Entscheidungsstichwort (Thema)
Beitragsabzug bei verspäteter Lohnzahlung
Leitsatz (amtlich)
Das Nachholverbot des § 395 Abs. 2 RVO a.F. (heute: § 28g Satz 3 SGB IV) bezweckt nicht den Schutz des Arbeitnehmers vor verspäteter Lohn- und Gehaltszahlung. Der Arbeitgeber ist also im Regelfall auch bei verspäteter Entgeltzahlung und -abrechnung berechtigt, den Arbeitnehmeranteil des Gesamtsozialversicherungsbeitrages vom Arbeitsentgelt abzuziehen.
Normenkette
RVO §§ 394-395, 1397 a.F.; AVG § 119 a.F.; AFG § 179 a.F.; SGB IV § 28g; ArbGG § 2 Abs. 1 Nr. 3a
Verfahrensgang
Tenor
- Die Revision der Beklagten gegen das Schlußurteil des Landesarbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 25. November 1992 – 3 Sa 1009/89 – wird zurückgewiesen.
- Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten in der Revisionsinstanz noch darüber, ob die Klägerin berechtigt war, den auf die beklagte Arbeitnehmerin entfallenen Teil des Gesamtversicherungsbeitrages vom nachträglich gezahlten Arbeitsentgelt abzuziehen.
Die Beklagte war seit dem 1. Dezember 1979 bei der Klägerin als Sekretärin beschäftigt und zuletzt als Alleinsekretärin des Personalleiters eingesetzt.
Zwischen den Parteien war seit dem Jahre 1982 eine Vielzahl von Rechtsstreitigkeiten anhängig, darunter auch einige Kündigungsschutzklagen der Beklagten, mit denen sie sich gegen ihr ausgesprochene Kündigungen vom 30. Dezember 1983, 10. August 1984 und 9. Dezember 1987 zur Wehr setzte. Diese Kündigungsschutzklagen wurden jeweils zugunsten der hiesigen Beklagten entschieden. Die Kündigung der Klägerin vom 10. August 1984 wurde durch Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 5. Mai 1987 (8 Ca 336/84) für unwirksam erklärt. Zugleich wurde die hiesige Klägerin und dortige Beklagte verurteilt, an die hiesige Beklagte und dortige Klägerin für die Monate September 1984 bis April 1987 rückständiges Gehalt von jeweils 2.900,00 DM brutto und für die Monate ab Mai 1987 jeweils monatlich 2.900,00 DM brutto Gehalt zu zahlen. Die Berufung wurde durch Urteil des Landesarbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 23. Juni 1988 (3 Sa 713/87) zurückgewiesen.
Nach dem Abschluß der erwähnten Rechtsstreite bot die Klägerin der Beklagten mehrfach die Wiederaufnahme der Arbeit an. Dazu kam es jedoch nicht. Inzwischen ist das Arbeitsverhältnis durch Eigenkündigung der Beklagten beendet.
Nach mehreren “Abschlagszahlungen” an die Beklagte rechnete die Klägerin mit Schreiben vom 12. August und 12. September 1988 unter Berücksichtigung der abgeführten Sozialversicherungsbeiträge über die Gehaltsansprüche der Beklagten für die Zeit von August 1984 bis Juli 1988 ab.
Im vorliegenden Rechtsstreit hat die klagende Arbeitgeberin beantragt, die beklagte Arbeitnehmerin zur Erbringung ihrer Arbeitsleistung zu verurteilen. Sie hat sich ferner im Wege der Vollstreckungsgegenklage gegen die Zwangsvollstreckung aus dem erwähnten rechtskräftigen Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 5. Mai 1987 (8 Ca 336/84) gewandt, mit dem sie zur künftigen Zahlung von monatlich 2.900,00 DM brutto verurteilt worden war. Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben antragsgemäß zugunsten der Klägerin entschieden. Insoweit sind die Entscheidungen der Vorinstanzen rechtskräftig.
Die Beklagte hat im Wege der Widerklage verschiedene Zahlungsansprüche geltend gemacht. Unter anderem hat sie Zahlung von 23.790,25 DM netto begehrt, und zwar mit der Begründung, die Klägerin habe den Arbeitnehmeranteil der Sozialabgaben nicht von dem für die Zeit von August 1984 bis Juli 1988 geschuldeten Bruttoarbeitsentgelt abziehen dürfen, da sie, die Klägerin, ihre – der Beklagten – unterbliebene Beschäftigung allein zu vertreten habe. Nach den §§ 394, 395 RVO sei die Klägerin gehalten gewesen, die für jenen Zeitraum angefallenen Sozialversicherungsbeiträge nicht erst im Nachhinein, sondern zeitgleich mit den jeweiligen Fälligkeitsterminen der monatlichen Gehaltsansprüche an die zuständige Stelle abzuführen.
Die Beklagte hat – soweit in der Revisionsinstanz noch von Interesse – im Wege der Widerklage vor dem Arbeitsgericht beantragt,
die Klägerin zu verurteilen, an die Beklagte 23.790,25 DM netto plus 4 % Zinsen seit 01.09.1988 zu zahlen.
Die Klägerin hat beantragt, die Widerklage abzuweisen. Sie hat den Abzug des Arbeitnehmeranteils der Sozialversicherungsbeiträge vom Bruttogehalt für zulässig gehalten und vorgetragen, der Normzweck der §§ 394, 395 RVO sei darauf beschränkt, eine Verarmung des Arbeitnehmers zu verhindern. Wenn sie während der Kündigungsschutzverfahren nicht gezahlt habe, sei das kein Verschulden im Sinne des § 395 Abs. 2 RVO.
Das Arbeitsgericht hat die Widerklage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit ihrer vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Widerklageantrag weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision hat keinen Erfolg. Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend entschieden, daß die Klägerin die Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung von der Vergütung der Beklagten einbehalten durfte.
I. Das Landesarbeitsgericht hat die Zuständigkeit der Gerichte für Arbeitssachen zu Recht bejaht. Da es sich um einen “Übergangsfall” handelt, also einen Fall, in dem das erstinstanzliche Urteil vor dem 1. Januar 1991 ergangen ist, sind § 73 Abs. 2, § 65 ArbGG n.F., wonach das Revisionsgericht nicht prüft, ob der beschrittene Rechtsweg zulässig ist, nicht anwendbar. Vielmehr verbleibt es insoweit bei der Anwendung der §§ 48, 48a ArbGG a.F. Danach ist die Zuständigkeit der Gerichte für Arbeitssachen von Amts wegen zu prüfen, wenn es um den Rechtsweg zu den Verwaltungs-, Sozial- und Finanzgerichten geht (BAGE 45, 228, 230 = AP Nr. 1 zu § 2 ArbGG 1979).
Die Beklagte erhebt eine Gehaltsforderung. Sie verlangt den Teil der Vergütung, den die Klägerin einbehalten hat. Dieser Anspruch ergibt sich aus § 611 BGB. Dafür sind nach § 2 Abs. 1 Nr. 3a ArbGG die Gerichte für Arbeitssachen ausschließlich zuständig. Allerdings muß für die Berechtigung des Lohnabzugs auf Vorschriften des Krankenversicherungsrechts (§§ 394, 395 RVO a.F.) und die entsprechenden Bestimmungen für die anderen Zweige der Sozialversicherung zurückgegriffen werden, weil die Befugnis der Klägerin zur Aufrechnung oder zum Lohneinbehalt von der Frage abhängt, ob die Klägerin die entrichteten Beiträge zur Sozialversicherung für den streitbefangenen Zeitraum noch im Lohnabzugsverfahren einbehalten konnte. Vorliegend ist die Frage der Berechtigung des Lohnabzuges jedoch lediglich als öffentlichrechtliche Vorfrage im Rahmen eines bürgerlichen Rechtsstreits zu prüfen (BAG Urteil vom 8. Dezember 1981 – 3 AZR 71/79 – AP Nr. 5 zu §§ 394, 395 RVO; BAGE 45, 228, 231 = AP Nr. 1 zu § 2 ArbGG 1979). Die Parteien streiten nur über die Berechtigung zum Lohnabzug, nicht jedoch darüber, ob Beiträge überhaupt oder in der entrichteten Höhe abzuführen waren. In derartigen Fällen wird das zu den Sozialversicherungsträgern bestehende Rechtsverhältnis betroffen, während der hier vorliegende Ausgleichsstreit allein das Verhältnis der Arbeitsvertragsparteien berührt.
II.1. Das Landesarbeitsgericht hat auf den Streitfall zu Recht die §§ 394 f. RVO a.F. angewandt. Bis zum 31. Dezember 1988 war der Abzug der Beitragsanteile zur gesetzlichen Krankenversicherung in den §§ 394 f. RVO geregelt. Diese Bestimmungen lauten auszugsweise:
§ 394 Abs. 1 RVO (Beitragsabzug)
- Die Versicherungspflichtigen müssen sich bei der Lohnzahlung ihre Beitragsteile vom Barlohn abziehen lassen. Die Arbeitgeber dürfen die Beitragsteile nur auf diesem Wege wieder einziehen.
§ 395 RVO (Durchführung des Beitragsabzugs)
- Die Abzüge für Beitragsteile sind gleichmäßig auf die Lohnzeiten zu verteilen, auf die sie fallen. …
- Sind Abzüge für eine Lohnzeit unterblieben, so dürfen sie nur bei der Lohnzahlung für die nächste Lohnzeit nachgeholt werden, wenn nicht Beiträge ohne Verschulden des Arbeitgebers verspätet entrichtet worden sind.
Nach § 179 Nr. 2 AFG a.F. galten diese Bestimmungen auch für die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung. Entsprechende Vorschriften für die Rentenversicherung enthielten § 1397 Abs. 1, 3 RVO a.F., § 119 Abs. 1, 3 AVG a.F.
Die genannten Bestimmungen sind mit Wirkung ab 1. Januar 1989 durch § 28g SGB IV ersetzt worden, der folgenden Wortlaut hat:
§ 28g Beitragsabzug
Der Arbeitgeber hat gegen den Beschäftigten einen Anspruch auf den vom Beschäftigten zu tragenden Teil des Gesamtsozialversicherungsbeitrags. Dieser Anspruch kann nur durch Abzug vom Arbeitsentgelt geltend gemacht werden. Ein unterbliebener Abzug darf nur bei den drei nächsten Lohn- oder Gehaltszahlungen nachgeholt werden, danach nur dann, wenn der Abzug ohne Verschulden des Arbeitgebers unterblieben ist. Die Sätze 2 und 3 gelten nicht, wenn der Beschäftigte seinen Pflichten nach § 28o Abs. 1 Satz 1 vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachkommt.
2. Das Landesarbeitsgericht hat sein die Berufung der Beklagten zurückweisendes Urteil wie folgt begründet:
Die Klägerin sei in Anwendung der damals noch geltenden Vorschrift des § 395 Abs. 2 RVO nicht gehalten gewesen, bei der im August/September 1988 erfolgten nachträglichen Abwicklung der Gehaltsrückstände ab 1. August 1984 die auf die Beklagte entfallenen Beitragsanteile an diese auszukehren. Die genannte Vorschrift sei bei nachträglicher Abwicklung der durch einen mehrjährigen, für den Arbeitnehmer letzlich erfolgreichen Kündigungsrechtsstreit aufgelaufenen Gehaltsrückstände allenfalls dann anwendbar, wenn die verspätete Entrichtung der Beiträge an die Einzugsstelle auf einem Verschulden der Klägerin beruht habe. Ein solches Verschulden habe jedoch im Streitfall nicht vorgelegen. Die fahrlässige Handlungsweise des Arbeitgebers müsse sich in solchen Fällen zudem auf den unterbliebenen Beitragsabzug als solchen beziehen, d. h. insbesondere auf vorstellbare Irrtümer des Arbeitgebers hinsichtlich der Versicherungspflicht und Beitragshöhe. Dabei könnten unzutreffende Auskünfte einer zuständigen Stelle oder ein unvorhersehbarer Wandel der Rechtsprechung zu seinen Gunsten entlastend wirken. Ebenso müsse ein Verschulden des Arbeitgebers regelmäßig dann ausscheiden, wenn in der Zeit, auf welche die Beiträge entfielen, mangels faktischer Lohnzahlung keine Lohnabzüge vorgenommen werden könnten, etwa während eines Kündigungsschutzprozesses.
Unabhängig davon könne allein der Umstand, daß die Klägerin der Beklagten insgesamt drei Kündigungen ausgesprochen habe, welche jeweils gerichtlich für unwirksam erklärt worden seien, der Klägerin keineswegs als Verschulden im Sinne der §§ 394, 395 RVO zugerechnet werden. Denn keine dieser Kündigungen sei aus gänzlich haltlosen bzw. gar sittenwidrigen Gründen, aus bloßer Willkür oder etwa in anstößiger oder ungehöriger Form erfolgt, mögen auch die anschließend angeführten konkreten Kündigungsgründe der Klägerin aus Sicht der angerufenen Gerichte für Arbeitssachen unter den jeweils obwaltenden Einzelumständen nicht ausgereicht haben.
Dem ist im Ergebnis und zum Teil auch in der Begründung zu folgen.
3. Der Arbeitgeber kann vom Arbeitnehmer die Erstattung rückständiger Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung nur im Lohnabzugsverfahren nach näherer Maßgabe der sozialrechtlichen Bestimmungen (hier: §§ 394, 395 RVO a.F., § 119 AVG a.F., § 179 Nr. 2 AFG a.F.) verlangen. Die Beschränkung des Erstattungsanspruchs des Arbeitgebers auf das Lohnabzugsverfahren und die Begrenzung der Nachholmöglichkeiten haben nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts den Zweck, den Arbeitnehmer vor einer Aufhäufung der von ihm zu erstattenden Beitragsanteile und vor einer künftigen Erstattungsklage zu bewahren. Die im Interesse des Arbeitnehmers geschaffene Sozialversicherung soll nicht mit der sozial unerwünschten und den Gesetzeszweck beeinträchtigenden Begleiterscheinung der drückenden Beitragslast und der Beitragsverschuldung des Arbeitnehmers sowie der daraus sich ergebenden Klage-, Vollstreckungs- und sonstigen Druckmöglichkeiten des Arbeitgebers verbunden sein (BAGE 6, 7, 10 = AP Nr. 1 zu §§ 394, 395 RVO, zu II 2b, c der Gründe; BAG Urteil vom 12. Oktober 1977 – 5 AZR 443/76 – AP Nr. 3 zu §§ 394, 395 RVO, zu II 2 der Gründe; BAG Urteil vom 8. Dezember 1981 – 3 AZR 71/79 – AP Nr. 5 zu §§ 394, 395 RVO, zu II 1a der Gründe). Im laufenden Arbeitsverhältnis soll der Arbeitnehmer darauf vertrauen können, daß seine Entgeltansprüche für die Zukunft nicht mit Abzügen belastet werden, die weiter zurückliegende Lohnzeiten betreffen.
Der erkennende Senat hat in seinem Urteil vom 21. März 1984 (BAGE 45, 228, 233 = AP Nr. 1 zu § 2 ArbGG 1979, zu II der Gründe) ausgesprochen, daß das Nachholverbot den Arbeitnehmer nur vor einer Beitragsanhäufung schützen, nicht aber einer verspäteten Gehaltsabrechnung und einem entsprechend verspäteten Ausweis der Beitragsanteile des Arbeitnehmers entgegenwirken soll. Diese Entscheidung betraf einen Fall, in dem der Arbeitgeber erstmals ein halbes Jahr nach Aufnahme der Tätigkeit abgerechnet, zuvor aber “Vorauszahlungen” erbracht hatte, die unter dem dann errechneten Nettobetrag lagen.
Für den hier vorliegenden Fall der verspäteten Gehaltszahlung und -abrechnung gilt nichts anderes. Das Nachholverbot bezweckt nicht den Schutz des Arbeitnehmers vor verspäteter Lohnzahlung.
Verspätete Lohnzahlungen sind häufig; sie können verschiedene Ursachen haben. Der Arbeitgeber kann zahlungsunfähig oder auch nur -unwillig sein; es kann – etwa während eines Kündigungsschutzprozesses – Streit über den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses bestehen oder auch nur Streit über die Höhe der Lohnforderung. Zumeist wird auch ein Verschulden des Arbeitgebers an der verspäteten Lohnzahlung vorliegen. Eine Beitragsverschuldung des Arbeitnehmers droht aber allein durch die verspätete Zahlung und Abrechnung nicht. Bei verspäteter Gehaltszahlung und -abrechnung handelt es sich nicht um ein Unterbleiben von Abzügen im Sinne des § 395 Abs. 2 RVO a.F. und des § 28g SGB IV, das zu einem Nachholverbot führen könnte.
Auf die Frage, wann die Beiträge fällig waren, und ob die Klägerin an der verspäteten Entrichtung ein Verschulden trifft, kommt es nach alledem nicht mehr an.
Unterschriften
Dr. Thomas, Dr. Gehring, Dr. Reinecke, Kähler, Dr. Frey
Fundstellen
Haufe-Index 845965 |
BAGE, 225 |
BB 1994, 1640 |
BB 1994, 723 |
AP, 0 |