Entscheidungsstichwort (Thema)
Absehen von der Anhörung nach § 34 Abs 2 Nr 2 SGB 1
Orientierungssatz
§ 622 Abs 2 S 1 RVO, wonach spätestens nach Ablauf von zwei Jahren nach dem Arbeitsunfall die Rente Dauerrente wird (§ 1585 Abs 2 RVO), ist keine zum Absehen von der Anhörung berechtigende, für die Entscheidung maßgebende Frist iS des § 34 Abs 2 Nr 2 SGB 1. Vielmehr kann ein Unfallversicherungsträger auch dann eine vorläufige Rente nicht entziehen und eine Dauerrente nicht ablehnen (oder niedriger festsetzen als die vorläufige Rente), ohne dem Verletzten Gelegenheit zur Äußerung gegeben zu haben, wenn ihm das entscheidungserhebliche medizinische Gutachten erst so spät bekannt geworden ist, daß eine Anhörung in angemessener Frist vor Ablauf von zwei Jahren nach dem Arbeitsunfall nicht mehr möglich ist. Das Risiko, daß vor Ablauf dieser Frist nicht alle vorhandenen Tatsachen festgestellt sind, trifft den Unfallversicherungsträger (Anschluß an BSG 1979-08-30 8a RU 24/79 = SozR 1200 § 34 Nr 9).
Normenkette
SGB 1 § 34 Abs 1 Fassung: 1975-12-11; SGB 1 § 34 Abs 2 Nr 2 Fassung: 1975-12-11; RVO § 622 Abs 2 S 1 Fassung: 1963-04-30, § 1585 Abs 2 S 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beklagte entzog dem Kläger ohne vorherige Anhörung durch Bescheid vom 13. Oktober 1977 die nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 vH gezahlte vorläufige Rente und stellte die Dauerrente nach einer MdE um 20 vH fest. Der Kläger hat gegen diesen Bescheid Klage erhoben.
Das Sozialgericht (SG) hat durch Urteil vom 31. Juli 1978 den Bescheid der Beklagten aufgehoben, weil der Bescheid wegen der unterlassenen Anhörung des Klägers rechtswidrig sei.
Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 20. Dezember 1978 das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat zur Begründung ua ausgeführt: Die Beklagte habe gemäß § 34 Abs 2 Nr 2 des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil - (SGB I) von einer Anhörung absehen dürfen, weil wegen des Eingangs des ärztlichen Gutachtens erst am 3. Oktober 1977 durch die Anhörung die Einhaltung einer für die Entscheidung maßgebenden Frist, nämlich die Feststellung der Dauerrente innerhalb von zwei Jahren nach dem Arbeitsunfall vom 28. Oktober 1975, in Frage gestellt
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt.
Er trägt ua vor, die Zweijahresfrist des § 1585 Abs 2 und des § 622 Abs 2 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) stelle die Anhörungspflicht nicht in Frage. Zudem hätte die Beklagte das Verwaltungsverfahren früher einleiten können.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die
Berufung der Beklagten gegen das Urteil des
SG Osnabrück vom 31. Juli 1978 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Ihr habe vor Erlaß des Bescheides keine Zeit mehr für eine Anhörung zur Verfügung gestanden. Es könne nicht Sinn der Anhörung sein, dem Verletzten sachlich nicht gerechtfertigte Vorteile zu verschaffen.
Entscheidungsgründe
Der Senat hat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Die Revision des Klägers ist begründet.
Nach der nunmehr schon ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), die auch durch § 41 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB X) vom 10. August 1980 (BGBl I 1469) ausdrücklich bestätigt wird, ist der Bescheid der Beklagten vom 13. Oktober 1977 rechtswidrig, weil die erforderliche Anhörung des Verletzten unterblieben ist (s BSGE 44, 207; 46, 57; 47, 249, 253; BSG SozR 1200 § 34 Nr 4, 6, 8, 9 und 10; zur Veröffentlichung vorgesehene Urteile des BSG vom 28. Mai 1980 - 5 RKnU 6/79 - und 24. Juli 1980 - 5 RKnU 1/79 -).
Entgegen der Auffassung des LSG hat die Beklagte von der Anhörung auch nicht gemäß § 34 Abs 2 Nr 2 SGB I absehen dürfen. Nach dieser Vorschrift kann von der Anhörung abgesehen werden, wenn durch die Anhörung die Einhaltung einer für die Entscheidung maßgeblichen Frist in Frage gestellt wird. Der 8. Senat des BSG hat in seinem nach Verkündung des angefochtenen Urteils des LSG ergangenen Urteil vom 30. August 1979 (BSG SozR aaO Nr 9) entschieden, daß § 622 Abs 2 Satz 1 RVO, wonach spätestens nach Ablauf von zwei Jahren nach dem Arbeitsunfall die Rente Dauerrente wird (§ 1585 Abs 2 RVO), keine zum Absehen von der Anhörung berechtigende, für die Entscheidung maßgebende Frist im Sinne des § 34 Abs 2 Nr 2 SGB I ist. Vielmehr kann ein Unfallversicherungsträger auch dann eine vorläufige Rente nicht entziehen und eine Dauerrente nicht ablehnen (oder niedriger festsetzen als die vorläufige Rente), ohne dem Verletzten Gelegenheit zur Äußerung gegeben zu haben, wenn ihm das entscheidungserhebliche medizinische Gutachten erst so spät bekannt geworden ist, daß eine Anhörung in angemessener Frist vor Ablauf von zwei Jahren nach dem Arbeitsunfall nicht mehr möglich ist. Das Risiko, daß vor Ablauf dieser Frist nicht alle vorhandenen Tatsachen festgestellt sind, trifft den Unfallversicherungsträger. Durch die Anhörungspflicht des § 34 Abs 1 SGB I ist der Zeitraum, innerhalb dessen die Ermittlungen abgeschlossen werden müssen, gegenüber dem Rechtszustand vor dem 1. Januar 1976 lediglich um die für die Anhörung notwendige angemessene Zeit verkürzt worden. Konnte der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung sich vor dem 1. Januar 1976 gegenüber der Frist des § 622 Abs 2 Satz 1 RVO nicht darauf berufen, es sei ihm aus von ihm nicht vertretbaren Gründen unmöglich gewesen, einen ersten Dauerrentenbescheid rechtzeitig zuzustellen, so ist das nach Inkrafttreten des § 34 SGB I ebensowenig möglich. Der Senat schließt sich dem auch seine ständige Rechtsprechung fortführenden Urteil des 8. Senats des BSG an. Ebenso wie der Beachtung der Frist des § 622 Abs 2 Satz 1 RVO nicht entgegensteht, daß der Verletzte ggf die Dauerrente nach einer höheren MdE als seinen Unfallfolgen entsprechend erhält, kann ein solcher Umstand auch nicht das Absehen von der gesetzlich vorgeschriebenen Anhörung des Verletzten rechtfertigen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen