Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 11. November 1993 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht für das Land Brandenburg zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten über die Höhe der Beiträge zur Krankenversicherung.
Die 1950 geborene Klägerin betreibt in Cottbus einen Einzelhandel und ist freiwilliges Mitglied der beklagten Ersatzkasse. Sie wurde in der Beitragsklasse 738 zu einem monatlichen Beitrag von 134 DM geführt. Mit Bescheid vom 18. Januar 1993 und Widerspruchsbescheid vom 28. Mai 1993 stufte die Beklagte die Klägerin ab 1. Januar 1993 in die Beitragsklasse 778 ein und setzte den monatlichen Beitrag auf 255 DM fest. Der Beitragsbemessung legte sie die nach § 240 Abs 4 Satz 2 (letzter Satzteil) des Sozialgesetzbuchs – Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) geltenden Mindesteinnahmen zugrunde, die für das Jahr 1993 im Beitrittsgebiet monatlich 2.047,50 DM betrugen.
Mit der Klage hat die Klägerin geltend gemacht, die Vorschrift verstoße gegen das Grundgesetz (GG) und gegen den Einigungsvertrag (EVertr). Ihr monatlicher Verdienst liege zwischen 550 DM und 750 DM. Infolge der hohen Beitragsforderung sei sie gezwungen, ihr Geschäft aufzugeben und Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen, zumal ihr Ehemann langzeitarbeitslos sei; die zu erwartende Sozialhilfe liege höher als ihr derzeitiges Einkommen abzüglich der Beitragsforderung. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage mit Urteil vom 11. November 1993 abgewiesen. Der Beitrag entspreche dem Gesetz. Die Klägerin sei hauptberuflich selbständig erwerbstätig. Von der Beklagten seien aufgrund der von der Klägerin nachgewiesenen niedrigeren Einnahmen die gesetzlichen Mindesteinnahmen zugrunde gelegt worden. Ausnahmen hiervon seien gesetzlich ausdrücklich nicht zugelassen.
Mit der im Urteil des SG zugelassenen Sprungrevision rügt die Klägerin eine Verletzung des Art 2 Abs 1, des Art 3 Abs 1 und des Art 12 GG sowie des Art 30 Abs 4 Satz 1 EVertr.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des SG vom 11. November 1993 und den Bescheid der Beklagten vom 18. Januar 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. Mai 1993 aufzuheben,
hilfsweise gemäß Art 100 Abs 1 GG das Verfahren auszusetzen und dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorzulegen, ob § 240 Abs 4 Satz 2 SGB V mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Klägerin ist iS einer Aufhebung des angefochtenen Urteils und einer Zurückverweisung der Sache begründet.
Das Revisionsgericht ist an die tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils gebunden (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫). Tatsachen, die von der Vorinstanz nicht festgestellt worden sind, dürfen daher vom Revisionsgericht grundsätzlich nicht beachtet werden. Eine Sprungrevision kann sogar auf Mängel des Verfahrens nicht gestützt werden (§ 161 Abs 4 SGG). Soweit die Klägerin daher in ihrer Revisionsbegründung neue Tatsachen vorträgt und sie möglicherweise die Feststellungen des SG als unzureichend ansieht, ist dieses nicht zu berücksichtigen. Um derartiges Vorbringen von sich aus in den Prozeß einzuführen, hätte die Klägerin statt der Sprungrevision beim Bundessozialgericht (BSG) Berufung beim Landessozialgericht (LSG) einlegen müssen.
Aufgrund der wenigen vom SG festgestellten Tatsachen kann der erkennende Senat nicht abschließend entscheiden.
Zunächst ist unklar, ob der angefochtene Bescheid vom 18. Januar 1993 den Beitrag für die Zeit vom 1. Januar 1993 an erstmals geregelt oder ob er ihn von diesem Zeitpunkt an und damit rückwirkend erhöht hat. Dieses hängt davon ab, ob ein früherer Beitragsbescheid vorlag, ob dieser etwa (bis Ende 1988) befristet war oder ob der angefochtene Bescheid einen früheren unbefristeten Bescheid abgeändert hat. Letzteres wäre, zumal es sich bei Beitragsbescheiden um Verwaltungsakte mit Dauerwirkung handelt (BSGE 69, 255 = SozR 3-1300 § 48 Nr 13; SozR 3-2500 § 240 Nr 6; BSGE 71, 137 = SozR 3-2500 § 240 Nr 9), nur unter den Voraussetzungen der §§ 45, 48 des Sozialgesetzbuchs – Verwaltungsverfahren (SGB X) zulässig gewesen.
Im übrigen sind SG und Beklagte zutreffend davon ausgegangen, daß für die Beitragsbemessung Satz 2 des § 240 Abs 4 SGB V in Betracht kommt. Er ist durch Art 1 Nr 137 Buchst c des Gesundheitsstrukturgesetzes (GSG) vom 21. Dezember 1992 (BGBl I 2266) angefügt worden und am 1. Januar 1993 in Kraft getreten (Art 35 Abs 1 GSG). Danach gilt für freiwillige Mitglieder, die hauptberuflich selbständig erwerbstätig sind, als beitragspflichtige Einnahmen für den Kalendertag der 30. Teil der monatlichen Beitragsbemessungsgrenze (§ 233 SGB V), bei Nachweis niedrigerer Einnahmen jedoch mindestens der 40. Teil der monatlichen Bezugsgröße. Diese Mindesteinnahmen, die auf den Monat umgerechnet drei Viertel (75 vH) der monatlichen Bezugsgröße ausmachen, betrugen im Jahre 1993 in den alten Bundesländern 2.782,50 DM und iVm § 313 Abs 2 Satz 1 SGB V im Beitrittsgebiet 2.047,50 DM. Die neue Mindestgrenze beitragspflichtiger Einnahmen gilt für hauptberuflich selbständig Erwerbstätige vom 1. Januar 1993 an, ohne daß es einer entsprechenden Satzungsregelung bedurfte. Insofern gilt das in den Urteilen des Senats vom 7. November 1991 (BSGE 70, 13, 16 = SozR 3-2500 § 240 Nr 6; SozR 3 aaO Nr 7) für die frühere Anhebung der Mindestgrenze zum 1. Januar 1989 Ausgeführte auch für die am 1. Januar 1993 in Kraft getretene Vorschrift.
Die Neuregelung des § 240 Abs 4 Satz 2 SGB V ist während des Gesetzgebungsverfahrens zum GSG eingefügt und im Bericht des Bundestags-Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung begründet worden (BT-Drucks 12/3930 S 68; 12/3937 S 17). Vorausgegangen war das Urteil des erkennenden Senats vom 15. September 1992 (BSGE 71, 137 = SozR 3-2500 § 240 Nr 9). Danach verstieß die Satzungsregelung einer Krankenkasse, die für die Beitragsbemessung bei freiwillig versicherten Selbständigen unabhängig von den tatsächlichen Einnahmen eine über den Mindesteinnahmen nach § 240 Abs 4 SGB V ursprünglicher Fassung (= heute: § 240 Abs 4 Satz 1 SGB V) liegende Mindesteinnahme-Grenze vorschrieb, gegen § 240 SGB V (ebenso später für freiwillig versicherte Sozialhilfeempfänger BSGE 71, 237 = SozR 3-2500 § 240 Nr 12). Daraufhin hat der Gesetzgeber nunmehr für hauptberuflich selbständig Erwerbstätige die Sonderregelung in § 240 Abs 4 Satz 2 SGB V getroffen. An eine hauptberuflich selbständige Erwerbstätigkeit knüpft das Gesetz auch in § 5 Abs 5 SGB V an, wo sie Versicherungspflichten ausschließt, ferner in § 10 Abs 1 Nr 4 SGB V, wo sie der Familienversicherung entgegensteht. Wann eine hauptberuflich selbständige Erwerbstätigkeit nach einer der genannten Vorschriften vorliegt, hatte der Senat bisher nicht zu entscheiden. Im Sinne des § 240 Abs 4 Satz 2 SGB V ist sie in der Regel jedenfalls dann gegeben, wenn die selbständige Erwerbstätigkeit mehr als halbtags ausgeübt wird.
Dieses scheint bei der Klägerin des vorliegenden Verfahrens der Fall zu sein. Das SG hat festgestellt, daß die Klägerin einen Einzelhandel betreibt, und in den Entscheidungsgründen des Urteils heißt es, sie übe eine hauptberuflich selbständige Erwerbstätigkeit aus. Nähere Feststellungen über Art und Umfang der Tätigkeit enthält das Urteil allerdings nicht.
Auch wenn die Klägerin hauptberuflich selbständig erwerbstätig ist, steht damit noch nicht fest, ob sich bei ihr die genannte Mindesteinnahmen-Grenze des § 240 Abs 4 Satz 2 SGB V auswirkt. Zwar kann die Beklagte diese Grenze, die sie nicht unterschreiten darf, bei ihren Verwaltungsentscheidungen anwenden, falls sie aufgrund ihrer Ermittlungen davon überzeugt ist, daß die tatsächlichen Einnahmen ihres freiwilligen Mitglieds unter der Grenze liegen. Wenn ein entsprechender Bescheid jedoch im Klageverfahren mit der Begründung angefochten wird, die tatsächlichen Einnahmen lägen unter der Grenze und es ergäben sich deswegen verfassungsrechtliche Bedenken gegen die gesetzliche Regelung über die Mindestgrenze, so sind eigene und vollständige Feststellungen des Gerichts zu den beitragspflichtigen Einnahmen erforderlich. Dabei ist zunächst zu klären, ob nicht die gesamten beitragspflichtigen Einnahmen des freiwilligen Mitglieds (nicht nur die aus der hauptberuflich selbständigen Erwerbstätigkeit) die Mindestgrenze des § 240 Abs 4 Satz 2 SGB V überschreiten und deshalb die Anwendung dieser Vorschrift ausscheidet. Stellt sich jedoch heraus, daß die Mindestgrenze tatsächlich unterschritten wird und die Vorschrift daher eingreift, ist bis zu einer abschließenden Entscheidung über die Vereinbarkeit des § 240 Abs 4 Satz 2 SGB V mit dem GG weiter zu prüfen und festzustellen, in welchem Umfang die Grenze verfehlt wird. Denn ohne solche Feststellungen, die dem Revisionsgericht verwehrt sind, ist eine abschließende Prüfung und Entscheidung der Frage, ob das betreffende freiwillige Mitglied in Grundrechten verletzt sein kann, nicht möglich.
Im Urteil des SG fehlen Feststellungen zu den gesamten beitragspflichtigen Einnahmen der Klägerin vollständig. Es enthält lediglich im Tatbestand Angaben der Klägerin zu ihrem Verdienst und in den Entscheidungsgründen die Aussage, von der Beklagten seien aufgrund der von der Klägerin nachgewiesenen niedrigeren Einnahmen die gesetzlichen Mindesteinnahmen zugrunde gelegt worden. Eine solche Wiedergabe von Vorbringen oder Verhalten der Beteiligten kann eigene Feststellungen des Gerichts nicht ersetzen. Im übrigen hat das SG, wenn es pauschal von beitragspflichtigen Einnahmen unterhalb der Mindestgrenze ausgegangen ist, zu den von der Klägerin geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken in den Entscheidungsgründen seines Urteils mit keinem Wort Stellung genommen. Seinem Urteil fehlen insoweit Entscheidungsgründe (§ 136 Abs 1 Nr 6 SGG und § 551 Nr 7 der Zivilprozeßordnung iVm § 202 SGG), ohne daß dieses allerdings mit der Sprungrevision gerügt werden kann (§ 161 Abs 4 SGG). Ausführungen wären vom SG vor allem zu erwarten gewesen, weil es anscheinend gerade wegen der verfassungsrechtlichen Fragen der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung beigemessen hat. Durch die Zulassung der Sprungrevision können fehlende tatsächliche Feststellungen und erforderlichenfalls verfassungsrechtliche Ausführungen in den Entscheidungsgründen nicht ersetzt werden.
Da das Urteil keine ausreichende tatsächliche Grundlage für eine höchstrichterliche Entscheidung bildet, sieht der Senat von Ausführungen zu nur möglicherweise auftretenden materiell-rechtlichen Fragen einfachrechtlicher oder verfassungsrechtlicher Art ab. Vielmehr war auf die Revision der Klägerin das Urteil des SG aufzuheben, damit zunächst die notwendigen Feststellungen getroffen werden. Der Senat hat nach § 170 Abs 4 Satz 1 SGG von seinem Ermessen Gebrauch gemacht, die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das zuständige LSG zurückzuverweisen. Dieses wird bei seiner Entscheidung auch über die Erstattung der außergerichtlichen Kosten (einschließlich des Revisionsverfahrens) zu befinden haben.
Fundstellen