbeitnehmer muss sich mit der gebotenen Sorgfalt über die Rechtslage informieren und handelt auf eigenes Risiko, wenn er sich bei einer unsicheren Rechtslage auf eine unrichtige Auskunft verlässt.
Beispiel
Ein männlicher Arbeitnehmer bleibt der Arbeit mit dem Hinweis fern, er wolle anstelle seiner Frau die Mutterschutzfrist (nicht Elternzeit!) in Anspruch nehmen. Die rechtliche Belehrung und Aufforderung des Arbeitgebers ignoriert er mit dem Hinweis auf das Gleichheitsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG und eine mögliche Diskriminierung. Diese Begründung reicht für einen unverschuldeten Rechtsirrtum nicht aus.
Rz. 392
Ein vermeidbarer Irrtum kann aber im Rahmen der Interessenabwägung zugunsten des Arbeitnehmers zu berücksichtigen sein.
Beispiel
Ein im öffentlichen Dienst beschäftigter Arbeitnehmer wurde wegen Volksverhetzung durch diverse Flugblätter zu einer Geldstrafe verurteilt und hat sich dahingehend eingelassen, er habe gedacht, die politische Meinungsäußerung sei erlaubt und er sei zwischenzeitlich vom Inhalt der Flugblätter abgerückt. Der Verbotsirrtum muss im Rahmen der Interessenabwägung berücksichtigt werden.