Entscheidungsstichwort (Thema)
Urlaubsanspruch und Rechtsmißbrauch
Leitsatz (redaktionell)
1. Gewährt ein Arbeitgeber einem Arbeitnehmer vor Ablauf des Urlaubsjahres bzw des Übertragungszeitraums den Urlaub nicht, obwohl ihm dies möglich ist, tritt nach Zeitablauf an dessen Stelle als Schadensersatzanspruch ein Urlaubsanspruch in gleicher Höhe.
2. Für die Annahme, ein Anspruch sei wegen Rechtsmißbrauch ausgeschlossen, bedarf es der Feststellung der hierfür maßgeblichen rechtlichen Merkmale sowie der Tatsachen, aus denen auf das Vorliegen des Rechtsmißbrauchs geschlossen wird.
Orientierungssatz
Auslegung des Manteltarifvertrages für die Arbeiter, Angestellten und Auszubildenden in der Eisen-, Metall-, Elektro- und Zentralheizungsindustrie Nordrhein-Westfalen vom 30.4.1980.
Normenkette
TVG § 1; BUrlG §§ 3-4, 7-9; BGB § 242; BUrlG §§ 1, 13; IAOÜbk Art. 5 Abs. 4; IAOÜbk 132 Art. 5 Abs. 4
Verfahrensgang
LAG Düsseldorf (Entscheidung vom 26.01.1984; Aktenzeichen 2 Sa 1795/83) |
ArbG Essen (Entscheidung vom 08.09.1983; Aktenzeichen 2 Ca 2268/83) |
Tatbestand
Der Kläger ist seit dem Jahre 1952 bei der Beklagten als Stahlbauschlosser beschäftigt. Er war in der Zeit vom 6. Januar bis 9. November 1982 arbeitsunfähig und führte im Anschluß daran bis einschließlich 21. Dezember 1982 eine Kur mit anschließender Schonzeit durch. Ab 22. Dezember 1982 trat der Kläger seinen Urlaub an. Die Beklagte gewährte dem Kläger für das Kalenderjahr 1982 15 Urlaubstage, lehnte aber die Bewilligung der vom Kläger schriftlich am 15. Februar 1983 geltend gemachten weiteren 15 Tage Resturlaub ab.
Auf das fortbestehende Arbeitsverhältnis ist kraft beiderseitiger Tarifbindung der Manteltarifvertrag für die Arbeiter, Angestellten und Auszubildenden in der Eisen-, Metall-, Elektro- und Zentralheizungsindustrie Nordrhein-Westfalens vom 30. April 1980 (MTV) anzuwenden. Nach § 11 Nr. 1 MTV stehen dem Kläger für das Jahr 1982 insgesamt 30 Arbeitstage Urlaub zu.
§ 10 Nr. 8 MTV lautet:
"Der Urlaubsanspruch erlischt drei Monate nach Ablauf
des Kalenderjahres, es sei denn, daß er erfolglos
geltend gemacht wurde oder daß Urlaub aus betrieb-
lichen Gründen oder wegen Krankheit nicht genommen
werden konnte."
Der Kläger hat beantragt, die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger 15 Tage Urlaub als Resturlaub aus dem Jahre 1982 zu gewähren. Die Beklagte hat Klagabweisung beantragt.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben; auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht das Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert und die Klage abgewiesen. Mit der zugelassenen Revision begehrt der Kläger die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils, die Beklagte bittet um Zurückweisung der Revision.
Entscheidungsgründe
Die Revision hat in der Sache Erfolg. Dem Kläger steht der ihm im Jahre 1982 nicht gewährte Urlaub zu. Der Geltendmachung des Resturlaubsanspruchs des Klägers steht der Einwand des Rechtsmißbrauchs nicht entgegen.
1. Das Landesarbeitsgericht hält an der vom Sechsten Senat des Bundesarbeitsgerichts mit Urteil vom 28. Januar 1982 (BAG 37, 382) aufgegebenen Urlaubsrechtsprechung des früher zuständigen Fünften Senats fest. Es führt aus, daß sich der Einwand des Rechtsmißbrauchs nicht gegen die Entstehung des Urlaubsanspruchs, sondern gegen dessen Durchsetzung wende. Unter weitgehender Anlehnung an die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 24. Juni 1983 (- 9 Sa 741/83 - DB 1984, 251), die vom erkennenden Senat mit Urteil vom 8. März 1984 (BAG 45, 199) aufgehoben worden ist, hebt das Landesarbeitsgericht hervor, daß der Zweck des gesetzlich verankerten Urlaubsanspruchs darin liege, dem Arbeitnehmer mindestens die Möglichkeit einer Erholung von geleisteter Arbeit zur Stabilisierung seines Gesundheitszustandes zu gewährleisten (arg. §§ 8, 9 BUrlG). Der Urlaub sei deshalb im weiteren Sinne Gegenleistung des Arbeitgebers für vom Arbeitnehmer erbrachte oder jedenfalls zu erbringende Leistung. Nicht zuletzt habe diese Erkenntnis auch zur Streichung des § 7 Abs. 4 Satz 2 BUrlG a.F. im Rahmen der Anpassung an das Übereinkommen Nr. 132 der Internationalen Arbeitsorganisation geführt. Bei nur zwei Tagen Arbeitsleistung im Jahre 1982 sei das Verlangen des Klägers nach 15 Tagen Resturlaub rechtsmißbräuchlich, zumal er bereits 15 Urlaubstage von der Beklagten für das Urlaubsjahr erhalten habe.
2. Dieser Auffassung des Landesarbeitsgerichts kann nicht gefolgt werden.
Der erkennende Senat hat in seinem Urteil vom 8. März 1984 (aaO) unter Bestätigung seiner Entscheidung vom 28. Januar 1982 (aaO) dargelegt, daß der Urlaubsanspruch nach dem Bundesurlaubsgesetz nicht an Arbeitsleistungen des Arbeitnehmers gebunden ist. Damit ist ein solcher Anspruch auch nicht wegen Rechtsmißbrauchs ausgeschlossen, wenn ein Arbeitnehmer im Urlaubsjahr oder im Übertragungszeitraum wegen Krankheit nicht gearbeitet hat.
Die Revision greift zu Recht die Erwägungen des Landesarbeitsgerichts an, die mit der Rechtsprechung des erkennenden Senats nicht übereinstimmen. Der aufgrund des Bundesurlaubsgesetzes zu gewährende Urlaub ist keine Gegenleistung des Arbeitgebers für erbrachte oder noch zu erbringende Arbeitsleistungen, sondern eine gesetzliche Verpflichtung des Arbeitgebers aus dem Arbeitsverhältnis, den Arbeitnehmer von dessen Verpflichtung zur Arbeitsleistung für die Dauer des Urlaubs freizustellen. Das Bundesurlaubsgesetz enthält keine Verknüpfung zwischen geleisteter Arbeit und Urlaubsbegehren und setzt keine arbeitsbedingte Erholungsbedürftigkeit oder ein Verdienenmüssen des Urlaubsanspruchs voraus. Der gesetzliche Urlaubsanspruch ist allein an die Voraussetzungen der §§ 1, 4 BUrlG gebunden. § 8 BUrlG untersagt dem Arbeitnehmer, während des Urlaubs dem Urlaubszweck widersprechende Erwerbstätigkeit zu leisten, bestimmt dagegen nicht, daß ein Arbeitnehmer vor Erfüllung des Urlaubsanspruchs aufgrund des Arbeitsverhältnisses Arbeitsleistungen erbracht haben muß. Aus den Darlegungen des Landesarbeitsgerichts zu § 9 BUrlG läßt sich nicht herleiten, daß es der Funktion des Bundesurlaubsgesetzes widerspreche, den Urlaubsanspruch unabhängig von einer erbrachten Arbeitsleistung des Arbeitnehmers zu gewähren. Stünde der Urlaubsanspruch in einem Gegenseitigkeitsverhältnis zur Arbeitsleistung, müßte § 9 BUrlG - etwa wie § 8 d Satz 1 MuSchG - eine Kürzungsmöglichkeit für den Arbeitgeber enthalten. Die Ableitungsversuche des Landesarbeitsgerichts aus den Regelungen in §§ 8, 9 BUrlG können daher das von ihm erstrebte Ergebnis nicht rechtfertigen.
Die Ausführungen des Landesarbeitsgerichts stehen im übrigen mit Art. 5 Abs. 4 des Übereinkommens Nr. 132 der Internationalen Arbeitsorganisation über den bezahlten Jahresurlaub (Neufassung vom Jahre 1970: BGBl. II 1975, 746, 748) nicht im Einklang. Auch darauf hat der Senat bereits hingewiesen (Urteil vom 7. März 1985 - 6 AZR 334/82 - zur Veröffentlichung bestimmt). Damit ist auch der Hinweis des Landesarbeitsgerichts auf die im Jahre 1974 gestrichene Regelung nach § 7 Abs. 4 Satz 2 BUrlG gegenstandslos. Diese Bestimmung, der möglicherweise eine Regelung zum Rechtsmißbrauch hätte entnommen werden können, ist als dem Übereinkommen Nr. 132 der Internationalen Arbeitsorganisation entgegenstehend durch das Gesetz vom 29. Oktober 1974 (BGBl. I, 2879, 2885) aufgehoben worden. Damit ist im Gegensatz zur Auffassung des Landesarbeitsgerichts der Schluß naheliegend, daß nach der Streichung dieser Vorschrift für Rechtsmißbrauchserwägungen auch im übrigen nur sehr eingeschränkte Anwendungsmöglichkeiten bleiben, die jeweils eingehender Begründung bedürfen. Das Landesarbeitsgericht verkennt, daß der Hinweis, in früheren Urteilen des Bundesarbeitsgerichts sei der Ausschluß von Urlaubsansprüchen mit Rechtsmißbrauchserwägungen gerechtfertigt worden, die Begründung für die Annahme des Rechtsmißbrauchs im zu entscheidenden Rechtsstreit nicht ersetzen kann. Es ist Aufgabe eines Tatsachengerichts, hierfür die nach seiner Auffassung maßgeblichen Merkmale zu nennen und die hierfür erforderlichen Tatsachen festzustellen. Beides ist in der Entscheidung des Landesarbeitsgerichts zu vermissen.
Als Begründung für den Einwand des Rechtsmißbrauchs läßt sich entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts nicht zwischen Entstehen und Bestand sowie der Durchsetzung des Urlaubsanspruchs trennen. Ein Anspruch, der in seiner Entstehung nicht von geleisteter Arbeit abhängig ist, kann auch nicht in seiner Durchsetzung mangels geleisteter Arbeit als rechtsmißbräuchlich ausgeschlossen werden. Der erkennende Senat hat wiederholt dargelegt, daß der Urlaubsanspruch nicht an vorherige Arbeitsleistungen des Arbeitnehmers geknüpft, sondern als unentziehbare gesetzlich bedingte soziale Mindestleistung des Arbeitgebers zur Erhaltung und Wiederauffrischung der Arbeitskraft des bei ihm beschäftigten Arbeitnehmers aufzufassen ist. Inhalt des Urlaubs ist damit die gesetzlich gesicherte Möglichkeit für einen Arbeitnehmer, anstelle der an sich geschuldeten Arbeitsleistung die ihm kraft des Urlaubsanspruchs zustehende Freizeit selbstbestimmt zur Erholung zu nutzen. Entfällt die Bindung an die für den Ausschluß des Rechtsmißbrauchs geforderte vorherige Arbeitsleistung, kann das Urlaubsverlangen eines Arbeitnehmers, der an der Erbringung seiner Arbeitsleistung infolge Krankheit gehindert war, auch nicht als Anspruchsausübung außerhalb des Urlaubszwecks unzulässig sein, sondern ist durch die soziale Schutzfunktion gedeckt, die das Bundesurlaubsgesetz für den gesetzlichen Mindesturlaub gewährleistet (vgl. im einzelnen erkennender Senat vom 8. März 1984, BAG 45, 184, 189 ff.).
3. Der tariflich geregelte Urlaubsanspruch des Klägers weist in seinen rechtlichen Voraussetzungen für den vorliegenden Sachverhalt keine Besonderheiten gegenüber dem gesetzlichen Urlaubsanspruch auf (vgl. § 10 Nr. 2 Satz 2 i.V.m. § 9 Nr. 1 und 2 Abs. 1 MTV). Der Kläger hat seinen Urlaubsanspruch auch rechtzeitig i.S. des § 10 Nr. 8 MTV geltend gemacht, nämlich vor dem 31. März 1983. Da der Kläger diesen Anspruch weder außerhalb des sozialen Schutzzwecks der anspruchsbegründenden tarifvertraglichen Normen verlangt noch die Beklagte Tatsachen geltend gemacht hat, aus denen etwa ein ihm vorwerfbares Verhalten ("individueller Rechtsmißbrauch") ableitbar wäre, stehen dem Kläger 15 Tage Urlaub für das Jahr 1982 zu.
Die von der Beklagten angezogene tarifliche Regelung in § 10 Nr. 3 Abs. 1 Satz 1 MTV, die bestimmt, daß dem Arbeitnehmer im Ein- und Austrittsjahr nur soviele Zwölftel des Jahresurlaubs zustehen, wie er volle Monate bei dem Arbeitgeber gearbeitet hat, ist hier nicht einschlägig, da der Urlaub nicht für das Austrittsjahr begehrt wird, das Arbeitsverhältnis der Parteien vielmehr fortbesteht. Andere tarifliche Kürzungsregelungen treffen auf Sachverhalte zu, deren Voraussetzungen hier nicht vorliegen.
4. Der Kläger hat seinen Resturlaubsanspruch rechtzeitig vor Ablauf des in § 10 Nr. 8 MTV genannten Zeitraums gegenüber der Beklagten geltend gemacht. Bedenken gegen die Erfüllbarkeit des dem Kläger zustehenden Resturlaubs bestehen nicht. Damit ist der Urlaubsanspruch auf das Jahr 1983 übergegangen. Mit Ablauf der in § 10 Nr. 8 MTV genannten Zeit, also am 31. März 1984 ist der Urlaubsanspruch erloschen. Auch für den übergegangenen Urlaubsanspruch ist § 10 Nr. 8 MTV anzuwenden. Urlaubsanspruch i.S. von § 10 Nr. 8 MTV ist nicht nur der jeweils neueste Anspruch, sondern auch entsprechend der in § 10 Nr. 8 MTV genannten Voraussetzungen der aus dem Vorjahr übergegangene Anspruch. Mangels weiterer Feststellungen des Landesarbeitsgerichts über anschließende weitere Übergangsmöglichkeiten i.S. von § 10 Nr. 8 MTV muß damit davon ausgegangen werden, daß am 31. März 1984 dieser Urlaubsanspruch erloschen ist.
5. Dennoch steht dem Kläger der von ihm begehrte Urlaub als Ersatzanspruch zu. Mit der erfolglosen Geltendmachung hat er die Beklagte als Schuldnerin des Urlaubsanspruchs in Verzug gesetzt. Die Urlaubsgewährung war der Beklagten jedenfalls im Zeitpunkt der Geltendmachung des Anspruchs möglich. Daran ändert nichts, daß sie aus Rechtsgründen der Auffassung war, ihn nicht gewähren zu müssen. Der Kläger hat den Urlaubsanspruch am 15. Februar 1983 geltend gemacht, also rechtzeitig, um ihn vor dem 31. März 1983 zu verwirklichen. Infolge der Übertragung auf das Jahr 1983 ist der Urlaubsanspruch am 31. März 1984 erloschen. Für diese infolge Zeitablaufs eingetretene Unmöglichkeit hat die Beklagte einzustehen (vgl. § 286 Abs. 1, § 280 Abs. 1, § 287 Satz 2 BGB), so daß an die Stelle des ursprünglichen Urlaubsanspruchs als Schadenersatzanspruch ein Urlaubsanspruch (Ersatzurlaubsanspruch) in gleicher Höhe getreten ist. Dieser Ersatzurlaubsanspruch entspricht seinem Umfang nach dem vom Kläger geltend gemachten Urlaubsanspruch (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 5. September 1985 - 6 AZR 86/82 - zur Veröffentlichung vorgesehen).
Dr. Auffarth Dr. Jobs Dr. Leinemann
Dr. Martin Carl
Fundstellen
Haufe-Index 440643 |
BAGE 50, 124-130 (LT1-2) |
BAGE, 124 |
BB 1986, 735-736 (LT1-2) |
DB 1986, 973-973 (LT1-2) |
NJW 1987, 150 |
AuB 1986, 296-296 (T) |
ARST 1986, 109-109 (LT1-2) |
NZA 1986, 392-393 (LT1-2) |
RdA 1986, 268 |
AP § 3 BUrlG Rechtsmißbrauch (LT1-2), Nr 16 |
AR-Blattei, ES 1640 Nr 279 (LT1-2) |
AR-Blattei, Urlaub Entsch 279 (LT1-2) |
EzA § 7 BUrlG, Nr 43 (LT1-2) |
MDR 1986, 523-523 (LT1-2) |