Entscheidungsstichwort (Thema)
Außerordentliche Kündigung eines Berufsausbildungsverhältnisses wegen rassistischen Verhaltens
Leitsatz (amtlich)
1. Auch im Ausbildungsverhältnis bedarf es bei besonders schwerwiegenden Pflichtverletzungen, deren Rechtswidrigkeit dem Auszubildenden ohne weiteres erkennbar und bei denen eine Hinnahme durch den Ausbildenden offensichtlich ausgeschlossen ist, vor dem Ausspruch der außerordentlichen Kündigung keiner Abmahnung.
2. Das Landesarbeitsgericht darf in aller Regel von einer Protokollierung der Beweisaufnahme (§ 160 Abs. 3 Nr. 4 und Nr. 5 ZPO) nicht gemäß § 161 Abs. 1 Nr. 1 ZPO absehen, weil nicht auszuschließen ist, daß trotz fehlender Revisionszulassung durch das Landesarbeitsgericht sein Urteil aufgrund einer Zulassung durch das Bundesarbeitsgericht der Revision unterliegt.
Normenkette
MTV für Auszubildende vom 6. Dezember 1974 i.d.F. vom 17. Juli 1996 § 23 Abs. 3-4; ZPO § 160 Abs. 3 Nr. 4, § 161 Abs. 1 Nr. 1; BBiG § 15 Abs. 4, § 6 Abs. 1 Nr. 5, § 15 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin vom 30. Januar 1998 – 16 Sa 128/97 – aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Der am 17. März 1980 geborene Kläger nahm am 1. September 1996 zusammen mit zehn weiteren Jugendlichen eine Ausbildung zum Industriemechaniker im Ausbildungszentrum der Beklagten in Berlin-Charlottenburg auf. Der Ausbildungsgruppe gehören Jugendliche unterschiedlicher Nationalitäten an. Bei der Beklagten handelt es sich um ein Stadtreinigungsunternehmen, das in der Rechtsform einer Anstalt des öffentlichen Rechts betrieben wird. Der Ausbildungsvertrag des Klägers sieht eine Ausbildungszeit vom 1. September 1996 bis 29. Februar 2000 vor, er erhielt im ersten Jahr eine monatliche Ausbildungsvergütung von 1.057,53 DM brutto.
Am 25. Februar 1997 fertigte der Kläger gemeinsam mit dem Auszubildenden E ein 25 × 5 cm großes Blechschild an, auf dem mit Schlagbuchstaben von 5 mm Größe der Text
„ARBEIT MACHT FREI
TUERKEI SCHOENES LAND”
eingeschlagen worden war. Auf beide Seiten des Schildes hatte der Kläger zudem mit schwarzem Markierstift das Wort „Döner” geschrieben. Der Kläger und Herr E befestigten das Schild an der Werkbank des türkischen Auszubildenden D unter dem Schraubstock mit zwei Schrauben. Herr D fand das Schild dort am Nachmittag des 25. Februar 1997 vor und informierte, nachdem er selbst nicht klären konnte, wer es angebracht hatte, den Leiter des Ausbildungszentrums K. Durch die Aussage des weiteren Auszubildenden M, der beobachtet hatte, wie der Kläger und Herr E das Schild befestigt hatten, wurden diese als Hersteller festgestellt. Am 26. Februar 1997 unterrichtete Herr K die für Personalentscheidungen zuständige Geschäftseinheit Personal der Beklagten über den Vorfall. Auf deren Veranlassung wurden am 27. Februar 1997 mehrere Mitglieder der Ausbildungsgruppe des Klägers einzeln vernommen. Dabei räumten der Kläger und Herr E ein, das Schild angefertigt und an die Werkbank Herrn D s geschraubt zu haben. Zum Zeitpunkt der Anhörung befanden sich die Eltern des Klägers in Urlaub außerhalb von Berlin. Im Rahmen der Befragung äußerten verschiedene Jugendliche, mehrere Auszubildende, unter ihnen der Kläger, hätten Ende 1996 bzw. Anfang 1997 in den Ausbildungsräumen während der Arbeitszeit „Nazilieder” gesungen, u.a. ein Lied des Titels „Auschwitz, wir kommen” und Textzeilen, wonach Juden getrieben und die Öfen schon einmal bereitgemacht werden sollten. Am 3. und 4. März 1997 befragte die Beklagte die restlichen Mitglieder der Ausbildungsgruppe. Schon am 26. Februar 1997 – noch vor ihrer Anhörung durch die Personalabteilung – hatten sich der Kläger und Herr E bei dem Auszubildenden D entschuldigt, der die Entschuldigung Herrn E s annahm, nicht aber die des Klägers.
Mit Schreiben vom 6. März 1997, zugegangen am 7. März 1997, bat die Beklagte den Personalrat ihrer Hauptverwaltung, einer beabsichtigten außerordentlichen Kündigung zuzustimmen. Dem kam der Personalrat am 12. März 1997 nach. Daraufhin kündigte die Beklagte das Ausbildungsverhältnis mit Schreiben vom 12. März 1997, das den Eltern des Klägers am selben Tage übergeben wurde, fristlos. Diesen Schritt begründete sie vor allem mit dem Vorgang um das Blechschild sowie damit, der Kläger habe u.a. das genannte Lied initiiert und mitgesungen.
Der bei der Industrie- und Handelskammer zu Berlin gebildete Ausschuß zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen Ausbildenden und Auszubildenden erklärte mit Spruch vom 17. April 1997, die Kündigung habe das Ausbildungsverhältnis nicht beendet, weil ihr insbesondere eine schriftliche Abmahnung hätte vorangehen müssen. Die Beklagte erkannte den Spruch nicht an.
Der Kläger hat mit seiner am 21. März 1997 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage behauptet, sein (vertretender) Ausbilder Ku habe ihn und seinen Kollegen E am Morgen des 25. Februar 1997 mit den Worten „Arbeit macht frei” aufgefordert, die Arbeit wieder aufzunehmen, als sie kurze Zeit untätig gewesen seien. Er – der Kläger – habe bis zu den Ermittlungen nach dem 25. Februar 1997 und trotz des genossenen Geschichtsunterrichts nicht gewußt, daß dieser Satz über dem Eingangsportal verschiedener Konzentrationslager (neben anderen desjenigen in Auschwitz) angebracht gewesen sei. Auch seiner Mutter sei das nicht bekannt gewesen. Hintergrund des mit dem Blechschild beabsichtigten, wenn auch geschmacklosen und im nachhinein von ihm bedauerten Streichs sei gewesen, daß der türkische Auszubildende D sehr fleißig und strebsam sei. Schon zuvor habe es Auseinandersetzungen mit ihm gegeben, weil er oft noch weitergearbeitet habe, wenn es eigentlich bereits erlaubt gewesen sei, mit der Arbeit aufzuhören. Dadurch habe er „die Preise verdorben” und dazu beigetragen, daß die anderen Auszubildenden nicht pünktlich hätten „Schluß machen können”. Er, der Kläger, verstehe sich nicht als ausländerfeindlich, wie sich daran zeige, daß er in derselben Musikband wie sein bester Freund, ein Italiener, spiele und alle Auszubildenden der Werkstatt der Beklagten zu einem Fest eingeladen habe, ohne die beiden Kollegen anderer Nationalität – Herrn D und den polnischen Auszubildenden M – von der Einladung auszunehmen. Zwar habe er bei der Arbeit, schon weil er in einer Musikgruppe spiele, manchmal gesungen, hingegen keine Lieder antisemitischen Inhalts. Von derartigen Gesängen im Dezember 1996 habe er auch nichts bemerkt.
Der Kläger hat beantragt
festzustellen, daß die Kündigung seines Berufsausbildungsvertrages mit Schreiben vom 12. März 1997 unwirksam ist.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat behauptet, der Kläger habe im Dezember 1996 das bezeichnete neonazistische Lied nicht nur mitgesungen, sondern seinen Text mitgebracht und ihn den anderen Mitgliedern der Ausbildungsgruppe vorgesungen. Deshalb könne auch nicht davon ausgegangen werden, dem Kläger seien Herkunft und Bedeutung der Worte „Arbeit macht frei” unbekannt gewesen, zumal die Fotografie des Tores der Selektionsrampe des Konzentrationslagers in Auschwitz in nahezu jedem Geschichtsbuch enthalten sei und die Aufklärung über den Nationalsozialismus breiten Raum im Geschichtsunterricht deutscher Schulen einnehme. Der Kläger habe den Betriebsfrieden erheblich gestört, da sie, die Beklagte, genötigt gewesen sei, die gegen ihn erhobenen Vorwürfe über einen Zeitraum von fast zwei Wochen mit großem Aufwand aufzuklären. Sein Verhalten gehe weit über einen „Dummejungenstreich” hinaus.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Die Berufung der Beklagten ist nach Vernehmung der Zeugen D, E, Ku und Me, deren Aussagen nicht protokolliert sind, erfolglos geblieben.
Mit ihrer vom Bundesarbeitsgericht zugelassenen Revision erstrebt die Beklagte nach wie vor Klageabweisung.
Entscheidungsgründe
Die Berufung der Beklagten ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht (§ 565 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die fristlose Kündigung sei unverhältnismäßig, weil der Kläger zuvor nicht abgemahnt worden sei. Zwar sei die Kammer davon überzeugt, daß der Kläger nicht nur gemeinsam mit Herrn E das Blechschild gefertigt und an die Werkbank seines Kollegen D geschraubt habe, sondern im Dezember 1996 auch das „Auschwitzlied” in der Ausbildungsgruppe vorgesungen und anschließend mit ungefähr der Hälfte der Auszubildenden mehrmals gesungen habe. Obwohl an den für die Kündigung eines Berufsausbildungsverhältnisses erforderlichen „wichtigen Grund” im allgemeinen strengere Maßstäbe anzulegen seien als an den, der für die außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines erwachsenen Arbeitnehmers genüge, seien beide Hauptvorwürfe als wichtige Gründe objektiv geeignet.
Die Einzelfallabwägung führe aber zur Unwirksamkeit der Kündigung und gebiete den vorrangigen Ausspruch einer Abmahnung, wie sich mittelbar auch aus § 6 Abs. 1 Nr. 5 BBiG ergebe.
II. Dem folgt der Senat im Ergebnis nicht. Das angefochtene Urteil läßt nicht erkennen, daß das Landesarbeitsgericht die Entbehrlichkeit einer Abmahnung bei besonders schwerwiegenden Pflichtverletzungen in Erwägung gezogen und insoweit und bei der Interessenabwägung die gebotene Gesamtbetrachtung der Kündigungsgründe vorgenommen hat. Die Revision rügt deshalb mit Recht, das Landesarbeitsgericht habe § 15 Abs. 2 Nr. 1 BBiG fehlerhaft angewendet.
1. Zuzustimmen ist dem Landesarbeitsgericht allerdings darin, beiden Hauptvorwürfen lägen Vertragsverstöße zugrunde, die jeweils objektiv geeignet seien, den besonderen Voraussetzungen (Senatsurteil vom 10. Mai 1973 – 2 AZR 328/72 – AP Nr. 3 zu § 15 BBiG; LAG Köln Urteil vom 11. August 1995 – 12 Sa 426/95 – NZA-RR 1996, 128, 129, zu I 1 der Gründe) des wichtigen Grundes i.S. des § 15 Abs. 2 Nr. 1 BBiG und des inhaltsgleichen § 23 Abs. 3 Buchstabe a des Manteltarifvertrags für Auszubildende vom 6. Dezember 1974 in der Fassung vom 17. Juli 1996 (MTV) zu genügen. Die konkrete Anwendung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs kann im Revisionsverfahren ohnehin allein darauf überprüft werden, ob das angefochtene Urteil den Rechtsbegriff selbst verkannt hat, ob es bei der Unterordnung des Sachverhalts unter die Rechtsnorm Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt hat und ob es alle vernünftigerweise in Betracht kommenden Tatsachen, die für oder gegen die außerordentliche Kündigung sprechen, widerspruchsfrei beachtet hat (vgl. die ständige Rechtsprechung zu § 626 BGB, z. B. Senatsurteile vom 31. Januar 1996 – 2 AZR 158/95 – BAGE 82, 124, 133 f. = AP Nr. 13 zu § 626 BGB Druckkündigung, zu II 4 der Gründe; vom 17. Juni 1998 – 2 AZR 599/97 – n.v., zu II 2 b der Gründe). Auf der Ebene des wichtigen Grundes an sich hält die angegriffene Entscheidung dieser beschränkten revisionsgerichtlichen Kontrolle stand.
a) Soweit der Kläger zusammen mit dem Auszubildenden E während der Ausbildungszeit, in den Räumen der Beklagten und mit den von ihr gestellten Ausbildungsmitteln das Schild mit der Aufschrift „ARBEIT MACHT FREI TUERKEI SCHOENES LAND” hergestellt und an der Werkbank seines Kollegen D angebracht hat, fällt ihm eine schwerwiegende vorsätzliche Nebenpflichtverletzung zur Last. Zutreffend hat das Berufungsgericht den Vertragsverstoß entsprechend der von ihm getroffenen Feststellung, wonach der Kläger keine gefestigte rechtsradikale Gesinnung aufweist, die u.U. seine persönliche Eignung für die vertraglich geschuldete Leistung beeinträchtigen könnte, nicht der personenbedingten Sphäre zugeordnet, sondern dem verhaltensbedingten Bereich (vgl. Senatsurteil vom 5. November 1992 – 2 AZR 287/92 – AuR 1993, 124, zu II 3 b der Gründe). Dabei ist die Würdigung des Landesarbeitsgerichts nicht zu beanstanden, der Kläger habe Herrn D nicht in ein Konzentrationslager gewünscht, sondern ihm „lediglich” zu verstehen gegeben, er möge seinem Arbeitseifer lieber in der Türkei nachgehen. Dem Berufungsgericht ist darin zuzustimmen, daß der Kläger seinen Mitauszubildenden damit verschlüsselt des Landes verwies, ihm aufgrund seiner nationalen Heimat Gleichwertigkeit absprach und ihn verächtlich machte, obgleich ihm Herr D dafür zumindest keinen unmittelbaren Anlaß durch eine vorangegangene Provokation gegeben hatte. Der Text wies also ausländerfeindliche, wenn auch auf einen einzelnen Kollegen bezogene Tendenz auf.
Da der Kläger durch das Schild seine Mißachtung für den Auszubildenden D kundtat und dessen Person herabwürdigte, war sein Verhalten auch nicht von seinem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung nach Art. 5 Abs. 1 GG gedeckt. Dieses Grundrecht findet seine Schranken in den allgemeinen Gesetzen und dem Recht der persönlichen Ehre (vgl. Senatsurteil vom 14. Februar 1996 – 2 AZR 274/95 – AP Nr. 26 zu § 626 BGB Verdacht strafbarer Handlung, zu II 2 der Gründe, m.w.N.). Insoweit kann auf sich beruhen, ob der Kläger einen Straftatbestand erfüllte (etwa § 185 StGB oder gar § 130 Abs. 1 Nr. 2 bzw. Abs. 2 Nr. 1 StGB). Auf die strafrechtliche Bewertung der Handlung kommt es für ihre kündigungsrechtliche Bedeutung nicht entscheidend an (Senatsurteil vom 20. August 1997 – 2 AZR 620/96 – AP Nr. 27 zu § 626 BGB Verdacht strafbarer Handlung, zu II 1 c der Gründe). Im kündigungsrechtlichen Sinne beleidigte der Kläger den Auszubildenden D grob, indem er seine Ehre bewußt und gewollt aus gehässigen Motiven heraus (dem Ärger über seinen Arbeitseifer) kränkte (vgl. Krummel/ Küttner, NZA 1996, 67, 74, m.w.N.). Damit wird kein besonderer Kündigungsgrund der „Ausländerfeindlichkeit” begründet (dagegen mit Recht Korinth, AuR 1993, 105), vielmehr störte der Kläger die innerbetriebliche Verbundenheit unter den Auszubildenden (zu einer verhaltensbedingten ordentlichen Kündigung eines Arbeitsverhältnisses Senatsurteil vom 5. November 1992, aaO, unter II 2 b der Gründe) und gefährdete – da nicht auszuschließen war, daß die anderen Jugendlichen den Vorfall an die Öffentlichkeit tragen würden – konkret das Ansehen und die Außenbeziehungen der Beklagten. Diese ist als Arbeitgeberin des öffentlichen Dienstes, die Jugendliche ausbildet, gehalten, der mit ausländerfeindlichen Verhaltensweisen einhergehenden Mißachtung energisch entgegenzutreten, und braucht sie nicht hinzunehmen (vgl. BVerfG Beschluß vom 2. Februar 1995 – 1 BvR 320/94 – AP Nr. 53 zu Art. 103 GG, zu C I der Gründe; Senatsurteil vom 9. März 1995 – 2 AZR 644/94 – BB 1996, 434, zu 2 der Gründe). Zudem mußte sie Herrn D wegen der mindestens mittelbaren Drittwirkung des Diskriminierungsverbots des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG vor einer Benachteiligung aufgrund seiner Abstammung und Heimat schützen (Arbeitsgericht Bremen Urteil vom 29. Juni 1994 – 7 Ca 7160/94 – BB 1994, 1568 zu I 2 b der Gründe). Abgesehen von dem Ermittlungsaufwand der Beklagten im Zuge der Vorbereitung der Kündigung wurde der Betriebsfrieden und -ablauf schon dadurch beeinträchtigt, daß der Auszubildende D versuchte, bei seinen Kollegen herauszufinden, wer das Blechschild an seiner Werkbank angebracht hatte, und sich, als ihm dies nicht gelang, an den Leiter des Ausbildungszentrums K wandte (vgl. LAG Hamm Urteil vom 11. November 1994 – 10 (19) Sa 100/94 – LAGE § 626 BGB Nr. 82, zu 1 und 3 der Gründe). Dabei ist in die Beurteilung des Landesarbeitsgerichts noch nicht einmal eingeflossen, daß der Kläger, indem er das Schild während der Arbeitszeit fertigte und befestigte, auch seine Hauptleistungspflicht verletzte, weil er seine auch im Rahmen einer Berufsausbildung geschuldete Arbeitskraft zweckwidrig verwandte.
b) Der weitere Umstand, daß der Kläger im Dezember 1996 das Lied mit dem Titel „Auschwitz, wir kommen” und mit Wendungen wie „haltet die Öfen bereit” und „Juden werden getrieben” mitbrachte, vortrug und danach mit etwa der Hälfte der Ausbildungsgruppe mehrfach sang – so die für den Senat nach § 561 Abs. 2 ZPO verbindliche Feststellung des Berufungsgerichts –, ist an sich erst recht als wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung geeignet. Besondere Bedeutung kommt insofern der Tatsache zu, daß der Kläger selbst den Gesang anstimmte und die übrigen Auszubildenden erst durch ihn mit dem menschenverachtenden Text des Liedes in Berührung gebracht wurden. Das Landesarbeitsgericht führt dazu zutreffend aus, wer den vom Nationalsozialismus organisierten, industrialisierten Massenmord, der im Vernichtungslager Auschwitz und in anderen Konzentrationslagern verübt worden sei, verharmlose oder verherrliche, begehe einen schwerwiegenden Verstoß gegen die betriebliche Ordnung. Die Beklagte war nach § 6 Abs. 1 Nr. 5 BBiG und noch in gesteigertem Maße als öffentlicher Arbeitgeber verpflichtet, gegen ein solches Verhalten, das die übrigen, gleichfalls überwiegend jugendlichen Auszubildenden sittlich gefährdete, einzuschreiten. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß ungefähr die Hälfte der Ausbildungsgruppe mitsang und ihre anderen Mitglieder keinen ausdrücklichen Anstoß an den Gesängen nahmen. Hieran zeigt sich umgekehrt die Beeinflußbarkeit der Auszubildenden, die es gerade gebot, sie vor den antisemitischen und neonazistischen Parolen zu schützen, zumal sonst in der Öffentlichkeit der Eindruck hätte entstehen können, die Beklagte dulde die Verbreitung derartigen Gedankenguts. Wegen ihrer kündigungsrechtlichen Relevanz kann erneut offenbleiben, ob die Handlungsweisen des Klägers den Straftatbeständen der Volksverhetzung (§ 130 StGB), der Gewaltdarstellung (§ 131 StGB) oder des Verbreitens von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen (§ 86 StGB) unterfallen (dazu Korinth, AuR 1993, 105, 107 f.).
Es ist der Beklagten auch nicht wegen des Schriftformerfordernisses der § 15 Abs. 3 BBiG, § 23 Abs. 4 MTV verwehrt, sich darauf zu berufen, daß der Kläger das Lied nicht nur mitsang, sondern auch mitbrachte und vorsang. Dem Berufungsgericht ist darin beizupflichten, daß beides das Gewicht des Kündigungsgrundes verstärkte, ihn aber nicht inhaltlich grundlegend umgestaltete. Der Kündigungsvorwurf war für den Kläger dennoch so klar bezeichnet, daß er den ihm zur Last gelegten Sachverhalt – die Beteiligung an den Gesängen – erkennen und sich darüber klar werden konnte, ob er gegen ihn vorgehen wollte. Den Normzwecken der Rechtsklarheit und Beweissicherung war somit genügt (vgl. Senatsurteile vom 17. Juni 1998 – 2 AZR 741/97 – RzK IV 3 a Nr. 30, zu II 3 b der Gründe und zu der inhaltsgleichen Regelung des § 54 BMT-G II vom 10. Februar 1999 – 2 AZR 176/98 – NZA 1999, 602, auch zur Veröffentlichung in der amtlichen Sammlung vorgesehen, zu II 1 der Gründe).
Die zweiwöchige Kündigungserklärungsfrist nach § 15 Abs. 4 Satz 1 BBiG, § 23 Abs. 3 Satz 2 MTV ist auch hinsichtlich dieses Kündigungsgrundes unbedenklich gewahrt, da er den Mitarbeitern der Personalabteilung der Beklagten erst am 27. Februar 1997 bekannt wurde.
2. Das Landesarbeitsgericht hat jedoch bei seiner weiteren Würdigung des Verhaltens des Klägers nicht erkennbar berücksichtigt, daß eine vorherige Abmahnung vor Ausspruch der Kündigung wegen der Schwere der Pflichtverletzungen des Klägers entbehrlich sein könnte.
a) Die Prüfung, ob nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eine vorrangige Abmahnung erforderlich ist, fällt zwar weitgehend in den Beurteilungsspielraum der Tatsacheninstanzen und unterliegt lediglich eingeschränkter revisionsrechtlicher Überprüfung (vgl. z. B. Senatsbeschluß vom 10. Februar 1999 – 2 AZB 31/98 – DB 1999, 1121, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen, zu B II 5 der Gründe). Auch diesem beschränkten Prüfungsmaßstab genügt das angegriffene Urteil indessen nicht.
Im Ansatz noch zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, das Verhalten des Klägers sei geeignet, das für die Fortsetzung des Ausbildungsverhältnisses notwendige Vertrauen der Beklagten in den Kläger zu zerstören. Es mag auch sein, daß sein jugendliches Alter, verbunden mit Unreife und Geltungsdrang, die erfolgte Entschuldigung sowie die bei den Ermittlungen der Beklagten fehlende Unterstützung seiner Eltern es als möglich erscheinen ließen, daß er sein Handeln ändern werde. Dem Berufungsgericht ist ferner zuzugeben, daß eine Abmahnung auch bei Handlungsweisen, die den sog. Vertrauensbereich berühren, nicht stets entbehrlich, vielmehr erforderlich ist, wenn ein steuerbares Verhalten des Auszubildenden in Rede steht und es erwartet werden kann, daß das Vertrauen wiederhergestellt wird (vgl. Senatsurteil vom 4. Juni 1997 – 2 AZR 526/96 – BAGE 86, 95, 102 = AP Nr. 137 zu § 626 BGB, zu II 1 d der Gründe). Davon ist insbesondere dann auszugehen, wenn der Auszubildende mit vertretbaren Gründen annehmen konnte, sein Verhalten sei nicht vertragswidrig oder werde vom Ausbildenden nicht als ein erhebliches, den Bestand des Ausbildungsverhältnisses gefährdendes Fehlverhalten angesehen (vgl. die Senatsurteile vom 5. November 1992, aaO, zu II 3 c der Gründe und vom 14. Februar 1996, aaO, zu II 5 der Gründe). Der Senat hat jedoch mit seiner Entscheidung vom 4. Juni 1997 (aaO) nur verdeutlicht, daß die früher vorgenommene Differenzierung nach verschiedenen Störbereichen von bloß eingeschränkten Wert war. Er hat die Prüfung des Abmahnungserfordernisses bei Störungen im Vertrauensbereich den Grundsätzen unterworfen, die für Kündigungen wegen Störungen im Leistungsbereich bereits bisher galten (Senatsbeschluß vom 10. Februar 1999, aaO, zu B II 5 der Gründe). Eine Abmahnung hat nicht stets schon dann Vorrang vor einer (hier nur außerordentlich möglichen) Kündigung, wenn eine Wiederholung des pflichtwidrigen Verhaltens aufgrund der Abmahnung nicht zu erwarten steht. Bei besonders schwerwiegenden Verstößen ist eine Abmahnung grundsätzlich entbehrlich (Senatsurteil vom 9. März 1995, aaO, zu 2 der Gründe, m.w.N.), weil in diesen Fällen regelmäßig davon auszugehen ist, daß das pflichtwidrige Verhalten das für ein Arbeitsverhältnis notwendige Vertrauen auf Dauer zerstört hat.
b) Ob diese Voraussetzungen einer Entbehrlichkeit der vorherigen Abmahnung vorliegend anzunehmen sind, wird das Landesarbeitsgericht bei seiner erneuten Würdigung des Sachverhalts zu prüfen haben. Dabei wird es auch zu beachten haben, daß dann, wenn einzelne an sich als wichtiger Grund geeignete Pflichtverletzungen unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und Abwägung der beiderseitigen Interessen nicht oder jedenfalls nicht ohne vorherige Abmahnung für eine außerordentliche Kündigung des Ausbildungsverhältnisses ausreichen, noch eine Gesamtabwägung vorzunehmen ist (vgl. Senatsurteil vom 10. Dezember 1992 – 2 AZR 271/92 – AP Nr. 41 zu Art. 140 GG, zu III 3 c aa der Gründe, m.w.N.; Busemann/Schäfer, Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis, 3. Aufl., Rz 128; KR-Fischermeier, 5. Aufl., § 626 BGB Rz 246 f.; Gräfl, Außerordentliche Kündigung, LzK 240 Rz 57). In diese ist dann gegebenenfalls auch noch der Vorwurf der Beklagten einzubeziehen, der Kläger habe Herrn D bereits einmal im September/Oktober 1996 mit den Worten „Du dummer Nigger” beleidigt, wobei zuvor die noch streitigen näheren Umstände des Vorgangs aufgeklärt werden müssen.
3. Dem Senat ist eine eigene Sachentscheidung verwehrt, weil nicht nur zu dem letztgenannten Vorwurf der Sachverhalt nicht vollständig festgestellt ist.
a) Das Landesarbeitsgericht hat von einer Protokollierung der durchgeführten Beweisaufnahme (§ 160 Abs. 3 Nr. 4 ZPO) abgesehen, obgleich dafür die Voraussetzungen des § 161 Abs. 1 Nr. 1 ZPO nicht vorlagen. Im Zeitpunkt der Beweisaufnahme stand schon nicht fest, ob das Landesarbeitsgericht nicht nach dem Ergebnis der abschließenden Beratung die Revision zulassen würde. Davon abgesehen hat die unterlegene Partei jedenfalls die Möglichkeit der Nichtzulassungsbeschwerde gemäß § 72 a ArbGG, deren Zulässigkeit und Begründetheit zu beurteilen nicht dem Landesarbeitsgericht, sondern allein dem Bundesarbeitsgericht obliegt.
b) Wegen der fehlenden Protokollierung kann der Senat die Beweisfeststellung und -würdigung des Landesarbeitsgerichts nicht oder jedenfalls nicht ausreichend auf Rechtsfehler überprüfen. Zwar hat das Landesarbeitsgericht durchaus umfangreiche Feststellungen zum Inhalt der Beweisaufnahme im Tatbestand des angefochtenen Urteils getroffen. Daraus läßt sich jedoch nicht ersehen, ob diese Feststellungen vollständig oder, wie die Revision rügt, lückenhaft und einseitig sind. Die gesetzwidrig unterlassene Protokollierung der Beweisaufnahme führt deshalb notwendig zur Zurückverweisung der Sache gemäß § 565 Abs. 1 Satz 1 ZPO (vgl. BGH Urteil vom 18. September 1986 – I ZR 179/84 – NJW 1987, 1200 f.; Zöller-Stöber, ZPO, 21. Aufl., § 161 Rz 9).
Unterschriften
Etzel, Bröhl, Fischermeier, Röder, Nipperdey
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 01.07.1999 durch Anderl, Amtsinspektorin als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle
Fundstellen
Haufe-Index 436239 |
BB 1999, 1555 |
BB 1999, 2302 |
DB 1999, 1456 |
DB 1999, 2216 |
DStR 2000, 602 |
NWB 1999, 4244 |
EBE/BAG 1999, 165 |
ARST 1999, 262 |
ARST 2000, 27 |
FA 1999, 301 |
FA 1999, 369 |
FA 1999, 371 |
FA 1999, 397 |
JR 2000, 439 |
NZA 1999, 1270 |
SAE 2000, 126 |
ZAP 2000, 8 |
ZTR 2000, 43 |
AP, 0 |
AuA 1999, 375 |
AuA 2000, 286 |
AUR 2000, 72 |
RdW 2000, 23 |