Entscheidungsstichwort (Thema)
Beschäftigung Arbeitswilliger im Arbeitskampf (Stadt Frankfurt/Main)
Leitsatz (amtlich)
1. Entscheidet sich der Arbeitgeber dafür, einen bestreikten Betrieb (Betriebsteil) nicht stillzulegen, sondern soweit wie möglich aufrechtzuerhalten, so verlieren Arbeitswillige, die dennoch nicht beschäftigt werden, ihren Entgeltanspruch nur, wenn ihre Beschäftigung dem Arbeitgeber infolge des Streiks unmöglich oder unzumutbar wird.
2. Die Alternative einer Stillegung des Betriebes im Umfang des Streikaufrufs bedarf einer Erklärung des Arbeitgebers gegenüber den Arbeitnehmern. Sie hat die Suspendierung des betreffenden Arbeitsverhältnisses zur Folge.
3. An einer Stillegungserklärung fehlt es, solange sich der Arbeitgeber nicht festlegt, sondern die rechtliche Möglichkeit offenhält, die Arbeitsleistung jederzeit in Anspruch zu nehmen.
Normenkette
GG Art. 9 Arbeitskampf; BGB §§ 611, 615
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten und die Anschlußrevision des Klägers wird das Urteil des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 10. November 1994 – 12 Sa 1128/93 – aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über Ansprüche des Klägers auf Arbeitsentgelt für die Zeit eines Arbeitskampfes.
Der Kläger ist bei der beklagten Stadt als Kraftfahrzeugmechaniker im Amt für Abfallwirtschaft beschäftigt. Er ist im Werkstattbereich II der Müllverbrennungsanlage in Frankfurt-Heddernheim eingesetzt. Im Frühjahr 1992 fanden Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst statt. Als sich die Möglichkeit eines Arbeitskampfes abzeichnete, gab das Personal- und Organisationsamt der Beklagten allen Amtsleitern vorsorglich Hinweise über das Verhalten im Falle eines Streiks. Nach dem in dem Rundschreiben vom 14. April 1992 in Bezug genommenen Rundschreiben vom 25. Mai 1983 haben die betroffenen Amtsleiter das Personal- und Organisationsamt über den Kreis der Streikteilnehmer sowie der Arbeitswilligen, die infolge des Streiks an der Arbeitsleistung gehindert sind, unter Mitteilung der entsprechenden Personaldaten zu unterrichten.
Mit Anschreiben vom 21. April 1992 wandte sich die Beklagte an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, um diese „aus aktuellem Anlaß über Ihre Rechte und Pflichten im Falle eines Arbeitskampfes (zu) informieren”. In dem Schreiben heißt es u.a.:
1.1 …
(3) Wer sich an Arbeitskampfmaßnahmen nicht beteiligt, wird so lange wie möglich beschäftigt und erfährt insoweit keine Minderung seiner Bezüge. Arbeitswillige melden sich bitte bei der von ihrem Amt oder Betrieb genannten Stelle.
…
2.1 Arbeitsentgelt
(1) Für die Dauer der Beteiligung an einer Arbeitsniederlegung besteht kein Anspruch auf Arbeitsentgelt. Dies gilt auch für Arbeitswillige, die infolge der Arbeitskampfmaßnahme nicht oder nur teilweise beschäftigt werden können (auch z.B. wegen Beeinflussung oder Behinderung durch Streikposten oder Ausfall der Verkehrsmittel).
…
2.4 Behinderungen auf dem Weg zum Arbeitsplatz
(1) Wer infolge einer Arbeitskampfmaßnahme den Arbeitsplatz mit den sonst benutzten Verkehrsmitteln nicht rechtzeitig erreichen kann (z.B. wegen Ausfalls öffentlicher Verkehrsmittel), hat alle anderen Möglichkeiten zu nutzen, um so zeitnah wie möglich an den Arbeitsplatz zu gelangen. Es kann sinnvoll sein, Fahrgemeinschaften zu bilden. Ein Ersatz von zusätzlichen Fahrkosten kommt nicht in Betracht.
(2) Für ausgefallene Arbeitszeit steht Arbeitsentgelt nicht zu.
In der Zeit vom 27. April bis 7. Mai 1992 wurden verschiedene Ämter und Betriebe der Beklagten bestreikt, darunter auch der Werkstattbereich II in Heddernheim. Der Kläger erschien an den in die Zeit vom 29. April bis 4. Mai 1992 fallenden Arbeitstagen jeweils zu Beginn der für ihn vorgesehenen Arbeitszeit und trug sich in eine Liste ein, die von der Beklagten ausgelegt wurde. Diese hatte den Zweck der Erfassung aller „Mitarbeiter, die durch Streikmaßnahmen an der Aufnahme ihrer Tätigkeit gehindert wurden”. Während des gesamten Streiks bestand im Werkstattbereich II ein Notdienst, zu dem der Kläger nicht eingeteilt war. Er wurde vielmehr trotz seiner Arbeitsbereitschaft nur in der Zeit vom 5. bis 7. Mai 1992 beschäftigt, und zwar aufgrund einer Abrede zwischen der Werkstattleitung und der Streikleitung in einem Sondereinsatz. Ob es möglich und zumutbar gewesen wäre, den Betrieb in größerem Umfang aufrechtzuerhalten, ist streitig.
Die Beklagte hat die Zahlung der Vergütung für die Zeit vom 29. April bis 4. Mai 1992 verweigert. Der Kläger ist demgegenüber der Auffassung, sein Lohnanspruch ergebe sich schon aus einer Zusage des Amtsleiters M.. Dieser habe denjenigen Arbeitnehmern, die ihre tägliche Arbeitsbereitschaft durch Eintragung in die ausgelegte Liste meldeten, Lohn für den jeweiligen Tag versprochen, und zwar unabhängig davon, ob sie beschäftigt würden oder nicht. Im übrigen sei seine Beschäftigung durchaus möglich gewesen, da genügend Arbeit vorhanden gewesen wäre. Es hätten allein im Werkstattbereich 59 Fahrzeuge zur Reparatur angestanden. Der Arbeitsablauf sei auch nicht behindert gewesen, da genügend arbeitswillige Arbeitnehmer und auch Vorgesetzte bereitgestanden hätten. Der Zugang zur Werkstatt sei nicht durch Streikposten blockiert gewesen. Die Beklagte habe gegen ihre Beschäftigungspflicht verstoßen, indem sie den Werkstattbetrieb habe zum Erliegen kommen lassen.
Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 767,28 DM brutto nebst 4 % Zinsen aus dem Nettobetrag seit dem 15. Juni 1992 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Sie hat die Auffassung vertreten, nicht in Annahmeverzug gekommen zu sein. Eine Beschäftigung des Klägers sei streikbedingt unmöglich gewesen. Der Werkstattbetrieb sei zum Erliegen gekommen, weil die überwiegende Zahl der Mitarbeiter gestreikt habe. Ein Einsatz der arbeitswilligen Arbeitnehmer sei schon daran gescheitert, daß die Werkstattleitung nicht besetzt gewesen sei; ohne eine ordnungsgemäße Arbeitszuteilung und Auftragsvergabe sowie eine Beaufsichtigung habe der Kläger aber nicht tätig werden können. Im übrigen hätten während des Arbeitskampfes Streikposten allen Arbeitnehmern mit Ausnahme der zum Notdienst eingeteilten den Zutritt zum Betrieb verweigert. Dies habe der Kläger selbst durch Eintragung in die entsprechende Liste bestätigt. Weder der Amtsleiter noch eine sonst autorisierte Person hätten den Arbeitnehmern zugesagt, daß jeder, der sich in diese Liste eintrage, Vergütung für Ausfalltage erhalten werde. Die tägliche Meldung der Arbeitsbereitschaft sei vielmehr erforderlich gewesen, um die Möglichkeit zu schaffen, bei einer Änderung der Streik- und Beschäftigungslage reagieren und Arbeitswillige einsetzen zu können.
Das Arbeitsgericht hat der Klage in vollem Umfang stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat sie auf die Berufung der Beklagten teilweise abgewiesen. Es hat angenommen, dem Kläger stehe zwar kein Anspruch auf Arbeitsentgelt aus dem Gesichtspunkt des Annahmeverzuges zu. Er könne aber einen angemessenen Ersatz für die durch die tägliche Meldung entstandenen Aufwendungen verlangen. Als angemessen hat das Landesarbeitsgericht einen Betrag von 3 Stundenlöhnen für jede Meldung angesehen.
Gegen diese Entscheidung haben beide Parteien das zugelassene Rechtsmittel eingelegt. Die Beklagte begehrt mit ihrer Revision die vollständige Klageabweisung, der Kläger mit der unselbständigen Anschlußrevision die vollständige Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.
Entscheidungsgründe
Auf die Revision der Beklagten und die Anschlußrevision des Klägers ist das angefochtene Urteil aufzuheben. Die Annahme des Landesarbeitsgerichts, die beklagte Stadt habe das Arbeitsverhältnis wirksam suspendiert, hält der rechtlichen Überprüfung nicht stand. Damit ist auch der Verurteilung der Beklagten zur Zahlung einer angemessenen „Aufwandsentschädigung” die Grundlage entzogen. Die Sache ist an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen, da es weiterer Feststellungen bedarf.
I. Das Landesarbeitsgericht hat allerdings zu Recht eine verbindliche Zusage der Beklagten verneint, unabhängig von einer tatsächlichen Beschäftigung Vergütung an alle Arbeitnehmer zu zahlen, die sich in die von ihr ausgelegte Liste eintrugen. Die Behauptung des Klägers, dies habe der Amtsleiter M. den Arbeitnehmern zugesichert, hat das Landesarbeitsgericht als nicht erwiesen angesehen. Dagegen hat der Kläger mit seiner Anschlußrevision keine Verfahrensrügen erhoben (zur Erforderlichkeit vgl. nur Germelmann/Matthes/Prütting, ArbGG, 2. Aufl., § 75 Rz 18, 19).
Der Kläger will einen Anspruch auf Zahlung der vollen Vergütung aus einem Vertrauenstatbestand ableiten. M. habe die Mitarbeiter nicht hinreichend darüber aufgeklärt, daß trotz Eintragung in die Liste ein Anspruch auf Lohnzahlung nicht gesichert sei, die Ankündigung mit Schreiben der Beklagten vom 21. April 1992 nicht verwirklicht werden könne. Dem ist jedoch nicht zu folgen. Das Schreiben vom 21. April 1992 enthielt gerade keine Ankündigung, daß die Beklagte bei entsprechender Meldung in jedem Fall den Lohn weiterzahlen werde. Es heißt darin nur, daß Arbeitswillige „so lange wie möglich beschäftigt” werden und „insoweit” keine Minderung der Bezüge befürchten müßten. Mit diesem Schreiben wollte die Beklagte die Mitarbeiter „über Ihre Rechte und Pflichten aus dem Arbeitskampf” informieren. Es enthält allgemeine Hinweise auf die Rechtslage bei Arbeitskämpfen. Ihm kann keine Zusicherung entnommen werden, ohne Arbeitsleistung Lohn zu zahlen. Dagegen spricht auch, daß die Beklagte unter Nr. 2.1 dieses Schreibens ausdrücklich darauf hinweist, Arbeitnehmer, die infolge der Arbeitskampfmaßnahmen nicht oder nur teilweise beschäftigt werden könnten (auch z.B. wegen Beeinflussung oder Behinderung durch Streikposten oder Ausfall der Verkehrsmittel), hätten keinen Anspruch auf Arbeitsentgelt.
Auch die spätere Handhabung der Beklagten weicht nicht von der Ankündigung in ihrem Informationsschreiben ab. Sie hat sich lediglich darauf berufen, eine Beschäftigung sei ihr unmöglich gewesen. Es kann daher nicht der Vorwurf erhoben werden, M. habe seine Pflicht versäumt, die Arbeitnehmer auf eine Änderung der Lage hinzuweisen. Die Kläger können sich in diesem Zusammenhang nicht auf die Erklärung M. berufen, wer überhaupt Anspruch auf Lohn- oder Gehaltszahlung erheben wolle, müsse täglich seine Arbeitskraft anbieten und sich zu diesem Zwecke in die ausgelegten Listen eintragen. Diese Erklärung ist mit der Ankündigung in dem Schreiben vom 21. April 1992 vereinbar. Sie besagt nicht, daß allein die Eintragung in die Liste bereits Anspruch auf Vergütung begründen soll, unabhängig davon, ob eine Beschäftigung möglich ist oder nicht.
II. Dem Landesarbeitsgericht ist hingegen nicht zu folgen, soweit es angenommen hat, die Beklagte habe das Arbeitsverhältnis des Klägers suspendiert.
1. Das angefochtene Urteil ist allerdings zutreffend davon ausgegangen, daß der Arbeitgeber eines bestreikten Betriebes oder Betriebsteils nicht verpflichtet ist, diesen soweit als möglich aufrechtzuerhalten. Er kann ihn vielmehr für die Dauer und im Umfange des Streiks ganz stillegen mit der Folge, daß die beiderseitigen Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis suspendiert werden und auch arbeitswillige Arbeitnehmer ihren Lohnanspruch verlieren (Senatsurteil vom 22. März 1994 – 1 AZR 622/93 – AP Nr. 130 zu Art. 9 GG Arbeitskampf; bestätigt durch Senatsurteil vom 31. Januar 1995 – 1 AZR 142/94 – und Senatsurteil vom 27. Juni 1995 – 1 AZR 1016/94 –, beide zur Veröffentlichung vorgesehen).
Die zum Amt für Abfallwirtschaft und Stadtreinigung gehörenden Betriebe oder Betriebsteile der Beklagten wurden bestreikt. Darunter befand sich auch die Werkstatt, in der der Kläger beschäftigt ist. Diese lag vom 29. April bis zum 4. Mai 1992 still. Zwar war ein aus drei Mann bestehender Notdienst eingerichtet, darin lag aber keine (teilweise) Fortführung des normalen Betriebes. Der Notdienst bildet einen arbeitskampfrechtlichen Sondertatbestand. Er dient nicht dazu, Beschäftigungsmöglichkeiten für arbeitswillige Arbeitnehmer zu schaffen (Senatsurteil vom 31. Januar 1995 – 1 AZR 142/94 –, zur Veröffentlichung vorgesehen).
Ob – wie die Beklagte vorträgt – in der Werkstatt „gar nichts mehr lief”, oder ob bei einer entsprechenden Umorganisation der Betrieb teilweise aufrechtzuerhalten gewesen wäre, ist unerheblich für die Berechtigung des Arbeitgebers, den bestreikten Betrieb stillzulegen. Vielmehr muß diesem die Entscheidung überlassen bleiben, was in der besonderen Lage eines unmittelbar gegen ihn geführten Arbeitskämpfes und in dem jeweiligen Stadium des Streiks noch möglich und sinnvoll erscheint. Er kann versuchen, das Streikziel – nämlich die totale Stillegung des Betriebes oder Betriebsteils – abzuwehren. Das Arbeitskampfrecht kennt aber keine Pflicht zur aktiven Abwehr von Kampfmaßnahmen. Angesichts des kollektiven Charakters von Arbeitskämpfen ergibt sich aus dem Arbeitsverhältnis keine Verpflichtung, die arbeitswilligen Arbeitnehmer immer so lange zu beschäftigen, wie dies in den jeweiligen, oft rasch wechselnden Stadien des Streikgeschehens möglich ist und zumutbar erscheint. Der Arbeitgeber braucht seine Einschätzung der Lage nicht nachträglich zu begründen und zu rechtfertigen. Können sich alle Arbeitnehmer am Arbeitskampf beteiligen und profitieren sie auch von seinen Ergebnissen, so müssen sie auch die mit der möglichen Suspendierung ihrer Arbeitsverhältnisse verbundenen Nachteile tragen.
2. Die Beklagte wäre also berechtigt gewesen, das Arbeitsverhältnis des Klägers für die Dauer des Streiks zu suspendieren. Hierzu ist es aber nicht gekommen. Die Beklagte hat nämlich eine Suspendierung nicht hinreichend eindeutig erklärt.
a) Eine solche Erklärung ist erforderlich, wenn der Arbeitgeber sich dem gegen ihn geführten Streik beugen und den Betrieb im Umfang des Streikbeschlusses stillegen will (vgl. schon Senatsurteil vom 22. März 1994, aaO, zu II 3 c der Gründe; insoweit zustimmend auch Löwisch, Festschrift für Gitter, 1995, S. 533, 535). Die Einstellung der Beschäftigung allein ist nicht eindeutig. Die Erklärung muß sich an die betroffenen Arbeitnehmer richten, deren Arbeitsverhältnisse dadurch suspendiert werden, während eine Erklärung gegenüber der kämpfführenden Gewerkschaft weder erforderlich noch ausreichend ist. Das ergibt sich daraus, daß es sich nicht um eine Arbeitskampfmaßnahme handelt. Adressaten sind vielmehr die Arbeitnehmer, die Klarheit darüber benötigen, ob ihre Arbeitspflicht suspendiert ist oder nicht.
Die Erklärung des Arbeitgebers kann auch stillschweigend erfolgen. Das ist anzunehmen, wenn sein gesamtes Verhalten hinreichend deutlich macht, daß er sich dem Streik beugen und den Betrieb deshalb nicht weiterführen will. Daran fehlt es, wenn der Betrieb zwar zum Erliegen kommt, der Arbeitgeber aber den Eindruck erweckt, er wolle die Arbeitnehmer so bald und so weit wie möglich zur Arbeit heranziehen. In diesem Fall müssen sich die Arbeitnehmer zur Verfügung halten, solange sie sich nicht dem Streik anschließen, was einer Erklärung von ihrer Seite bedürfte. Deshalb darf der Arbeitgeber keine Unklarheit über seine Reaktion auf den Streik und damit über den aktuellen Stand der beiderseitigen Rechte und Pflichten entstehen lassen.
b) Eine diesen Grundsätzen gerecht werdende Suspendierungserklärung hat die Beklagte nicht abgegeben. Ihr Verhalten und ihre Erklärungen mußten aus der Sicht der betroffenen Arbeitnehmer vielmehr dahin verstanden werden, daß sie die „Taktik der offenen Tür” wählen wollte und alle Arbeitswilligen mit ihrer Beschäftigung rechnen konnten, soweit dies überhaupt möglich war.
Den ersten Anlaß für diesen Eindruck hatte die Beklagte schon mit ihrem Schreiben vom 21. April 1992 erweckt. Zwar hatte sie sich hier nicht verpflichtet, arbeitswilligen Arbeitnehmern auf jeden Fall die Vergütung zu zahlen. Sie hatte aber mitgeteilt, wer sich am Arbeitskampf nicht beteilige, werde „so lange wie möglich” beschäftigt und erfahre insoweit keine Minderung der Bezüge. Diese Mitteilung war verbunden mit dem ausdrücklichen Hinweis an Arbeitswillige, sich bei der von ihrem Amt oder Betrieb genannten Stelle zu melden (anders der dem Senatsurteil vom selben Tage – 1 AZR 63/95 – zugrunde liegende Sachverhalt, bei dem das vergleichbare Rundschreiben der dort beklagten Stadt einen entsprechenden Hinweis nicht enthielt, s. zu III 2 a der Gründe).
Dem entsprach die organisatorische Abwicklung der Meldungen während des Streiks. Die von der Beklagten verlangte tägliche Präsenz zum üblichen Arbeitsbeginn konnten und mußten arbeitswillige Arbeitnehmer vor dem Hintergrund des an sie gerichteten Schreibens dahin verstehen, daß es der Beklagten darum ging, die Arbeitsleistung jederzeit in Anspruch nehmen zu können, falls sich eine Beschäftigungsmöglichkeit bot. Das aber ist ein typisches Merkmal der „Taktik der offenen Tür” und unvereinbar mit einer Stillegungsentscheidung. Gegen eine solche spricht auch die Auskunft des Amtsleiters M., wer überhaupt Anspruch auf Lohn- und Gehaltszahlung erheben wolle, müsse dem Arbeitgeber täglich seine Arbeitskraft anbieten. Hierin lag zwar – wie dargelegt – keine verbindliche Zusage, präsenten Arbeitnehmern in jedem Fall den Lohn zu zahlen. Die Auskunft mußte aber die Arbeitnehmer in der Annahme bestärken, die Beklagte verfolge eine bestimmte Kampftaktik und wolle den Betrieb soweit als nur möglich aufrechterhalten; nur das sei der Grund, weshalb sie sich täglich am Arbeitsplatz bereitzuhalten hätten.
Insgesamt kann das Verhalten der Beklagten daher nicht als ausreichende Suspendierungserklärung gewertet werden. Mit der schriftlichen Vorankündigung und der Organisation der Meldungen an den Streiktagen hat die Beklagte den Eindruck erweckt, daß sie die Arbeitsverhältnisse nicht suspendieren wolle. An diesem Eindruck muß sie sich festhalten lassen.
III. Damit kann die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts keinen Bestand haben. Das Urteil ist insgesamt aufzuheben. Eine abschließende Entscheidung ist dem Senat nicht möglich. Die Sache ist vielmehr an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen, da weitere Feststellungen erforderlich sind.
1. Zu klären ist, ob an den Streiktagen die Beschäftigung des Klägers unmöglich oder unzumutbar war, wie die Beklagte behauptet hat. Dabei ist von den Grundsätzen des Arbeitskampfrisikos auszugehen. Beugt sich der Arbeitgeber dem Streik nicht, sind diese Grundsätze auch für unmittelbar streikbetroffene Betriebe oder Betriebsteile maßgebend (Senatsurteil vom 14. Dezember 1993 – 1 AZR 550/93 – AP Nr. 129 zu Art. 9 GG Arbeitskampf). War eine Beschäftigungsmöglichkeit in diesem Sinne nicht gegeben, entfällt die Beschäftigungs- und Vergütungspflicht der Beklagten. In diesem Fall besteht auch schon dem Grunde nach keine Verpflichtung zur Zahlung eines angemessenen „Aufwendungsersatzes” – unbeschadet weiterer Bedenken gegen den vom Landesarbeitsgericht eingeschlagenen Weg einer pauschalen Abgeltung. Das Risiko der Unmöglichkeit der Beschäftigung und damit auch das Risiko des vergeblichen tatsächlichen Angebotes der Arbeitsleistung ist Teil des Arbeitskampfrisikos, das die Arbeitnehmer zu tragen haben, nicht aber der (beschäftigungswillige) Arbeitgeber. Dieses Risiko hatte die Beklagte den Arbeitnehmern schon in ihrem Schreiben vom 21. April 1992 deutlich gemacht.
2. Die Unmöglichkeit der Beschäftigung kann sich aus den betrieblichen Gegebenheiten ableiten, etwa dem von der Beklagten behaupteten Fehlen einsatzbereiter Vorgesetzter, ohne die eine Arbeitsleistung nicht möglich oder nicht zu verantworten war. Sie könnte sich auch etwa daraus ableiten, daß – wie die Beklagte behauptet – der Zugang zum Betrieb durch Streikposten gesperrt war. Streikposten dürfen den Zugang zum Betrieb allerdings nicht im Sinne einer Blockade sperren, sondern nur versuchen, arbeitswillige Arbeitnehmer durch geeignete Mittel zu überzeugen, vom „Streikbruch” abzulassen (vgl. schon Senatsurteil vom 29. März 1957 – 1 AZR 547/55 – BAGE 4, 41 = AP Nr. 5 zu Art. 9 GG Arbeitskampf, m. Anm. von Schnorr von Carolsfeld; Senatsurteil vom 20. Dezember 1963 – 1 AZR 157/63 – BAGE 15, 211 = AP Nr. 34 zu Art. 9 GG Arbeitskampf, m. Anm. von Mayer-Maly; MünchArbR/Otto, § 280 Rz 3 ff.). Soweit sich die hier beteiligten Streikposten in diesem Rahmen gehalten haben, kann dies der Möglichkeit einer Arbeitsaufnahme nicht entgegengestanden haben. Sollte es allerdings weitergehend zu Blockademaßnahmen gekommen sein, könnte der Beklagten dennoch kein Vorwurf daraus gemacht werden, daß sie nicht im Interesse der arbeitswilligen Arbeitnehmer versucht hätte, gegen diese rechtswidrigen Maßnahmen vorzugehen und den Zugang zum Betrieb etwa durch gerichtliche oder sonstige Maßnahmen zu erzwingen (vgl. auch Senatsurteil vom selben Tage – 1 AZR 63/95 –, zu III 2 c der Gründe). Dies ist letztlich eine Frage der Zumutbarkeit, bei der ein bestreikter Arbeitgeber auch die mit einem solchen Vorgehen verbundene Verschärfung der Arbeitskampfsituation berücksichtigen darf. Die Beklagte hatte dementsprechend schon in ihrem Schreiben vom 21. April 1992 darauf hingewiesen, daß für Arbeitswillige, die infolge Arbeitskampfmaßnahmen nicht beschäftigt werden können, auch dann kein Anspruch auf Arbeitsentgelt bestehe, wenn der Hinderungsgrund in der Beeinflussung oder Behinderung durch Streikposten besteht.
3. Kommt das Landesarbeitsgericht zu der Feststellung, daß eine Beschäftigung möglich und zumutbar war, behält der Kläger den Anspruch auf die volle Vergütung. Er hat seine Arbeitsleistung an den Streiktagen ordnungsgemäß angeboten, indem er sich an der vom Arbeitgeber benannten Stelle meldete (s. dazu auch Senatsurteil vom selben Tage – 1 AZR 63/95 –, zu IV der Gründe). An den drei Tagen vom 5. bis 7. Mai 1992 ist er dementsprechend auch normal beschäftigt worden, nachdem eine Absprache mit der streikführenden Gewerkschaft getroffen worden war.
Unterschriften
Dieterich, Wißmann, Rost, Peter Berg, Rösch
Fundstellen
Haufe-Index 437158 |
BAGE, 277 |
BB 1996, 216 |
NJW 1996, 1227 |
NZA 1996, 209 |