BAG, Urteil vom 5.12.2023, 9 AZR 230/22
Leitsatz (amtlich)
1. Geht ein Arbeitnehmer nach einer rechtswidrigen Kündigung einer anderen Beschäftigung nach, entstehen für den Zeitraum der zeitlichen Überschneidung beider Arbeitsverhältnisse auch dann ungeminderte Urlaubsansprüche sowohl gegenüber dem alten als auch gegenüber dem neuen Arbeitgeber, wenn der Arbeitnehmer die Pflichten aus beiden Arbeitsverhältnissen nicht hätte kumulativ erfüllen können.
2. In einem solchen Fall ist jedoch zur Vermeidung doppelter Urlaubsansprüche der Urlaub, den der Arbeitnehmer vom neuen Arbeitgeber erhalten hat, in entsprechender Anwendung von § 11 Nr. 1 KSchG und § 615 Satz 2 BGB auf den Urlaubs- bzw. Urlaubsabgeltungsanspruch gegen seinen alten Arbeitgeber anzurechnen. Die Anrechnung ist kalenderjahresbezogen vorzunehmen.
Sachverhalt
Die Klägerin war beim Beklagten als Fleischereifachverkäuferin in einer Fünftagewoche beschäftigt. Arbeitsvertraglich war eine Urlaubsdauer von 30 Werktagen bei einer 6- Tages Woche vereinbart. Im Übrigen wurde auf die Regelungen des Jugendarbeitsschutzgesetzes und des Bundesurlaubsgesetzes verwiesen.
Mit Schreiben vom 23.12.2019 kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis fristlos. Der hiergegen erhobene Kündigungsschutzklage hatte das Arbeitsgericht mit rechtskräftigem Urteil vom 9.9.2020 stattgegeben. Das Arbeitsverhältnis der Parteien endete dann aufgrund einer außerordentlichen Kündigung des Beklagten vom 7.5.2021 vor Ablauf des Monats Mai 2021.
Während des Kündigungsrechtsstreits war die Klägerin zum 1.2.2020 ein Arbeitsverhältnis mit der Firma F eingegangen. Dort erhielt sie im Jahr 2020 an 25 Arbeitstagen und in der Zeit vom 1. Januar bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses an 10 Arbeitstagen Urlaub.
Die Klägerin hat von dem Beklagten zuletzt die Abgeltung von insgesamt 7 Arbeitstagen vertraglichen Mehrurlaubs (5 Arbeitstage aus dem Jahr 2020 und 2 Arbeitstage aus dem Jahr 2021) verlangt. Ihrer Auffassung nach scheide eine Anrechnung des in dem neuen Arbeitsverhältnis gewährten Urlaubs auf den vertraglichen Mehrurlaub aus dem Arbeitsverhältnis mit dem Beklagten aus. Die Wertungen des Bundesurlaubsgesetzes zum gesetzlichen Mindesturlaub ließen sich nicht auf den Mehrurlaub übertragen.
Die Entscheidung
Vor dem ArbG und dem LAG hatte die Klage keinen Erfolg. Die Revision der Klägerin vor dem BAG war jedoch teilweise, soweit die Klägerin Abgeltung von Urlaub aus dem Jahr 2021 begehrte, begründet. Dies führte zur teilweisen Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und insoweit zur Zurückverweisung der Sache an das LAG.
Zunächst entschied das Gericht, dass die Revision keinen Erfolg hat, soweit sich das Abgeltungsverlangen auf Urlaubsansprüche aus dem Jahr 2020 bezog. Es führte hierzu aus, dass die Klägerin gegenüber dem Beklagten zu Beginn des Jahres 2020 einen Urlaubsanspruch in einem Umfang von 25 Arbeitstagen erworben hatte (gesetzlicher Mindesturlaub (20 Tage) und vertraglicher Mehrurlaub (5 Tage)). Denn aus der vertraglichen Vereinbarung von 30 Werktagen ergaben sich – bei der für die Klägerin geltenden Fünftagewoche – 25 Arbeitstage Urlaub. Diesem Anspruch stand vorliegend nicht entgegen, dass die Klägerin nach Zugang der fristlosen Kündigung keine Arbeitsleistung mehr für den Beklagten erbracht hatte. Nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 GRC und dem sich daran ausrichtenden § 1 BUrlG sei der Zeitraum ohne Beschäftigung nach Ausspruch einer unwirksamen Kündigung grundsätzlich einem tatsächlichen Arbeitszeitraum gleichzustellen (vgl. EuGH, Urteil v. 25.6.2020, C-762/18 und C-37/19; v. 12.10.2023, C-57/22). Dies sei die Konsequenz daraus, dass der Arbeitgeber mit der unwirksamen Kündigung seine Obliegenheit verletzt habe, den Arbeitnehmer in die Lage zu versetzen, seinen Jahresurlaub zu nehmen (EuGH, Urteil v. 12.10.2023, C-57/22).
Dies gelte, so das BAG weiter, nach den Wertungen des Bundesurlaubsgesetzes auch bei Vorliegen sog. Doppelarbeitsverhältnisse; denn für das Entstehen des Urlaubsanspruchs sei es ohne Bedeutung, dass der Arbeitnehmer in einem Kündigungsschutzprozess den Fortbestand seines gekündigten Arbeitsverhältnisses geltend mache und währenddessen ein anderes Arbeitsverhältnis eingehe. Werde wie hier der Kündigungsschutzklage stattgegeben, bestünden zunächst in beiden Arbeitsverhältnissen Urlaubsansprüche, obwohl der Arbeitnehmer die Pflichten aus beiden Arbeitsverhältnissen nicht gleichzeitig erfüllen konnte; denn hinderte bereits das Vorliegen eines Doppelarbeitsverhältnisses per se das Entstehen des Urlaubsanspruchs in einem der Arbeitsverhältnisse, trüge – entgegen der Konzeption des Bundesurlaubsgesetzes – allein der Arbeitnehmer das Risiko der Nichterfüllung seines Urlaubsanspruchs.
Jedoch müsse sich, so das BAG weiter, die Klägerin unter Berücksichtigung des Rechtsgedankens der § 11 KSchG und § 615 Satz 2 BGB den Urlaub, den ihr der neue Arbeitgeber gewährt hatte, auf ihre Urlaubsansprüche gegen den Beklagten anrechnen lassen. Zwar enthalte das Gese...