Sven Franke, Stefanie Hornung
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Ich hatte keine Lust mehr auf Pflege und wollte eigentlich etwas anderes studieren. Da hörte ich von dem Buurtzorg-Pilotversuch.
Mark Adolph, Altenpfleger bei Sander Pflege
Das Badezimmer muss dringend aufgeräumt werden. Der Patient braucht ein neues Bett und abends soll er eine zusätzliche Tablette nehmen. Die Aufgaben in der ambulanten Pflege sind vielfältig. Der 28-jährige Altenpfleger Mark Adolph bespricht alles, was ansteht, mit seinem neuen Team bei Sander Pflege in Hörstel, einer Kleinstadt in Westfalen, und setzt es ohne Rücksprache mit Vorgesetzten direkt um. Manchmal steht nicht Strümpfeanziehen an erster Stelle, sondern ein bisschen Zeit zum Zuhören, wenn die Nacht nicht so gut war oder ein Angehöriger im Sterben liegt. "Diese Art zu arbeiten beflügelt mich", sagt Mark.
Seine Arbeitsbedingungen sind jedoch nicht der Normalfall. Die ambulante Pflege in Deutschland ist kaum noch zu gewährleisten – vor allem in ländlichen Regionen: Patienten leben verstreut in verschiedenen Dörfern. Bis zu 80 Kilometer legen Pflegedienstmitarbeiter in einer Schicht zurück. Zu den langen Wegen kommt der Zeitdruck: 3 Minuten für Kompressionsstrümpfe, 10 für die Medikamentengabe, 13 für Waschen – Pflege ist heute Akkordarbeit. In diesem engen Raster fehlt die Zeit für ein kleines Pläuschchen. "Satt und sauber" lautet die Devise.
Hinzu kommt ein miserables Gehalt: Laut einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) verdienen Fachkräfte in der Altenpflege 2621 EUR im Schnitt. Die regionalen Unterschiede sind erheblich, sodass das Gehalt sogar unter 2000 EUR liegen kann, z. B. in Sachsen-Anhalt. Kein Wunder, dass Personal schwer zu finden ist. Laut einer Antwort der Deutschen Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage im Frühjahr 2018 fehlen in der Altenpflege 15.000 Fachkräfte und 8.500 Helferinnen und Helfer. Angesichts der demografischen Entwicklung sind das eher kleingerechnete Zahlen. Die Menschen werden zunehmend älter und somit häufiger pflegebedürftig. Im Jahr 1999 lag der Anteil Pflegebedürftiger bei 2 Millionen, 2015 schon bei 2,9 Millionen und 2017 3,4 Millionen. Der Großteil, nämlich 2,6 Millionen Menschen, werden Zuhause versorgt, etwa 830.000 davon mithilfe eines ambulanten Pflegedienstes – Tendenz steigend.
Beruf in der Sinnkrise: Wer hat noch Lust auf Pflege?
In Sachen Ausbildung weist der Trend in eine andere Richtung: Immer weniger Menschen entscheiden sich für den Pflegeberuf. Zudem steigt die Zahl der Berufsaussteiger stetig an. Wer sich für den Beruf "Pflege" entscheidet, tut das sicher nicht des Geldes wegen. Die Pflegekräfte leiden vielmehr unter der geringen Wertschätzung des Berufes und den starren Vorgaben. Der Umgang mit Menschen steht für sie im Vordergrund. Umso größer die Enttäuschung, wenn davon im Berufsalltag immer weniger bleibt.
Die verordneten Leistungen des Arztes und die festgelegten Leistungsmodule der Kranken- und Pflegekassen lassen den Pflegekräften kaum Spielraum. Die Zeit für die Patienten und die konkreten Tätigkeiten bewegen sich in diesem engen Korridor. Ihre pflegerische Einschätzung, ihre Vorschläge und Ideen finden kaum Beachtung. Durch die bestehende Hierarchie dominiert die Unternehmensleitung, die Pflegedienstleitung oder die Teamleitung. Oftmals geht dies auf Kosten der Patienten, wider besseres Wissen. Demotivation ist da vorprogrammiert.
So ging es auch Mark Adolph. Der junge Altenpfleger stieg vor 5 Jahren bei Sander Pflege ein. Zum Angebot des Unternehmens gehören neben stationärer Pflege, Tagespflege, betreutem Wohnen und Wohngemeinschaften auch ambulante Pflege in der Region rund um Münster und Osnabrück. Mark machte seine Ausbildung bei dem Pflegedienst, war in verschiedenen hauseigenen Einrichtungen tätig und bildete sich ständig weiter. Dennoch befiel ihn der Frust. "Ich hatte keine Lust mehr auf Pflege und wollte eigentlich irgendetwas anderes studieren", erzählt er. Doch da hörte er von einem Experiment bei Sander Pflege: 3 ambulante Teams in der Region – neben Emsdetten, wo Impulse Pflegedienst als Partner im Boot ist, auch in Hörstel und Lotte – arbeiteten damals schon probeweise nach der Buurtzorg-Idee: Das revolutionäre Konzept aus den Niederlanden, Buurtzorg heißt übersetzt so viel wie "Nachbarschaftshilfe", pfeift auf Bürokratie und organisatorische Regeln: Die ganzheitliche Betreuung der Patienten geht vor. Der niederländische Pflegedienst baut lokale Netzwerke von Beteiligten auf: neben den Angehörigen, Ärzten und Sanitätshäusern etwa auch Freunde, Nachbarn, Vereine oder Ehrenamtliche, die mit anpacken, wo sie können. Das Ungewöhnliche: Alle Kooperationspartner sind miteinander vernetzt, sodass sie auf dem gleichen Wissensstand sind und kurze Absprache-Wege entstehen, die Bürokratie verhindern. Selbstorganisierte Teams von maximal 12 Pflegekräften arbeiten ohne Leitung und Chefs und stellen eigenständig den Pflegeplan zusammen.
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Buurtzorg möchte die Pfleger, die Patienten und ihre Familie dafür ausbilden,...