Entscheidungsstichwort (Thema)
Heimarbeitsverhältnis aufgrund tatsächlicher Handhabung
Leitsatz (amtlich)
- Über die rechtliche Einordnung eines Rechtsverhältnisses entscheidet der Geschäftsinhalt und nicht die Bezeichnung oder die von den Parteien gewünschte Rechtsfolge. Der Geschäftsinhalt kann sich aus den Vereinbarungen und der praktischen Durchführung der Verträge ergeben. Widersprechen sich schriftliche Vereinbarungen und tatsächliche Durchführung des Vertrags, ist die praktische Durchführung maßgebend (ständige Rechtsprechung des BAG, vgl zuletzt BAG Beschluß vom 10. September 1985 – 1 ABR 28/83 – AP Nr 3 zu § 117 BetrVG 1972 betreffend die Abgrenzung einer Arbeitnehmerüberlassung vom Einsatz im Rahmen eines Dienstoder Werksvertrags; BAGE 41, 247 = AP Nr 42 zu § 611 BGB Abhängigkeit betreffend die Abgrenzung eines freien Mitarbeiters von einem Arbeitnehmer).
- Diese Grundsätze gelten auch für die Prüfung, ob ein Heimarbeitsverhältnis vorliegt. Heimarbeiter und Hausgewerbetreibende sind wirtschaftlich vom Unternehmer abhängig. Sie bedürfen wegen dieser Abhängigkeit eines besonderen Schutzes. Zu prüfen ist, ob die Mitarbeiter von einem Unternehmer in einer Weise wirtschaftlich abhängig waren, die für das Vorliegen eines Heimarbeitsverhältnisses (in der Form eines Hausgewerbetreibenden) spricht.
Normenkette
HAG § 2 Abs. 2, §§ 19, 25; BGB §§ 117, 181, 611
Verfahrensgang
Hessisches LAG (Urteil vom 10.03.1988; Aktenzeichen 3 Sa 360/87) |
ArbG Kassel (Urteil vom 03.02.1987; Aktenzeichen 4 Ca 428/86) |
Tenor
- Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Frankfurt (Main) vom 10. März 1988 – 3 Sa 360/87 – aufgehoben.
- Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen !
Tatbestand
Das Land Hessen verlangt von dem Beklagten für sieben Näherinnen Vergütungszuschläge für Arbeiten als Hausgewerbetreibende im Sinne des Heimarbeitsgesetzes (HAG).
Der Beklagte betreibt ein Einzelhandelsgeschäft für Stoffe und Zubehör. Kunden, die Gardinenstoffe kaufen und sich die Gardinen nähen lassen wollen, weist er darauf hin, daß er Näherinnen an der Hand habe. Die Preise für die Näharbeiten sind in einer Liste aufgeführt, die im Geschäft des Beklagten aushängt. Geht ein Kunde hierauf ein, so stellt der Beklagte fest, welche der Näherinnen die Arbeit ausführen kann. Der Kunde unterzeichnet dann ein Formular, das als “Nähauftrag” an die betreffende Näherin bezeichnet ist und die erforderlichen Rubriken für die näheren Modalitäten (Maße, Art der Arbeit, Material, Liefertermin u.a.) enthält. Der Kunde gibt seine Anschrift und seine Telefonnummer an und unterzeichnet in der Rubrik “Auftragsbestätigung”. Eine weitere Rubrik ist für die “ordnungsgemäße Erledigung der Arbeit” vorgesehen. Die Näherin führt die Arbeit in der eigenen Wohnung aus. Sie quittiert später den Nählonn, den der Beklagte ohne Abzug an sie weiterleitet.
Das Auftragsformular enthält folgende Klausel:
“Die Warenverkäufer-Firma ist nur Auftragsvermittlerin. Sie wird hiermit beauftragt, die zu nähende Ware im Namen und für Rechnung des Auftraggebers (Kunde) unter Ausschluß jeder Gewährleistung an eine (o. gen.) Näherin zur Bearbeitung zu übergeben. Die Vermittlerin ist von den Beschränkungen des § 181 BGB befreit. Berechtigte Reklamationen werden von der Auftragnehmerin nachgebessert. Über Ansprüche auf Wandlung oder Minderung wird erforderlichenfalls nach dem Gutachten eines öffentlich bestellten Sachverständigen entschieden.”
Das klagende Land verlangt vom Beklagten für die im Klageantrag genannten Näherinnen Zahlung von Zuschlägen für Heimarbeit, Krankengeld, Feiertagsgeld und Urlaubsentgelt. Es hat geltend gemacht, die Näherinnen seien Hausgewerbetreibende im Sinne des Heimarbeitsgesetzes. Der Beklagte selbst sei es, der die Aufträge an die Näherinnen vergebe. Die anders lautende Klausel in dem Auftragsformular ändere daran nichts. Der Beklagte verwerte auch die Arbeitsergebnisse der Näherinnen; nur durch die Zwischenschaltung der Näherinnen könne er fertige Gardinen verkaufen.
Das klagende Land hat beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, an die von ihm beschäftigten Heimarbeiterinnen (Hausgewerbetreibenden nach § 2 Abs. 2 HAG)
a) |
Gertrud L |
DM 4.242,02 |
b) |
Regina W |
DM 4.732,96 |
c) |
Gudrun K |
DM 3.491,71 |
d) |
Elfriede S |
DM 6.443,99 |
e) |
Anni M |
DM 16.435,06 |
f) |
Heidemarie Kr |
DM 12.709,25 |
g) |
Margarethe P |
DM 1.988,15 |
Insgesamt |
DM 50.043,14 |
über die Staatskasse Frankfurt am Main, zuzüglich 4 % Verzugszinsen seit Klageerhebung zu zahlen.
Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Er hat unter Hinweis auf die Klausel in dem Auftragsformular die Auffassung vertreten, nicht er, sondern der jeweilige Kunde sei Auftraggeber der Näherinnen. Er leiste seinen Kunden mit der Vermittlung des Nähauftrags und dessen Abwicklung nur einen zusätzlichen Service. Die Näherinnen arbeiteten als freie Handwerkerinnen, und zwar nicht nur für ihn und seine Kunden, sondern auch für andere Auftraggeber. Es sei ihnen unbenommen, Aufträge abzulehnen. Dies geschehe auch, ohne daß ihnen dadurch weitere Nachteile entstünden. Die in seinem Laden aushängenden Preise seien lediglich Richtpreise; er habe diese Preise weder einseitig festgesetzt noch seien die Näherinnen gehindert, je nach Besonderheit oder Schwierigkeit der Arbeit davon abzuweichen.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen, das Landesarbeitsgericht hat ihr stattgegeben. Dagegen richtet sich die Revision des Beklagten.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz. Es bedarf noch näherer Feststellungen dazu, ob die Näherinnen zu dem Beklagten in einem unmittelbaren Rechtsverhältnis standen, auf das die Merkmale von Hausgewerbetreibenden im Sinne des § 2 Abs. 2 HAG zutreffen.
I. Die Begründung, mit der das Landesarbeitsgericht der Klage stattgegeben hat, überzeugt nicht.
1. Die Entscheidung hängt davon ab, ob die Näherinnen Hausgewerbetreibende im Sinne von § 2 Abs. 2 HAG waren. Hausgewerbetreibende waren sie nur, wenn sie “im Auftrag” von Gewerbetreibenden oder Zwischenmeistern tätig geworden sind. Waren die Näherinnen Hausgewerbetreibende, kann das klagende Land die im einzelnen unstreitigen Beträge in gesetzlicher Prozeßstandschaft (§ 25 HAG) fordern. Die einzelnen Entgeltzuschläge sind zu entrichten nach § 8 Abs. 1 Nr. 1 LFZG (Krankengeldzuschlag), § 2 des Gesetzes zur Regelung der Lohnzahlung an Feiertagen, § 19 HAG in Verbindung mit der bindenden Festsetzung für das Nähen von Gardinen und Vorhängen in Heimarbeit vom 28. März/7. Juni 1979 (Bundesanzeiger Nr. 140 vom 31. Juli 1979) und gemäß § 19 HAG in Verbindung mit der bindenden Festsetzung über Urlaub, Urlaubsgeld und Jahressonderzahlung für die in der Herstellung von Gardinen und Vorhängen in Heimarbeit Beschäftigten vom 6. November 1980/ 20. Januar 1981 (Bundesanzeiger Nr. 56 vom 21. März 1981).
2. Das Berufungsgericht hat angenommen, der Beklagte habe die Näherinnen mit Aufträgen versorgt. Den Einwand des Beklagten, er habe lediglich als Vertreter der Kunden, den jeweiligen Käufern von Stoffen, Nähaufträge weitergegeben, hat es als Scheingeschäft im Sinne von § 117 BGB zurückgewiesen. Die im Nähauftrag vereinbarte Befreiung von dem Verbot des Selbstkontrahierens nach § 181 BGB sei unklar; für ein Insichgeschäft sei kein Raum. Der Kunde wolle fertige Gardinen genäht und aufgehängt haben.
Diese Begründung überzeugt nicht. Nach § 117 Abs. 1 BGB ist eine Willenserklärung, die gegenüber einem anderen abzugeben ist, nichtig, wenn sie mit dessen Einverständnis nur zum Schein abgegeben wird. Wird durch ein solches Scheingeschäft ein anderes Rechtsgeschäft verdeckt, so finden nach § 117 Abs. 2 BGB die für das verdeckte Geschäft geltenden Vorschriften Anwendung.
Im Streitfall kommt es darauf an, ob der Beklagte gegenüber den Näherinnen nur zum Schein als Vertreter seiner Kunden aufgetreten ist, in Wahrheit also seine Vertreterstellung nicht gewollt war. Der Beklagte müßte dann im Einverständnis mit den Näherinnen unmittelbarer Auftraggeber der Nähaufträge gewesen sein. Zwar ist es denkbar, daß zwischen den Näherinnen und dem Beklagten Einvernehmen darüber bestand, daß in Wahrheit der Beklagte Auftraggeber sein solle. Für eine solche Annahme lassen sich aber den Behauptungen der Parteien und den Feststellungen der Vorinstanz keine hinreichenden Anhaltspunkte entnehmen. Daß entgegen dem Vertragstext zwischen dem Beklagten und den Näherinnen Einigkeit darüber bestand, der Beklagte selbst sei Auftraggeber, ist ohne weitere Anhaltspunkte nicht zu erkennen. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts spricht die Befreiung des Beklagten vom Verbot, für beide Seiten als Vertreter tätig werden zu dürfen (§ 181 BGB), nicht für die Annahme eines Scheingeschäfts. Diese Klausel spricht eher dafür, der Beklagte sei, jedenfalls in der Regel, als Vertreter der Kunden und der Näherinnen aufgetreten.
II. Eine eigene abschließende Entscheidung ist dem Senat mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen nicht möglich. Ansprüche der Näherinnen kommen unter einem anderen rechtlichen Gesichtspunkt in Betracht.
1. Abgesehen von der durch die Vermittlungsklausel ausgeschlossenen vertraglichen Bindung waren die Näherinnen Hausgewerbetreibende und erfüllten die Merkmale des § 2 Abs. 2 HAG. Sie arbeiteten in der eigenen Wohnung oder Betriebsstätte, sie beschäftigten nicht mehr als zwei Hilfskräfte und arbeiteten selbst wesentlich am Stück mit. Sie überließen auch die Verwertung ihrer Arbeitsergebnisse einem Gewerbetreibenden. Der Beklagte bietet die Näharbeiten beim Verkauf von Gardinenstoffen an.
2. Fraglich bleibt nur, ob die Näherinnen “im Auftrag von Gewerbetreibenden oder Zwischenmeistern” gearbeitet haben oder ob sie im Auftrag der Kunden tätig waren. Dies ist eine Frage nach dem Inhalt der zwischen den Näherinnen und dem Beklagten getroffenen Vereinbarungen.
Nach den schriftlichen Vereinbarungen sollte der Beklagte nur als Vertreter der Näherinnen tätig werden. Er sollte in ihrem Namen Vertragsverhandlungen führen und Aufträge für Näharbeiten entgegennehmen. Nach den schriftlichen Vereinbarungen wäre ein unmittelbares Rechtsverhältnis zwischen dem Beklagten und den Näherinnen ausgeschlossen.
Der Wortlaut allein kann jedoch nicht maßgebend sein. Über die rechtliche Einordnung eines Rechtsverhältnisses entscheidet der Geschäftsinhalt und nicht die von den Parteien gewünschte Rechtsfolge oder eine Bezeichnung, die tatsächlich dem Geschäftsinhalt nicht entspricht. Nur aus dem Geschäftsinhalt ergibt sich der jeweilige Vertragstyp (BAGE 30, 163, 172 = AP Nr. 26 zu § 611 BGB Abhängigkeit, zu B II 4 der Gründe; BAGE 41, 247, 258 = AP Nr. 42 zu § 611 BGB Abhängigkeit, zu B II 3 der Gründe, betreffend die Abgrenzung des freien Mitarbeiters von einem Arbeitnehmer; BAGE 43, 102, 105 = AP Nr. 5 zu § 10 AÜG, zu I 1b der Gründe; BAG Beschluß vom 10. September 1985 – 1 ABR 28/83 – AP Nr. 3 zu § 117 BetrVG 1972, zu B IV 2c der Gründe, betreffend die Arbeitnehmerüberlassung von einem Einsatz im Rahmen eines Dienst- oder Werkvertrags).
Der Geschäftsinhalt kann sich sowohl aus den Vereinbarungen der beteiligten Parteien als auch aus der praktischen Durchführung der Verträge ergeben. Widersprechen sich schriftliche Vereinbarung und tatsächliche Durchführung des Vertrags, ist die letztere maßgebend. Aus der praktischen Durchführung des Vertrags lassen sich nämlich am ehesten Rückschlüsse darauf ziehen, von welchen Rechten und Pflichten die Parteien ausgegangen sind (BAG, aaO).
Auch für die Beurteilung des Rechtsverhältnisses zwischen den Näherinnen und dem Beklagten kann der Senat an diese Rechtsprechung anknüpfen. Der Beklagte und die Näherinnen können die Schutzvorschriften des Heimarbeitsgesetzes nicht dadurch unterlaufen, daß einer der Beteiligten oder beide Beteiligte die Rechtsfolgen ausschließen, obwohl es sich tatsächlich um ein Heimarbeitsverhältnis handelt.
Für die Beurteilung dieses Rechtsverhältnisses ist auch nicht entscheidend, ob und welche rechtlichen Beziehungen zwischen den Näherinnen und den Kunden bestehen. Das Innenverhältnis zwischen den Näherinnen und dem Inhaber der Beklagten kann eine Dauerrechtsbeziehung in Form eines Heimarbeitsverhältnisses sein, neben dem einzelne Werkverträge mit Kunden bestehen können.
3. Heimarbeiter und Hausgewerbetreibende sind wirtschaftlich vom Unternehmer abhängig. Sie bedürfen wegen dieser Abhängigkeit eines besonderen Schutzes. Deshalb enthält das Heimarbeitsgesetz Vorschriften über den Arbeitsschutz, den allgemeinen Gefahrenschutz, den Entgelt- und Kündigungsschutz. In einzelnen Bestimmungen werden sie den Arbeitnehmern gleichgestellt (vgl. Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 6. Aufl., § 10 II).
Das Berufungsgericht wird deshalb zu prüfen haben, ob die Näherinnen in einer Weise vom Beklagten wirtschaftlich abhängig waren, die für das Vorliegen eines Heimarbeitsverhältnisses (in der Form eines Hausgewerbetreibenden) spricht. Dabei wird es vor allem auf das Ausmaß der wirtschaftlichen Abhängigkeit ankommen. Diese hängt wesentlich davon ab, wie die Aufträge vergeben werden.
Es wird zu klären sein, welche Bewandtnis es mit der Preisgestaltung hat. Preisvorgaben des Beklagten sprechen für eine wirtschaftliche Abhängigkeit der Näherinnen. Das klagende Land hat eine solche Abhängigkeit behauptet. Der Beklagte hat jedoch bestritten, durch einseitige Vorgaben die Arbeitslöhne in Gestalt der bei ihm ausgelegten Preisliste bestimmt zu haben. Es handele sich nur um Preisrichtlinien, die mit den Näherinnen abgestimmt worden seien.
Weiter wird von Bedeutung sein, ob die Näherinnen damit rechnen mußten, künftig Aufträge zu verlieren, wenn sie es ablehnten, einen Auftrag des Beklagten anzunehmen oder zu den vorgegebenen Preisen auszuführen. Bestand die vom Beklagten behauptete Freiheit der Näherinnen, Aufträge und vorgegebene Preise abzulehnen, nur auf dem Papier, dann wäre dies ein starkes Indiz für eine abhängige Lohnarbeit. Auch insoweit kommt es darauf an, ob die Näherinnen als selbständige Unternehmer tatsächlich Einfluß auf den Arbeitsumfang sowie auf die Preisentwicklung hatten und im Laufe der Zeit auch behielten.
Schließlich wird auch zu fragen sein, in welchem Umfange die Näherinnen insgesamt und anteilig für den Beklagten arbeiteten. Die Parteien haben hierzu widersprechende Behauptungen vorgetragen. Das klagende Land hat bestritten, daß die Näherinnen auch für andere Auftraggeber und Gewerbetreibende in nennenswertem Umfang tätig waren und daß sie ihren “eigenen Markt” hätten.
Weitere Hinweise kann der Senat nach dem bisherigen Parteivortrag nicht geben. Das Berufungsgericht wird insgesamt abwägen müssen: Je mehr Umstände für eine tatsächliche Abhängigkeit der Näherinnen sprechen, um so eher ist die Annahme eines tatsächlich praktizierten Heimarbeitsverhältnisses gerechtfertigt.
Unterschriften
Dr. Heither, Schaub, Griebeling, Halberstaddt, Dr. Schwarze
Fundstellen